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Politik in Deutschland: Warum Bürger das Vertrauen verlieren


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Tagesanbruch
Da stimmt was nicht

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 16.10.2024Lesedauer: 6 Min.
Polizisten sichern das Berliner Regierungsviertel.Vergrößern des Bildes
Polizisten sichern das Berliner Regierungsviertel. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)
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Draußen wird's kälter und dunkler, umso wichtiger, ein bisschen Licht ins Leben zu lassen. Die Politik mag gegenwärtig unerquicklich sein, doch ist es nicht so, dass es nirgends voranginge. Es ist eine Frage der Perspektive, ob man das Glas halb voll oder halb leer sieht, und manchmal erscheinen Auswege gar nicht so schwierig zu finden. "Die Probleme lassen sich lösen", überschrieb ich vor drei Wochen einen Tagesanbruch und versuchte, Lösungsvorschläge für einige drängende Herausforderungen in Deutschland zu skizzieren. Die Ausgabe provozierte zahlreiche Zuschriften, erfreulich viele Leser teilten die konstruktive Weltsicht.

Andere Leser hingegen äußerten Kritik – und eine dieser Äußerungen machte mich hellhörig, weil sie nicht barsch, sondern differenziert daherkam und versuchte, einem grundlegenden Problem auf den Grund zu gehen: Warum fällt es uns allen so schwer, große Herausforderungen wie die Klimakrise, die Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit oder die Digitalisierung von Verwaltung und Schulen entschlossen anzupacken? Warum plant und handelt die Politik oft kurz- statt langfristig, und warum wenden sich viele Menschen von den etablierten Parteien ab?

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Was der Leser schrieb, machte mich neugierig, also bat ich ihn um ein Interview. Er möchte anonym bleiben, aber so viel kann ich Ihnen sagen: Er hat 20 Jahre lang als selbstständiger Krisenmanager in Dax-Konzernen gearbeitet und sich intensiv mit organisatorischen und technologischen Herausforderungen beschäftigt. Zusätzlich war er mehr als 15 Jahre lang in einer politischen Partei aktiv. Hier sind seine Antworten auf meine Fragen.

Florian Harms: Viele Bürger haben das Vertrauen in Deutschlands politisches System verloren. Auch viele Wirtschaftslenker fordern Reformen, beispielsweise mehr Bürgerbeteiligung, schnellere und transparentere Verfahren. Warum ist es so schwierig, die politischen Strukturen zu reformieren?

Der Leser: Ich sehe zwei zentrale Ursachen. Die erste ist das festgefahrene System. In der Wirtschaft gehört es zum Standard, Strukturen und Prozesse regelmäßig zu überprüfen und anzupassen, um effizient zu bleiben. In der Politik gibt es jedoch seit Jahrzehnten kaum grundlegende Veränderungen. Das System, wie es seit Gründung der Bundesrepublik besteht, wurde lediglich marginal angepasst. Diese Starrheit führt dazu, dass die Politik auf große gesellschaftliche Umwälzungen wie die Digitalisierung, die Globalisierung oder den Klimawandel nur unzureichend reagieren kann.

Und die zweite Ursache?

Ist der Mangel an qualifiziertem Personal. In der Politik wird häufig mehr Wert auf unbedingte Loyalität und die Bewahrung von Macht gelegt als auf Sachkompetenz und Flexibilität.

Warum ist das ein Problem?

Es führt dazu, dass viele Posten, gerade in Führungspositionen, mit Parteimitgliedern oder -freunden besetzt werden, die gar nicht die erforderliche Expertise mitbringen. Das ist ein grundsätzlicher Gegensatz zur Wirtschaft, wo von Managern verlangt wird, sich durch permanente Optimierung der Prozesse selbst überflüssig zu machen, um das Unternehmen voranzubringen. In der Politik herrscht statt Veränderungsbereitschaft der beständige Wille, bestehende Strukturen zu erhalten, um Macht auszuüben.

Nennen Sie doch mal ein Beispiel.

Nehmen Sie die schleppende Digitalisierung: In der Wirtschaft setzt man auf effiziente, standardisierte IT-Prozesse – in der öffentlichen Verwaltung dagegen herrscht "Silo-Denken". Viele Ämter und Behörden auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene agieren für sich und behindern eine übergreifende Zusammenarbeit. So kommt es zu einem Wildwuchs inkompatibler Systeme, was die Effizienz der Verwaltung immens erschwert. Allein in den deutschen Kommunen existieren Tausende verschiedener IT-Lösungen – das ist doch verrückt!

Wo sehen Sie noch Probleme?

Ein großes Reformhindernis ist die ausufernde Gesetzgebung. Deutschland zählt weltweit zu den Spitzenreitern beim Erlass neuer Gesetze: Eine Regel folgt auf die andere, in vielen Fällen, ohne dass überflüssige Gesetze gestrichen werden. Als Ergebnis haben wir einen unüberschaubaren Regelwirrwarr, der jede Reform verkompliziert. Bürokratische Hürden werden nicht abgebaut, sondern immer weiter erhöht. Das belastet die Verwaltung, die deshalb immer mehr Personal einstellen muss, was immer mehr Steuergeld kostet.

Welche Chancen sehen Sie in einer stärkeren Beteiligung der Bürger an der politischen Entscheidungsfindung?

Grundsätzlich große – aber Deutschland hat leider auch bei der Bürgerbeteiligung große Defizite. Während in der Wirtschaft Entscheidungen oft auf agile und teamorientierte Weise getroffen werden, bleibt den Bürgern in der Politik nur die Möglichkeit, alle paar Jahre ihr Kreuzchen zu machen. Zwischen den Wahlen sind sie weitgehend von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung – etwa durch flächendeckende Bürgerräte oder standardisierte Volksabstimmungen – stoßen bei den meisten Politikern auf taube Ohren, weil das bedeuten würde, dass sie Macht abgeben müssten. Einige Länder wie beispielsweise Bayern haben zwar Volksentscheide, doch deren Umsetzung wird häufig ignoriert oder verzögert.

Wie beurteilen Sie angesichts dieser Defizite die Zukunft des politischen Systems in Deutschland?

Die mangelnde Veränderungsbereitschaft und das Festhalten an verknöcherten Strukturen haben schwerwiegende Folgen. Die jüngsten Wahlergebnisse zeigen ja, dass die Volksparteien zunehmend an Unterstützung verlieren. Besonders junge Menschen, die durch soziale Medien an direkte Rückmeldungen gewöhnt sind, fühlen sich von den traditionellen Strukturen nicht mehr abgeholt. Genau darin steckt zugleich aber die Chance: Wenn uns der Umbau hin zu mehr direkter Demokratie und flexibleren Strukturen gelingt, ließe sich das Vertrauen ins politische System sicher stärken.

Soweit der Tagesanbruch-Leser. Immerhin: Am Ende formuliert er eine Hoffnung. Auch die teile ich gern.


Selenskyj stellt "Siegesplan" vor

Die Dramaturgie war fein ausgetüftelt, ihr Scheitern umso augenfälliger: Da wollte Wolodymyr Selenskyj vergangene Woche seinen "Siegesplan" zunächst in mehreren europäischen Hauptstädten vorstellen, um dann beim großen Ukraine-Unterstützer-Gipfel in Ramstein ein möglichst handfestes Solidaritätsversprechen seiner westlichen Alliierten entgegenzunehmen. Doch deren oberster Anführer, US-Präsident Joe Biden, sagte sein Kommen wegen eines Hurrikans kurzfristig ab, das ganze Treffen fiel aus – und überschwängliche Reaktionen auf die Werbetour wurden aus London, Paris, Rom und Berlin auch nicht vermeldet.

Heute will der ukrainische Präsident sein der Öffentlichkeit immer noch unbekanntes Strategiepapier dem Parlament in Kiew auf einer Sondersitzung vorstellen. Ein Bestandteil dürfte die schon vielfach vorgetragene Forderung sein, eine Freigabe für den Einsatz von Langstreckenwaffen gegen militärische Ziele im russischen Hinterland zu erhalten. Zudem strebt die Ukraine weiterhin eine Nato-Mitgliedschaft oder mindestens weitreichende Sicherheitsgarantien an. Zu beiden Punkten ist dringend eine substanzielle Reaktion des Westens nötig, wenn Kriegstreiber Putin nicht den Eindruck gewinnen soll, die Unterstützer verlören allmählich das Interesse. Vielleicht nutzt Kanzler Olaf Scholz ja seine heutige Regierungserklärung zum EU-Gipfel, um seine Sicht auf den "Siegesplan" darzulegen.

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Demokraten treffen Scheichs

Es ist das erste Treffen dieser Art und soll einer verstärkten Zusammenarbeit den Weg bereiten: Im Vorfeld des morgigen EU-Gipfels kommen heute in Brüssel Regierungschefs der EU-Staaten mit Repräsentanten des Golf-Kooperationsrats zusammen, dem die Vereinigten Arabischen Emirate, das Königreich Bahrain, das Königreich Saudi-Arabien, das Sultanat Oman, Katar und Kuwait angehören. Viele monarchisch auftretende Herrschaften also im Kreis der europäischen Demokraten. Den Vorsitz teilen sich der Präsident des Europäischen Rats, Charles Michel, und der Emir von Katar, Scheich Tamim bin Hamad Al Thani.

So sehr die Europäer die Golfstaaten als Energielieferanten schätzen, so schwierig gestaltet sich die Suche nach Gemeinsamkeiten in anderen Politikfeldern: Im Nahost-Konflikt versucht sich Katar zwar als Vermittler, pflegt aber vor allem gute Beziehungen zur Terrororganisation Hamas. Und mit Blick auf den Ukraine-Krieg sperren sich die Golfstaaten dagegen, ausschließlich zum Verzicht auf die Unterstützung Russlands aufzurufen. Aus ihrer Sicht sollten stattdessen Waffenlieferungen an alle Konfliktparteien gestoppt werden. Man darf also gespannt sein, ob es heute zu einer gemeinsamen Abschlusserklärung kommt und wenn ja, wie sie aussieht.


Genug Energie für alle?

Wie steht es weltweit um den Ausbau der erneuerbaren Energien? Wachsen die Kapazitäten in ausreichendem Maße, um die Klimaziele zu erreichen? Wie ist es angesichts der Kriege in Nahost und der Ukraine um die Versorgungssicherheit bestellt? Und wie wirkt sich der Vormarsch der auf Rechenzentren angewiesenen Künstlichen Intelligenz auf die Stromnachfrage aus? Alle diese Fragen sollen heute beantwortet werden, wenn die Internationale Energieagentur in Paris ihren Weltenergieausblick vorlegt. Das mag dröge klingen, wird jedoch darüber mitentscheiden, ob wir in Mitteleuropa in den kommenden Jahren unseren Wohlstand erhalten können.


Das historische Bild

Anno 1906 brachte ein falscher Hauptmann Kaiser Wilhelm II. zum Lachen. Und mit ihm die ganze Welt. Mehr erfahren Sie hier.


Ohrenschmaus

Kennen Sie das: Sie hören einen Song wieder und wieder und können sich nicht satthören? Mir geht es so mit diesem Meisterwerk, das vier Genies 1969 auf einem Londoner Dach zum Besten gaben.


Lesetipps

Die Bundesregierung will nach den Messermorden von Solingen mit ihrem "Sicherheitspaket" Handlungsfähigkeit beweisen. Doch nun regt sich im Bundestag sogar bei ihren eigenen Abgeordneten Widerstand, wie unser Reporter Johannes Bebermeier erfahren hat.


Ein langjähriger Feind von Alice Weidel in der AfD verlässt Partei und Fraktion. Und zwar mit einem Knall, berichtet unsere Reporterin Annika Leister.



Warum bekommt man als Gast in vielen Cafés zum Kaffee ein Glas Wasser? Der Brauch hat einen interessanten Hintergrund, weiß meine Kollegin Jennifer Buchholz.


Zum Schluss

Medienkonsum im Jahr 2024.

Ich wünsche Ihnen einen sinnvoll verbrachten Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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