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Eine gefährliche Debatte: Hubert Aiwanger und der Antisemitismus


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Tagesanbruch
Jetzt steht Bayern voll im Fokus

  • Bastian Brauns
MeinungVon Bastian Brauns

Aktualisiert am 28.08.2023Lesedauer: 7 Min.
Vorwürfe mit Vergangenheitsbezug: Hubert Aiwanger beteuert seine Unschuld.Vergrößern des Bildes
Vorwürfe mit Vergangenheitsbezug: Hubert Aiwanger beteuert seine Unschuld. (Quelle: Rolf Poss/imago-images-bilder)
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Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,

eine womöglich folgenreiche Recherche der "Süddeutschen Zeitung" zu Hubert Aiwanger beschäftigt seit dem Wochenende viele Menschen, vor allem in Politik und Medien. Am Ende könnte sogar noch vor der bayerischen Landtagswahl am 8. Oktober die bisherige Koalition aus CSU und Freien Wählern zerbrechen. Der Grund findet sich in einem SZ-Artikel mit der Überschrift "Aiwanger soll als Schüler antisemitisches Flugblatt verfasst haben".

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Der Inhalt dieses offenbar mit einer Schreibmaschine aus dem Hause Aiwanger geschriebenen Flugblattes ist eine menschenverachtende und durchweg antisemitische Schande. Zu lesen ist darin von einem fiktiven Bundeswettbewerb mit dem Titel "Wer ist der größte Vaterlandsverräter?" und von Gewinnen, wie einem "Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" oder einem "lebenslänglichen Aufenthalt im Massengrab". Von einem "Vergnügungsviertel Auschwitz" ist obendrein die Rede. Die Kritik am Inhalt dieses Pamphlets ist absolut unstrittig.

Wer hingegen der wahre Verfasser ist, darüber ist eine hitzige Debatte entbrannt. Die Recherche der SZ legt nahe, dass es der damals 17-jährige Hubert Aiwanger gewesen ist. Heute ist er der stellvertretende Ministerpräsident und Vorsitzende der Partei "Freie Wähler" in Bayern. Die SZ beruft sich auf mehrere Zeugen, die den Vorgang in den späten Achtzigerjahren mitbekommen haben. Was sie aber nicht liefert, ist einen eindeutigen Beweis. Darum steht in der Überschrift des SZ-Artikels auch: "Aiwanger soll als Schüler antisemitisches Flugblatt verfasst haben" und nicht "Aiwanger hat als Schüler antisemitisches Flugblatt verfasst".

Insofern ist die Recherche zwar sauber. Sie behauptet nicht, dass Aiwanger es definitiv getan hat. Aber sie legt es eben nahe, zu einem heiklen Zeitpunkt, wenige Wochen vor einer entscheidenden Landtagswahl. Die Redaktion hält offenkundig die Indizien für so stichhaltig, dass sie eine Veröffentlichung rechtfertigen. "Ein Lehrer, der damals dem Disziplinarausschuss angehörte, sagte der SZ, dieser habe 'Aiwanger als überführt betrachtet, da in seiner Schultasche Kopien des Flugblatts entdeckt worden waren'", schreibt die Zeitung.

Und weiter: "Zwei weitere Personen, die damals nach eigener Aussage dienstlich mit der Angelegenheit um Aiwanger und das Flugblatt betraut waren, bestätigten der SZ, dass es eine Sitzung des Disziplinarausschusses gegeben habe und Aiwanger wegen des Flugblatts bestraft worden sei. Einer davon sagte, Aiwanger habe seine Urheberschaft auch nicht bestritten." Es sind mehrere übereinstimmende Zeugenaussagen, denen Journalisten nachgehen müssen.

Fakt ist trotzdem: Wir wissen bis heute nicht, wer die menschenverachtende Schrift einst verfasst hat. Für die Debatte wäre es darum wichtig, dass die SZ dies noch deutlicher hervorhebt. Gerade, weil die Aussagen darin so widerlich sind, egal wie alt der Urheber war, erfordert die Berichterstattung darüber Gründlichkeit und Transparenz – auch in Bezug auf fehlende Puzzlestücke.

Ausgerechnet der Bruder von Hubert Aiwanger, Helmut Aiwanger, will nun das Alibi sein. Er behauptet, er habe das antisemitische Flugblatt damals aus Wut über seine Schule verfasst, heute bereue er das. Hubert Aiwanger behauptet, eine oder mehre Exemplare der Hetzschrift seien in seiner Schultasche gewesen, dafür sei er bestraft worden. Den Verfasser, seinen Bruder, habe er damals nicht "verpfeifen" wollen.

Dem 17-jährigen Hubert Aiwanger drohte als Strafe ein Referat über das "Dritte Reich". Heute aber könnte der 52-Jährige sein Amt und seine mögliche Wiederwahl gefährden. Es scheint also eine Frage der Fallhöhe zu sein. Jetzt war es Aiwanger offensichtlich wichtig genug, den Bruder als Urheber doch zu enttarnen. Ob der es aber wirklich war, werden wir vielleicht nie erfahren.

Die Debatte darüber aber ist hochpolitisch. Und die Folgen einer unvollendeten Recherche werden nun den Ausgang der bayerischen Landtagswahlen beeinflussen. Die schlimmste Folge wäre, wenn dadurch Kräfte gestärkt würden, die hinter dem Text eine reine Schmutzkampagne gegen Aiwanger vermuten. Das wäre eine gefährliche Entwicklung. Denn sie würde die Glaubwürdigkeit der Medien beschädigen. Umso wichtiger ist es, sich auch der publizistischen Debatte zu stellen und die dahinter liegenden Entscheidungen transparent darzulegen.

Was aus diesem Vorgang aber auf jeden Fall entstehen sollte, muss über das Politische hinausgehen. Wir brauchen eine Debatte über den Inhalt dieser fast vierzig Jahre alten Hetzschrift. Denn das, was im Hause Aiwanger damals entstanden ist, ist keine Jugendsünde. Es ist ein jahrhundertealter, immer wieder neu aufgekochter Hass gegen Juden. Trotz des beschreibbaren und trotzdem unfassbaren Schreckens eines in Deutschland perfide geplanten, millionenfachen Massenmordes lebt dieser Hass bis heute fort.

Antisemitismus ist lebendig, er war es Ende der 80er Jahre, als die Hetzschrift entstand, und ist es noch heute. Er wird sogar lebendiger. Nicht nur in Deutschland. Dort zählte das Bundesinnenministerium im Jahr 2022 mehr als 2.600 antisemitische Delikte. Es sind nur die aktenkundigen Fälle. Auch in Amerika ist das zu beobachten. Ausgerechnet im einstigen Zufluchtsland Nummer eins, in das sich mehr als hunderttausend Juden aus dem "Dritten Reich" retteten, verbreitet sich dieses Gedankengut, oft unter dem Deckmantel der freien Rede.

Laut einem gemeinsamen Bericht des "Zentrums für Studien des zeitgenössischen europäischen Judentums" an der Universität Tel Aviv und der in den USA ansässigen "Anti-Defamation League" nehmen antisemitische Vorfälle zu. Die Forscher stellen darin fest: "Das Jahr 2022 markierte keine allgemeine Trendumkehr, sondern vielmehr eine Verstärkung in einigen Ländern, am alarmierendsten in den Vereinigten Staaten." Die Zahl der antisemitischen Vorfälle in den USA ist demnach im vergangenen Jahr um mehr als 35 Prozent gestiegen, von 2.721 im Jahr 2021 auf 3.697 im Jahr 2022. Zudem habe antisemitische Propaganda, gepaart mit einem Denken von weißer Vorherrschaft, ein neues Höchstniveau erreicht.

Bedenklich ist vor allem eines: In dem Bericht heißt es ausdrücklich, dass "der Antisemitismus der extremen Rechten und der extremen Linken von beiden Seiten in den Mainstream der amerikanischen Kultur und Politik vordringt."

Das wiederum ist ein Befund, der auch auf Deutschland zutrifft. Antisemitische Erzählungen waren bei den Protesten der Impfgegner zu beobachten. Sie finden sich bei der Kritik an Israel und sind bei Diskussionen um Migration und Klimawandel zu finden. Sie werden in muslimischen Kreisen verbreitet. Und sie lassen sich in Teilen der Friedensbewegung erkennen.

Ein Motiv, das alle Erzählungen vereint, ist: "eine globale Elite", die Böses mit uns vorhaben soll: Mal ist es der wild um sich impfende Microsoft-Gründer Bill Gates, mal der Ökonom Klaus Schwab vom Weltwirtschaftsforum, der mithilfe von Migration einen angeblichen Bevölkerungsaustausch plant. Mal sind es angebliche "Strippenzieher" hinter dem jüdischen Präsidenten Selenskyj, die den Ukraine-Krieg befördern sollen.

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Aus solchen Erzählungen, ob in Flugblättern, in Bildern oder Karikaturen, wurden schon viel zu oft Mord und Massenmord. Wir dürfen solche Aussagen deshalb nicht einfach abtun, sonst bereiten wir den Weg für Schlimmeres. Wir müssen dem entschieden entgegentreten.

Hubert Aiwanger hätte diese Chance gehabt und er hätte sie nutzen müssen. Er müsste es sein, der sich an die Spitze stellt. Aber: keine Reue zu den Vorgängen damals. Sein Statement, das Flugblatt sei ekelhaft, wirkt seltsam nachgeplappert vom Statement Markus Söders. Aiwanger scheint sich vielmehr nur um sich und seinen Wahlkampf zu kümmern.

Durch sein Dementi und das Schuldbekenntnis seines Bruders sind längst nicht alle Fragen beantwortet. Aiwanger kann sich zum Beispiel nicht mehr erinnern, ob er von den Flugblättern, die in seinem Schulranzen waren, auch welche verteilte. Dabei ist Erinnern besonders wichtig im Zusammenhang mit Antisemitismus. Dem sind wir alle verpflichtet und die Aiwangers ganz offensichtlich besonders.


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Der "Barbie"-Film hat einen Hype um viele pinke Produkte gestartet. Davon profitiert auch das deutsche Unternehmen Birkenstock. Meine Kollegin Frederike Holewik erklärt, warum der Auftrieb gerade zum richtigen Zeitpunkt kommt und was der Konzern für die Zukunft plant.

Ob Stuttgart, Leipzig oder München: In deutschen Großstädten werden die Sommer immer extremer. Besonders für ältere Menschen ist das ein Problem. Warum andere Länder da längst weiter sind, zeigen meine Kollegin Rahel Zahlmann und mein Kollege Axel Krüger in diesem Video.

Zum Fall Hubert und Helmut Aiwanger empfehle ich Ihnen außerdem die weitere Berichterstattung der Kollegen von der "Süddeutschen Zeitung".


Was mich amüsiert

Ihr

Bastian Brauns
Washington-Korrespondent
Twitter @BastianBrauns

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Mit Material von dpa.

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