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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Geheimprojekt im Kalten Krieg Diese Waffe könnte Putin jetzt verdammt gut gebrauchen
Schwer bewaffnet belauerte die Sowjetunion im Kalten Krieg die Nato. Falls der Konflikt "heiß" geworden wäre, sollte ein revolutionäres Waffensystem Moskau einen Vorteil verschaffen.
Die Angst ging 1967 um in Washington, D.C. Welche Teufelei hatten die Sowjets am Kaspischen Meer ausgeheckt? Aufnahmen eines amerikanischen Satelliten zeigten dort ein riesiges Objekt in einer sowjetischen Basis – mehr als 90 Meter lang, dazu Stummelflügel in der Mitte. "Kaspisches Seemonster" tauften es US-Geheimdienstler in ihrer Ratlosigkeit.
Aber worum handelte es sich denn nun? War es ein Flugzeug, war es ein Schiff? "Es schien ein Flugzeug zu sein mit einem langen schlanken Rumpf, sehr kurzen Flügeln und seltsam positionierten Triebwerken", erinnerte sich der Experte Robert F. Dorr in einer N24-Dokumentation. Nein, es war weder das eine noch das andere. Vielmehr handelte es sich um ein sogenanntes Bodeneffektfahrzeug, Ekranoplan auf Russisch.
Gefahr aus dem Nichts
Was das Ekranoplan zu leisten imstande war, zeigte es bei seinem "Erstflug" am 18. Oktober 1966. Unter gewaltigem Lärm startete die Besatzung an diesem Tag die Triebwerke, das Ekranoplan schob sich durch die Wasser des Kaspischen Meeres. Schneller und schneller, dann hob es ab. Allerdings nicht allzu hoch, dafür mit beeindruckendem Tempo: mehr als 400 Kilometer pro Stunde.
Beteiligte Ingenieure und vor allem die anwesenden Offiziere der sowjetischen Streitkräfte waren hocherfreut. Denn mit dem Ekranoplan hatte die kommunistische Supermacht eine neue Waffe zur Verfügung, von deren Macht der feindliche Westen noch nichts ahnte. Der militärischen Einsatzmöglichkeiten gab es viele: Überaus schnell und schwer vom Radar zu erfassen, vermögen Ekranoplane Truppen in Windeseile in Feindesgebiet zu transportieren oder gegnerische Schiffe – wenn nicht gar Flotten – auszuschalten.
Dem genialen Kontrukteur Rostislaw Alexejew war das Vorhaben anvertraut worden. Nikita Chruschtschow, starker Mann der Sowjetunion, förderte das Projekt höchstpersönlich. Was mächtig Druck für Alexejew bedeutete, der vor dem Problem stand, den zugrunde liegenden Bodeneffekt nutzbar zu machen. Bei diesem handelt es sich um nichts weiter als simple Physik: In der Nähe des Bodens – das gilt für Land und Wasser – erhält ein sich bewegender Körper je nach seiner Beschaffenheit Ab- oder Auftrieb.
Dies macht sich ein Ekranoplan zunutze: Unter den Flügeln eines Bodeneffektfahrzeugs bildet sich ein Kissen aus Luft, das sich mit dem in Bewegung befindlichen Gefährt gleichsam fortbewegt. So kann ein Ekranoplan selbst schwerste Lasten überaus schnell bei relativ geringem Verbrauch an Treibstoff befördern. Allzu hoch hinaus ging es aber nicht, denn der Bodeneffekt lässt irgendwann nach.
In aller Heimlichkeit
Was in der Theorie bestechend einleuchtend klingt, war in der Realität schwer umzusetzen. In der Praxis musste Alexejew sich entsprechend einiges einfallen lassen, um den Bodeneffekt unter Kontrolle zu bekommen. In Nischni Nowgorod an der Wolga, das damals Gorki hieß, werkelte der Ingenieur seit 1964 mit zahllosen Mitarbeitern an seinem Ekranoplan, das "KM", kurz für "korabl-maket", "Schiffsentwurf", genannt wurde.
Die Herausforderung war groß, denn die Kräfte, die auf das "KM" wirkten, waren gewaltig. So war auch von vornherein klar, dass das Ekranoplan für Einsätze auf dem Wasser gebaut werden musste – zu immens wären die potenziellen Verheerungen, die das Luftkissen des "KM" beim Flug über Land hätten auslösen können.
1966 war es dann so weit: Im Schutze der Dunkelheit verschiffte man das zeitweilig demontierte "KM" gen Süden zum Kaspischen Meer. Dort avancierte es nach dem Erstflug tatsächlich zum "Kaspischen Seemonster", wenn es bei den Erprobungen über das Wasser schoss. Bis zu 500 Kilometer pro Stunde erreichte das "KM" schließlich dabei, ermöglicht durch zehn leistungsstarke Triebwerke. Konstrukteur Alexejew war bisweilen bei Testflügen dabei, trotz ausdrücklichen Verbots, sich der Gefahr auszusetzen.
"Ich ließ Alexejew trotzdem an Bord", gestand ein Pilot später. "Er musste doch fühlen, wie sich die Maschine während des Flugs verhielt." So tüftelte Alexejew unablässig an dringenden Verbesserungen, die auch notwendig waren, denn immer wieder kam es zu Problemen mit dem "KM". Bis er im Februar 1980 starb. Sein "KM" überdauerte Alexejew nicht lange, Ende des Jahres versank es nach einem Unfall in den Wassern des Kaspischen Meeres, wie der Autor Rainer Göpfert in einem Artikel in der "Fliegerrevue" schreibt.
Zunächst wehrlos
Doch Alexejew und sein "KM" hatten ein "Erbe" hinterlassen: Ekranoplane der "Lun"-Klasse sollten den sowjetischen Streitkräften einen strategischen Vorteil in einem möglichen militärischen Konflikt mit der Nato verschaffen. "Lun", die russische Bezeichnung für den Greifvogel "Weihe", war mit etwas über 70 Metern Länge eine deutlich kleinere Nummer als das gewaltige "KM" mit fast 100 Metern.
Dafür trug "Lun" im Gegensatz zum unbewaffneten "KM" eine todbringende Fracht mit sich: sechs Antischiffsraketen vom Typ 3M80 Moskit, von der Nato als "Sunburn", "Sonnenbrand", bezeichnet. Im Einsatz gegen westliche Kriegsschiffe hätte "Lun" mit ihnen eine verheerende Wirkung entfalten können. Zumal der Nato zunächst keine passenden Waffensysteme zur Abwehr der Moskit zur Verfügung standen. Selbst Flugzeugträger wären eine potenzielle Beute für "Lun" gewesen. Erst recht, wenn die Moskit mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückt worden wären.
1989 erprobten die Sowjetstreitkräfte den Abschuss der Moskit vom einzigen jemals komplettierten "Lun" auf dem Kaspischen Meer, der zweite Test wurde ein Erfolg. Einer der wenigen, die der Sowjetunion in ihren letzten Jahren noch gelungen sind. 1991 ging sie unter, "Lun" korrodierte seitdem an der Küste Dagestans vor sich.
Bis es 2020 zu einem Themenpark geschleppt wurde – unter medialer Aufmerksamkeit aus Ost und West. Denn "Lun" übt immer noch große Faszination aus: wegen seines auffälligen Aussehens und der Vernichtungskraft, zu der das Ekranoplan potenziell fähig gewesen ist. Auch wenn die Nato in "Lun" weniger die Grazie eines Greifvogels ausmachte, als vielmehr die eines etwas plumperen Wasservogels. Als "Ente" bezeichnete das Verteidigungsbündnis "Lun".
Bedrohung in der Zukunft?
Ebenso wie die Sowjetunion sind auch ihre Ekranoplane unvergessen. 2015, so schreibt Experte Rainer Göpfert, kamen im russischen Verteidigungsministerium Planungen auf, zukünftig wieder schwer bewaffnete Ekranoplane zu bauen. 2018 schrieb der "Stern", dass Russland ab 2027 ein Ekranoplan mit der Bezeichnung "Orlan" zumindest als Prototyp fertiggestellt haben will.
Ob sich diese Pläne angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine verwirklichen lassen? Das darf bezweifelt werden. Wahrscheinlich ist aber, dass Wladimir Putin durchaus gerne eine Flotte von "Luns" in seinem Arsenal hätte. Denn er weiß genau, wie Drohungen mit Russlands atomarer Macht im Westen wirken.
Um ein derartiges Ekranoplan zu sehen, muss die russische Bevölkerung allerdings im Moment ins Museum gehen. Entweder zum Kaspischen Meer, wo "Lun" sich befindet. Oder zum Museum der Russischen Seekriegsflotte in Moskau, wo ein "A-90 Orljonok" ausgestellt ist. Ein anderer Typ Ekranoplan, der im Ernstfall rund 500 Marineinfanteristen oder zwei Panzer ins Nato-Territorium hätte tragen können.
- Eigene Recherche
- Rainer Göpfert: "Sowjetische Ekranoplane" in: "Fliegerrevue" 05/2017
- stern.de: "Orlan – Russland baut Nachfolger des kaspischen Seemonsters"
- spiegel.de: "Angriff der fliegenden Seemonster"
- N24-Dokumentation: "Seamaster vs. Kaspisches Seemonster"