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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Holocaust-Überlebender und Nazi-Jäger "Auf meiner Liste stand ein Name ganz oben"
Josef Lewkowicz litt in deutschen Konzentrationslagern, nach Kriegsende wurde er zum Nazi-Jäger. Und konnte mit dem SS-Mann Amon Göth einen Massenmörder fassen.
Płaszów nahe Krakau ist einer der bekanntesten Orte des nationalsozialistischen Terrors, 1993 handelte Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste" von den dort begangenen Verbrechen. Josef Lewkowicz war einst Gefangener in Płaszów, erlebte die Grausamkeit des Lagerkommandanten Amon Göth aus nächster Nähe. Aber auch der Judenretter Oskar Schindler war Lewkowicz bekannt. Im Interview mit t-online berichtet der Holocaustüberlebende, was ihn durchhalten ließ. Und wie er nach Kriegsende für Gerechtigkeit sorgen wollte.
t-online: Herr Lewkowicz, Sie haben nicht nur das Konzentrationslager Płaszów überlebt, Sie konnten nach Kriegsende auch den für seine Grausamkeit gefürchteten Kommandanten Amon Göth festnehmen. Wie ist Ihnen das gelungen?
Josef Lewkowicz: Amon Göth war ein Sadist, das pure Böse. Er hinterließ Leichen, wo immer er hinging. Einmal musste ich ansehen, wie er einer Mutter in den Kopf schoss, während sie ihr Baby in den Armen hielt. Nach Kriegsende hatte ich dann das gleiche Ziel wie die siegreichen Amerikaner – wir wollten die SS-Verbrecher zur Verantwortung ziehen. Dazu gaben sie mir eine Liste, ein Motorrad und die Uniform eines Militärpolizisten. Auf meiner persönlichen Liste stand dann ein Name ganz oben.
Amon Göth.
Richtig. Es war nicht einfach, die SS-Verbrecher aufzuspüren. Sie logen uns die Hucke voll – schließlich wussten sie ganz genau, dass das, was sie getan hatten, Unrecht gewesen ist. Bisweilen hatten sie sich unter deutsche Kriegsgefangene gemischt, so wollten sie ihre wahre Identität verschleiern. Um herauszubekommen, wer bei der SS war, gab es allerdings ein einfaches Mittel.
Die Blutgruppe, die SS-Leuten eintätowiert worden ist?
Diese Tätowierung befand sich in der Regel am linken Arm. Also ließen wir Verdächtige einfach ihre Hemden ausziehen. Das war hilfreich, aber trotzdem war die Suche mühsam. In Dachau hatten die Alliierten nach Kriegsende Zigtausende Deutsche interniert, Leute, die im Verdacht standen, Verbrechen begangen zu haben. Sie können sich vorstellen, wie kompliziert die Sache gewesen ist: Denn wir waren auf der Suche nach den allerschlimmsten Mördern.
Josef Lewkowicz, 1926 in Działoszyce unweit Krakau geboren, überlebte sechs deutsche Konzentrationslager, darunter Płaszów, Auschwitz und Mauthausen. Nach Kriegsende suchte und fand Lewkowicz im amerikanischen Auftrag den SS-Hauptsturmführer Amon Göth, der als "Schlächter von Płaszów" den Tod Tausender Menschen zu verantworten hatte. Kürzlich ist sein Buch (mit Michael Calvin) "'Mein Überleben musste einen Sinn haben'. Der Holocaust-Überlebende, der zum Nazijäger wurde" erschienen.
Göth haben Sie in Dachau aufspüren können.
Da war ein wenig Glück im Spiel. Eines Tages habe ich einen Offizier der Wehrmacht befragt. Ob unter seinen Leuten jemand wäre, der ihm unbekannt sei, lautete meine Frage. Er zeigte auf einen Mann, der ein wenig weiter am Boden kauerte. Die Uniform war ihm zu klein, er sah erbärmlich aus – aber ich habe ihn sofort erkannt. Es war Amon Göth.
Wie war Ihre Reaktion?
Ich habe die Kontrolle verloren, trat und prügelte auf Göth ein. "Steh auf, du Sauhund!", schrie ich ihn an. "Du wirst dafür bezahlen!"
Hat er Sie aus Płaszów erkannt?
Ich glaube nicht. Später, als er in seiner Zelle war, habe ich noch auf ihn eingeredet. Auf Deutsch, das hatte ich in der Schule gelernt. Aber Göth sagte kein Wort. Mein Vorgesetzter machte mir dann Vorwürfe, dass ich einen Gefangenen angegriffen hatte. Aber wie gesagt, ich habe einfach die Beherrschung verloren.
Göth wurde später an Polen ausgeliefert, verurteilt und starb schließlich am 13. Juni 1946 am Strang. Ihre kürzlich erschienen Erinnerungen tragen den Titel "Mein Überleben musste einen Sinn haben". Hat Göths Verhaftung Ihnen diesen Sinn gegeben?
Ich konnte ein Ungeheuer der Gerechtigkeit überantworten. Also lautet meine Antwort: Ja! Göth verfolgt mich noch heute im Traum. Obwohl sie ihn im Krakauer Montelupich-Gefängnis gehängt haben, nicht weit von Płaszów entfernt, wo er gemordet hatte. Mir sagte einmal jemand, dass ich damals in dem Moment, in dem ich Göth in Dachau gefunden hatte, die Welt in meinen Händen gehalten hätte. Denn ich hätte ihn ohne Weiteres erschießen können. Aber ich kann keinen Menschen umbringen wie einen Hund. Denn in dem Fall wäre ich nicht besser als Göth.
Bevor Göth 1943 Kommandant des damaligen Arbeitslagers Płaszów wurde, leitete er die "Liquidierung" des Krakauer Ghettos. Bitte erzählen Sie, wie das Leben in der Stadt vor dem Einmarsch der Wehrmacht 1939 gewesen ist.
1934 ist meine Familie nach Kazimierz, das jüdische Viertel von Krakau, gezogen. Wir wohnten ganz nah der berühmten Remuh-Synagoge. Ich hatte damals ein schönes Leben mit meiner Familie, Vater, Mutter und den drei Brüdern. In der Talmud-Thora-Schule lernte ich Hebräisch und jüdische Geschichte, aber auch Latein und Arithmetik. Die Menschen dort waren damals glücklich und zufrieden. Aber das sollte sich ändern. Ich war damals noch zu jung, um alles zu begreifen, was in Deutschland vor sich ging. Aber beim Namen "Hitler" fing ich an zu zittern, so oft wie er genannt wurde. Am 1. September 1939 überfiel er dann Polen.
Die Wehrmacht eroberte Krakau nach wenigen Tagen.
Die Deutschen waren da, bevor die polnischen Soldaten ihre Uniformen überhaupt richtig angezogen hatten. Ich habe dann mit meinen Freunden beobachtet, wie die Wehrmacht in Krakau einmarschiert ist. Erst fragten wir uns noch, ob das die Ungeheuer seien, von denen wir so viel gehört hatten. Die Antwort folgte dann bald.
Was passierte?
Die Feinseligkeit nahm immer weiter zu. Zunächst wurden vor allem wir orthodoxen Juden zur Zielscheibe. Ich werde nie vergessen, wie vier Nazis einem alten Mann den Bart mit einem Feuerzeug versengten. Er schrie vor Schmerz, dann ließen sie ihn weinend liegen. Warum tun Menschen anderen so etwas an? Ich musste schließlich meine Schläfenlocken abschneiden, um nicht aufzufallen. Aber ab dem 1. Dezember 1939 war auch das vergeblich.
Weil die Deutschen alle Juden in Krakau seit diesem Datum zum Tragen des "Judensterns" verpflichteten.
Ja. Es wurde immer schlimmer, im Viertel herrschte Hunger. Damals wünschte ich mir, dass wir Tiere wären. Denn dann würde man uns besser behandeln. Die Nazis nahmen uns in den Würgegriff. Aus Verzweiflung sind wir heimlich dann aus Krakau in meinen Geburtsort Działoszyce zurückgekehrt. Durch falsche Papiere war es mir dann möglich, immer wieder Lebensmittel kaufen zu können. Ein Teil war für die Familie, einen anderen verkaufte ich – um wieder Geld für die nächsten Einkäufe zu haben.
Sie riskierten damals Ihr Leben.
Ich hatte immer Angst, aber was sollte ich tun? Von irgendetwas mussten wir leben. Es war eine schreckliche Zeit, Hunger und Seuchen, Zwangsarbeit und Angst beherrschten uns. Im September 1942 hieß es dann Abschied nehmen von Działoszyce, die Deutschen wollten den Ort "judenrein" machen. Es war schrecklich, ein erbarmungswürdiger Anblick: Männer, Frauen, Kinder, alle hatten angstverzerrte Gesichter. Was sollte mit uns geschehen? Dann ging es irgendwann los, Richtung Bahnhof. Nur die Alten und Kranken durften nicht mitgehen.
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Was geschah mit diesen Menschen?
Wir hörten das Feuer von Maschinengewehren, nach einiger Zeit. Die Leute wurden ermordet, dann in Massengräbern verscharrt. Es waren mehr als 1.000 Menschen. Aber das Morden war danach noch nicht vorbei. Wir anderen wurden zu einem Feld bei Miechów gebracht, wo bereits Tausende andere Juden warteten. Als besondere Grausamkeit hatten die Deutschen die Schleusen einer nahegelegenen Wassermühle geöffnet. So saßen wir frierend hüfthoch im Wasser, rühren durften wir uns nicht. Sie hätten uns sofort erschossen.
Wie lange dauerte diese Qual?
Bis zum nächsten Tag. Dann wurde es noch schlimmer. Wir mussten uns in Reihen aufstellen, gut 16.000 Menschen dürften es gewesen sein. SS-Leute dirigierten die Menschen dann mit ihren Reitpeitschen nach links oder rechts. Ich und mein Vater mussten nach links gehen. Meine Mutter, meine Brüder, Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel, sie alle mussten nach rechts. Es war ihr Todesurteil.
Ihre Familie wurde in das Vernichtungslager Belzec gebracht.
Ja. Wir hatten nicht einmal Zeit, Abschied zu nehmen. Kein Kuss, keine Umarmung. Tränen hatte ich aber keine mehr. Bis heute empfinde ich ein Gefühl der Schuld, fast der Scham, wenn ich zurückdenke. In meinen Träumen kann ich das Gesicht meiner Mutter und meiner Brüder nicht sehen, sie sind wie lebende Gespenster.
Zusammen mit Ihrem Vater mussten Sie dann das Arbeitslager Płaszów aufbauen, das später zum Konzentrationslager erklärt worden ist.
Die Nazis ließen selbst den Toten keine Ruhe. Płaszów wurde auf zwei jüdischen Friedhöfen errichtet, wir mussten die Gräber dem Erdboden gleichmachen. Meine Aufgabe bestand darin, die sterblichen Überreste in eine Schubkarre zu laden – Schädel, Zähne, Knochen, was auch immer. Die Grabsteine verwendete man dann zum Straßenbau. Es war furchtbar. Wir mussten im Laufschritt arbeiten, die Aufseher brüllten uns an und schwangen die Peitsche.
Sie wurden gezwungen, Ihr eigenes Gefängnis zu errichten.
So ist es. Ich fand eine gewisse Kraft in meinem Glauben an Gott. Zum Glück, denn niemand wusste, wie es weitergehen würde. In Płaszów gab es keine Gaskammern wie andernorts, dort wurde per Erschießen gemordet.
Vor allem als Amon Göth dort 1943 das Kommando übernahm.
Göth war besessen von seiner Macht über Leben und Tod. Gleich an seinem ersten Tag in Płaszów ließ er uns zum Appell antreten. Da stand er dann auf einer Kiste, mit seinem harten Gesicht, und sprach zu uns mit seiner rauen Stimme. Zur Demonstration seiner Macht brachte er gleich zwei jüdische Polizisten um. Vor unseren Augen.
Sie selbst wären ihm auch beinahe zum Opfer gefallen.
Göth tötete völlig wahllos. Manche Leute hatten ihm einfach in die Augen gesehen, andere waren seiner Meinung nach zu langsam gegangen. Oft mordete er mit seinem Gewehr vom Balkon seiner Villa. Und auch ich lernte seine Grausamkeit gut kennen. Wir waren mit Abbrucharbeiten beschäftigt, als Göth vorbeikam. Mein Kollege versteinerte geradezu, als er Göths Anwesenheit bemerkte – und ließ einen Stein fallen. Göth verpasste ihm einen Kopfschuss, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann rief er mich zu sich …
Sie haben seinen Zorn überlebt.
Ich erwachte später im Lagerhospital, ohne zu wissen, was passiert war. Dann klärte sich die Sache auf: Ein anderer Häftling, einer der besondere Aufgaben für die Deutschen versah, hatte mich bewusstlos geprügelt, bevor Göth mir etwas antun konnte. Dann hatte der Mann gesagt, dass ich ohnehin tot wäre und Göth die Kugel nicht verschwenden müsse. Das hat mir das Leben gerettet.
Mit Amon Göth haben Sie in Płaszów einen Mann kennengelernt, der bis heute für seine Taten verachtet wird. Sie haben mit dem Judenretter Oskar Schindler aber auch eine Person erlebt, die zum Symbol der Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten wurde. Der Film "Schindlers Liste" von 1993 über die Geschehnisse wurde zum Welterfolg.
Über Göth haben wir auch genug gesprochen. Oskar Schindler war uns Häftlingen in Płaszów ein ebenso vertrauter Anblick. Ich habe ihn nach Kriegsende wiedergesehen, er war damals einsam und ohne Geld. Er gab mir ein Foto von sich, seinem "lieben Freund Yosef Lewkowicz zum ewigen Angedenken" stand darauf. Ich habe es dann irgendwann der Gedenkstätte Yad Vashem geschenkt.
Was wollte Oskar Schindler von ihnen?
Schindler war ein Opportunist. Er hatte gehört, dass ich Göth erwischt hatte – und ihm war bewusst, dass ich die beiden in Płaszów immer wieder zusammen erlebt habe. Schindler wollte sichergehen, dass allen klar war, dass sein Verhalten damals nur Mittel zum Zweck gewesen sei.
Um nicht selbst von den Alliierten belangt zu werden.
Richtig. Ich habe Schindler versichert, dass ich für ihn bürgen würde. Warum auch nicht? Schindler hat niemanden erschossen von seinen Leuten, ihnen mehr Essen als anderswo gegeben. Gut, er war vielleicht kein ganz so guter Mensch, weil er gestohlen hat. Aber die Rettung so vieler jüdischer Leben war ohne jeden Zweifel eine gute Tat.
In Ihren Erinnerungen schreiben Sie, dass "Gott eine schöne Welt erschaffen" habe, die "von menschlicher Schwäche gefährdet" sei. Haben Sie die Hoffnung, dass die Menschheit aus ihren Fehlern noch lernen wird?
Ich bin mittlerweile fast 100 Jahre alt. In Europa herrscht wieder ein Krieg, in der Ukraine, die nicht weit von meiner alten Heimat entfernt ist. Auch die Bedrohung durch den Antisemitismus wächst. Aber eine Lehre sollten alle Menschen beherzigen: Das Leben ist kostbar. Jedes Leben. Ich wünsche allen kommenden Generationen jedenfalls nur das Beste!
Herr Lewkowicz, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Josef Lewkowicz via Videokonferenz