Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Eine spektakuläre Erkenntnis
Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,
"Die Welt urteilt nach dem Scheine", wusste schon der alte Goethe, er kannte halt die Menschen gut. Wir streben nach Wahrheit, bleiben jedoch meist auf halbem Weg stehen und geben uns mit Halbwahrheiten zufrieden, die bei genauerem Hinsehen sogar oft nur Viertelwahrheiten sind. Wir glauben zu schnell, was wir sehen, und wir sehen nur, was wir glauben wollen. So kommt es, dass viele Menschen mehr Antworten als Fragen haben, dass sie sich selbst stets im Recht wähnen und jede Ansicht, die nicht in ihr Weltbild passt, als persönlichen Angriff verstehen.
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Das ist nicht neu, aber es wird in Krisenzeiten verstärkt zum Problem: Wer ohnehin unter Druck steht, neigt schneller zu Pauschal- oder gar Vorurteilen, sucht einfache Lösungen und sei es mit der Brechstange. Beispiele finden sich zur Genüge, auch in unserer Leserschaft: Da gibt es manche, die uns vorwerfen, wir würden sie täuschen, weil wir beispielsweise Randale in Freibädern nicht ausschließlich Migranten anlasten – und andere, die uns des Rassismus bezichtigen, weil wir feststellen, dass archaische Wertvorstellungen zugewanderter Araber ein Problem darstellen.
Beim Streitthema Klimaschutz ist es dasselbe: Da gibt es jene, die über die Trödelei der Bundesregierung lästern, aber sich fröhlich in den Langstreckenflieger setzen. Die über die Verschmutzung der Weltmeere klagen, aber im Supermarkt sich Produkte der größten Plastiksünder-Konzerne Coca-Cola, PepsiCo und Nestlé in ihrem Einkaufswagen stapeln. Und natürlich sind da jene, die in einer Wählerstimme für rechtsextreme AfD-Politiker wie Björn Höcke einen berechtigten Ausdruck ihres Ärgers über die Regierung sehen. Schließlich jene nicht zu vergessen, die fortwährend über ihre Alltagszumutungen ächzen, während nur 1.500 Kilometer östlich Bomben auf Zivilisten fallen und 1.500 Kilometer südlich Menschen im Mittelmeer ertrinken. Der Scheuklappenblick ist zur vorherrschenden Perspektive geworden. Ich nehme mich da gar nicht aus. Auch mir ist das Steak auf dem Teller oft näher als der Gedanke an das Methan in der Atmosphäre.
Unsere Sicht auf die Welt ist egozentrisch, und die tägliche Selbsttäuschung kennt keine Grenzen. Merkwürdigerweise ist diese Schwäche in den aufgeklärten Bevölkerungen westlicher Demokratien kaum weniger verbreitet als in Diktaturen, wo die Menschen von Staats wegen belogen werden. Hierzulande legen wir großen Wert darauf, uns nicht von oben hinters Licht führen zu lassen – und täuschen uns stattdessen in vielen Dingen lieber selbst. Wir gaukeln uns bequeme Lösungen vor, wo es keine einfachen Lösungen gibt – und wenn ich "wir" schreibe, sind natürlich nicht bei jedem Vorwurf alle Leute gemeint.
Aber der Schatten des Selbstbetrugs fällt doch auf die allermeisten. In einem Land wie Deutschland zu leben – der viertgrößten Wirtschaftsmacht der Welt, wohlhabend, sicher, frei – kommt einem Sechser im globalen Bevölkerungslotto gleich: Es ist ein Grund zu täglicher Freude, birgt aber auch eine besondere Verantwortung für Mitmenschen und die Natur, die wir alle zum Überleben brauchen. Wer sich ein paar Minuten Zeit nimmt, um diese Selbstverständlichkeit zu durchdenken, kann eigentlich gar nicht anders, als sich stets solidarisch und rücksichtsvoll zu verhalten.
Sollte man meinen. Doch leider sehen wir scheinbar aufgeklärten Erdenbürger eben nur das, was wir sehen wollen. So wie Millionen Menschen vor 47 Jahren: Am 25. Juli 1976 funkte die Raumsonde "Viking I" Fotos vom Mars auf die Erde – darauf zu sehen war ein drei Kilometer langer Felsen mit der Abbildung eines menschlichen Gesichts. Prompt wurde die spektakuläre Entdeckung als Beweis für außerirdisches Leben gehandelt: Vor drei Millionen Jahren hatten also fremde Wesen den roten Planeten besiedelt und dort ein Zeichen ihrer Existenz hinterlassen. Und sie ähnelten uns sogar! Nicht nur Apokalyptiker und Däniken-Fans waren damals aus dem Häuschen, auch viele nüchterne Charaktere glaubten ihren Augen. Fortan geisterten die Fotos durch das kollektive Menschheitsgedächtnis.
Es dauerte volle 25 Jahre, bis eine weitere Marssonde neue Fotos des Felsens knipste – und dabei die schnöde Wahrheit enthüllte: Bei dem vermeintlichen Gesicht handelte es sich um einen verwitterten Felsen; die "Augen", die "Nase" und der "Mund" entpuppten sich als Schattenwürfe während der früheren Aufnahmen. Es war nur ein Trugbild. Aber weil wir Menschen nun mal gern sehen, was wir sehen wollen, erkannte die halbe Welt darin ein Antlitz.
Wir betrügen uns gern selbst, und wenn die Technik uns dabei hilft, tun wir es noch lieber. Der Jahrestag der Mars-Fotos sollte ein willkommener Anlass sein, über unsere tägliche Wahrnehmung, unser Weltbild und unser Selbstverständnis nachzudenken. Wenn uns die Werbung vorgaukelt, dass ein Urlaub am anderen Ende der Welt erstrebenswert sei oder ein Getränk in einer Wegwerfplastikflasche attraktiver als eines aus der Glaskaraffe, dann sollte unser Hirn groß genug sein, das Versprechen als Täuschung zu entlarven. Und wenn Leute meinen, mit einfachen Parolen die komplexen Probleme der modernen Welt lösen zu können, ist auch das vermutlich nicht viel mehr als einfach nur ein Selbstbetrug. "Je weniger wir Trugbilder bewundern, desto mehr vermögen wir die Wahrheit aufzunehmen", hat Erasmus von Rotterdam schon vor 500 Jahren geschrieben. Bemerkenswert, dass sich seither nichts geändert hat.
Merz mäandert
Politikern ergeht es nicht anders als anderen Menschen: Wer unter Druck steht, braucht einen Plan, sonst gerät er ins Schlingern. CDU-Chef Friedrich Merz hat offensichtlich keinen Plan, wie er der ausgelaugten Partei ein klares Profil verpassen und sie wieder attraktiver machen kann. Vor allem Junge und viele Frauen fremdeln mit dem Altherrenverein – und von ganz rechts zerrt die AfD an unzufriedenen Unionsanhängern.
In seiner Not sucht Merz sein Heil in einem Schlingerkurs, mit dem er der CDU noch mehr Glaubwürdigkeit raubt: Mal schließt er jede Zusammenarbeit mit der AfD aus, dann will er doch mit ihr kooperieren, zumindest auf kommunaler Ebene, dann rudert er hektisch zurück und will alles ganz anders gemeint haben. Am Ende blickt keiner mehr durch, die eigenen Anhänger eingeschlossen, wie unsere Chefreporterin Miriam Hollstein berichtet: Der CDU-Vorsitzende verliert in den eigenen Reihen rasant an Vertrauen. CSU-Chef Markus Söder und der hessische CDU-Ministerpräsident Boris Rhein, beide mitten im Landtagswahlkampf, haben sich schon abgesetzt. Und auch die Leitartikler der konservativen und bürgerlichen Presse, von der FAZ bis zur NZZ, schütteln nur noch mit dem Kopf.
Die einzigen, die fröhlich feixen, sind die Rechtspopulisten: "Nun fallen erste Steine aus der schwarz-grünen Brandmauer", jubiliert AfD-Sprecher Tino Chrupalla, und seine Co-Chefin Alice Weidel sekundiert: Der CDU-Chef habe "zum wiederholten Mal Angst vor der eigenen Courage“ gezeigt". Wenn Herr Merz so weitermacht, wird in den Umfragen bald auch noch die CDU von der AfD überholt.
Rettung in letzter Minute
Es ist eine Rettungsaktion, der man einfach nur von Herzen gutes Gelingen wünschen kann: Rund 200 Millionen Liter Öl lagern in einem schrottreifen Tanker vor der Küste des Bürgerkriegslandes Jemen, nun wollen die Vereinten Nationen die gefährliche Fracht auf ein modernes Schiff umpumpen und abtransportieren. Dazu haben Schlepper rund um die seit Jahren nicht mehr gewartete "FSO Safer" schwimmende Barrieren und Schläuche verlegt. Denn sollte der Tanker bersten und Öl auslaufen, droht eine Umweltkatastrophe, die sogar den Horrorfall der "Exxon Valdez" aus dem Jahr 1989 in den Schatten stellen würde.
Achim Steiner, der deutsch-brasilianische Leiter des UN-Entwicklungsprogramms, plant die 128 Millionen Euro teure Mission seit zwei Jahren. Wie kompliziert sie ist, lässt sich auch daran ablesen, dass der Start schon zweimal verschoben wurde: Erst sollte es am Sonntag losgehen, dann gestern. Heute ist es hoffentlich endlich so weit.
Ohrenschmaus
In Bayreuth beginnen heute die Wagner-Festspiele. Ich habe etwas Besseres für Sie.
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Zum Schluss
Selbstbetrug kennt auch im Urlaub keine Grenzen.
Ich wünsche Ihnen einen aufgeklärten Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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