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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gedenkfeier in Auschwitz Vielleicht hören wir sie zum letzten Mal
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Am 27. Januar 1945 erreichte die Rote Armee Auschwitz, der heutige 80. Jahrestag der Befreiung steht im Zeichen des Gedenkens. Das Wort haben die Überlebenden, von denen immer weniger unter uns sind.
"Der 27. Januar macht mich immer traurig", sagt Christian Pfeil, ein freundlicher Mann mit Schnäuzer im Gesicht. Den Rest des Jahres könne er die Erinnerungen "wegdrücken", aber nicht an diesem Tag. Am 27. Januar vor 80 Jahren erreichte die Rote Armee Auschwitz und befreite die Überlebenden des nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers. Christian Pfeil, ein deutscher Sinto, hat Familienmitglieder in Auschwitz verloren, er selbst wurde 1944 oder 1943 im von Deutschen eingerichteten Ghetto Lublin geboren. Er weiß es nicht genau.
Pfeil, ein Mann, der viel Charme ausstrahlt und lebhaft erzählt, überlebte als Säugling den Massenmord der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma, in Auschwitz hatte die SS rund 23.000 dieser Menschen eingesperrt, die wenigsten überlebten. Insgesamt ermordete die SS in Auschwitz mehr als eine Million Menschen, die meisten davon waren Jüdinnen und Juden, vielen Menschen gilt Auschwitz als Symbol des Holocaust.
Christian Pfeil hat schon viele Male einen 27. Januar erlebt. Dieses Jahr ist er nach Auschwitz gereist, um an der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung teilzunehmen. Pfeil ist einer Einladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gefolgt, mit dem er anreiste. Zahlreiche weitere Gäste aus der ganzen Welt sind an diesem 27. Januar 2025 nach Auschwitz gekommen. Gekrönte Häupter, wie Charles III. aus Großbritannien, sind darunter, Präsidenten, wie Wolodymyr Selenskyj aus der Ukraine, und Regierungschefs, darunter Olaf Scholz, dazu Minister und Botschafter, insgesamt Dutzende Delegationen.
Sie sind gekommen, um den Überlebenden des Holocaust zuzuhören. 80 Jahre ist die Befreiung von Auschwitz mittlerweile her, die Zahl der Überlebenden, die vom Schrecken berichten und zum jährlichen Gedenken reisen können, sinkt von Jahr zu Jahr. Der diesjährigen Gedenkfeier kommt deshalb eine noch größere Bedeutung zu, die Leitung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau hatte ausdrücklich alle Überlebenden eingeladen, an diesem Ereignis teilzunehmen.
"Unschätzbarer Wert"
Um die 50 waren erwartet worden. "Dies wird die letzte derartige Gedenkfeier sein", äußerte sich der Auschwitz-Überlebende Michael Bornstein zuvor auf der Homepage des Museums. "Wir werden da sein. Wirst du bei uns sein?" Bundespräsident Steinmeier bezeichnete während seines Besuchs in der Gedenkstätte Auschwitz die Erinnerungen der Überlebenden als "von unschätzbarem Wert".
Die Erinnerung zu bewahren, die Nachwelt vor den Folgen von Rassismus und Extremismus zu warnen, darin besteht die Aufgabe, die sich zahlreiche Überlebende des Holocaust gestellt haben. Eine umso dringendere Aufgabe, als dass die internationalen Spannungen zunehmen, Rechtspopulismus, Rassismus und Polarisierung in den Gesellschaften stärker werden. Der historische Tatort Auschwitz und seine Überlebenden sind eng miteinander verbunden, sie wollen der Nachwelt eine Lehre hinterlassen aus dem, was ihnen einst angetan wurde.
Für Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist deshalb das, "was man an diesem Ort empfindet, in Worten nicht zu beschreiben." Schuster ist ebenfalls nach Auschwitz gereist und sagt: "Wer einmal in Auschwitz war, der stellt sich nicht die Frage, warum die Erinnerung an die Shoah wachgehalten werden muss."
Für Deutschland, das einst große Teile Europas mit Krieg überzogen und einen Vernichtungsfeldzug gegen die Zivilisation geführt hatte, ist der 27. Januar ein besonders wichtiges Datum. Auch deshalb sind so viele hochrangige deutsche Vertreter an diesem Tag angereist.
"Kein Schlusstrich"
Steinmeier setzt sich seit Beginn seiner Präsidentschaft für die Demokratie und ihren Erhalt ein, gerade im Rückbezug auf die deutsche Geschichte: Deutschland dürfe die in seinem Namen einst an unschuldigen Menschen begangenen Massenverbrechen nie vergessen. Bei seinem Besuch in Auschwitz ist er entsprechend interessiert, neugierig, zugewandt. So auch beim Gang durch das Stammlager, auch Auschwitz I genannt, bei der er einen Kranz an der sogenannten Todeswand ablegt. Unzählige Menschen wurden hier einst erschossen.
Menschen, die ihre Geschichte nicht mehr erzählen können. Umso wichtiger sind deswegen die Erinnerungen der Überlebenden. Als "von unschätzbarem Wert" bezeichnete Frank-Walter Steinmeier sie. Da die letzten von ihnen in naher Zukunft nicht mehr unter uns sein werden, sagt Steinmeier: "Es ist jetzt an uns." Und zwar "ihre Mahnung und ihre Erwartung" an die nächste Generation zu geben. "Erinnerung kennt keinen Schlussstrich."
Christian Pfeil ist da allerdings skeptischer. Er besucht immer wieder Schulen und spricht mit Jungen und Mädchen über die Verbrechen des Nationalsozialismus und das, was sie seiner Familie angetan haben. "Die Jugend ist sehr schlecht informiert", sagt er. Was Pfeil am meisten stört? "Die Jungen fragen nicht." Er versteht nicht recht, warum. Dass in der Öffentlichkeit zudem die Tatsache wenig bekannt ist, dass die Nationalsozialisten bis zu 500.000 Sinti und Roma ermordeten, erschüttert Pfeil.
Aber er hat einen Vorschlag. Warum sollten Schüler nicht verpflichtend eine KZ-Gedenkstätte besuchen? "Ein Besuch in einer Gedenkstätte ist etwas ganz anderes, als wenn der Lehrer da vorn nur davon erzählt", sagt er. "Das geht da rein und da wieder raus." Der historische Ort dagegen könne etwas bei den Jugendlichen bewegen. Gerade in Zeiten, in denen die AfD erstarke. "Die AfD ist für Deutschland und Europa eine Katastrophe", sagt Pfeil. Ein Verbot der Partei will der Überlebende aber nicht: "Bekämpfen, ja, verbieten, nicht". Denn Ideologien entziehe man nicht den Boden, indem man ihre politischen Parteien verbiete.
Bald ist auch dieser 27. Januar für Christian Pfeil vorbei. Dieses Mal fällt es ihm womöglich schwerer nach dem Besuch in Auschwitz. "Das tut mir sehr weh", sagt Pfeil. "Es ist nicht einfach für einen Überlebenden in Auschwitz." Den Schmerz und die Erinnerung wird er danach wieder "wegzudrücken" versuchen. Doch es würde ihn freuen, wenn seine Worte und die anderer Überlebender nicht nur gehört werden, sondern auch etwas bewegen.
- Eigene Recherche
- Reise mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau
- Gespräch mit Christian Pfeil
- Presseerklärung des Zentralrats der Juden in Deutschland