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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historiker Mark Jones "Den Deutschen ist etwas Außergewöhnliches gelungen"
Die Deutschen gelten als schlechte Revolutionäre, Ordnung sei ihnen lieber als Freiheit. Stimmt das? Nein, sagt der Historiker Mark Jones. Demokratische Revolutionen in Deutschland waren erfolgreicher als bisweilen erkannt.
Am 18. März 1848 ließ Preußens König seine Truppen auf Demonstranten in Berlin schießen, doch am Ende gewann die Revolution die Oberhand. Allerdings nur für kurze Zeit, 1849 bezwangen die Fürsten die Demokraten mit Gewalt. Die Märzrevolution von 1848 gilt ebenso wie die Novemberrevolution von 1918, die Deutschland dann die Demokratie gebracht hat, in den Augen der Nachwelt als weitgehend gescheitert.
Doch diese Sichtweise sei falsch, sagt der irische Historiker Mark Jones. Gerade das Krisenjahr 1923 mit Ruhrbesetzung, Hyperinflation und Hitler-Putsch habe bewiesen, zu welchen Leistungen die Demokratie in Deutschland imstande sei. Warum Deutschland stolzer auf seine Farben Schwarz-Rot-Gold sein sollte, das Wilhelminische Kaiserreich moderner war als gedacht und Adolf Hitler einst als "Witzfigur" gesehen wurde, erklärt Jones im Gespräch.
t-online: Professor Jones, wir Deutschen gelten als unfähig zur Revolution, würden gar erst eine Bahnsteigkarte kaufen, bevor wir den Bahnhof stürmen. Diese Aussage wird dem russischen Revolutionsführer Lenin nachgesagt. Ist da etwas dran?
Mark Jones: Das ist absoluter Unsinn – auch wenn diese Behauptung bis in die Gegenwart immer wieder aufgestellt wird. Die Revolutionen von 1848 und 1918 waren durchaus erfolgreich, die von 1989 in der Deutschen Demokratischen Republik erst recht. Immerhin brachte sie den Eisernen Vorhang endgültig zu Fall.
Die Deutsche Revolution ließen die Fürsten 1849 zusammenschießen, die durch die Novemberrevolution 1918 entstandene Republik von Weimar endete in der Diktatur Adolf Hitlers – hat die Entstehung des erwähnten Vorurteils damit zu tun?
Ja. Allerdings ist beiden Ereignissen historische Ungerechtigkeit widerfahren. Denn sowohl die Ereignisse der Märzrevolution von 1848 wie der Novemberrevolution von 1918 werden in der öffentlichen Diskussion nahezu ausschließlich von ihren tragischen Enden her betrachtet. Das greift aber zu kurz. Zudem werden diese beiden deutschen Revolutionen stets an zwei anderen Revolutionen gemessen, die als "erfolgreich" gelten.
Mark Jones, Jahrgang 1981, lehrt Geschichte am University College Dublin. Zuvor war der Historiker unter anderem Research Fellow an der Freien Universität Berlin. Jones ist Experte für die Geschichte der politischen Gewalt in Deutschland, 2017 erschien sein Standardwerk "Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik", im letzten Jahr sein neues Buch "1923. Ein deutsches Trauma".
Die Französische Revolution von 1789 und die Oktoberrevolution von 1917 in Russland, vermute ich.
Diese beiden Revolutionen gelten als die "großen" in der europäischen Moderne, mit ihnen wird jedes andere Ereignis verglichen – und als mehr oder weniger gescheitert bezeichnet. Dabei wird allerdings die Tatsache vergessen, dass diese zwei Revolutionen eher die Ausnahme als die Regel gewesen sind. Sowohl die Deutsche Revolution von 1848/49 als auch die Novemberrevolution von 1918 sind alles andere als gescheitert.
Fangen wir einmal mit 1848/49 an. Am 18. März 1848 kämpften die Bürger in Berlin gegen königliche Truppen, später trat in der Frankfurter Paulskirche ein gewähltes Parlament zusammen, das eine Verfassung ausarbeitete. 1849 war das demokratische Projekt allerdings beendet, die Fürsten herrschten wieder durch. Woran bemisst sich der Erfolg?
Die Revolution führte in der Tat kurzfristig nicht zum gewünschten Ergebnis, aber die Prozesse, die sie in Gang gesetzt hat, waren langfristig außerordentlich erfolgreich. Die Weimarer Republik von 1918/19 entstand ja nicht im luftleeren Raum, sondern fußte auch auf den Dynamiken, die im März 1848 und bereits davor begonnen hatten. Diese Tatsache ist oft vergessen worden, weil alle so auf den Reichsgründer Otto von Bismarck versessen waren. Dabei kann Deutschland mit Fug und Recht stolz auf seine demokratische Tradition sein, die lange zurückreicht. Und ebenso auf seine Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold.
Schwarz-Rot-Gold wird in Deutschland eher weniger gezeigt, außer bei Wettbewerben im Sport.
Diese Zurückhaltung ist angesichts des nationalistischen Wahns im Nationalsozialismus auch nachvollziehbar. Was soll aber falsch daran sein, Schwarz-Rot-Gold in aller Öffentlichkeit zu zeigen? Diese Nationalflagge stammt aus der Zeit der Deutschen Revolution von 1848/49 und ist durch und durch demokratisch. Wer zu Weimarer Zeiten Schwarz-Rot-Gold öffentlich zeigte, wollte demonstrieren, dass er Demokrat und Republikaner war.
In Ihrem Buch "1923. Ein deutsches Trauma" führen Sie ein Beispiel dafür an, wie riskant es sein konnte, sich zur Weimarer Republik zu bekennen.
Es war dramatisch: Demokraten bekamen wortwörtlich aufs Maul. Im Buch schildere ich ein Ereignis aus Bayern. Ein 16-jähriges Mädchen ging dort im November 1923 mit einem schwarz-rot-goldenen Bändchen an der Brust spazieren, ein junger Mann forderte sie auf, es abzunehmen. Als sie sich weigerte, schlug er auf sie ein.
Der Mann war ein sogenannter "Hakenkreuzler".
Genau, es handelte sich um einen Anhänger Adolfs Hitlers. Schockierend ist auch, dass niemand der jungen Frau zu Hilfe kam. Episoden wie diese verdeutlichen aber, wie stolz man auf Schwarz-Rot-Gold sein kann – immerhin zogen die Nationalsozialisten nach der Machtübernahme diese Farben schleunigst aus dem Verkehr. Kaum etwas war ihnen mehr verhasst. Ausgerechnet die sogenannten "Reichsbürger", die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugnen, haben verstanden, wofür Schwarz-Rot-Gold steht. Deswegen lehnen sie es auch ab.
Bleiben wir aber noch im 19. Jahrhundert. Durch mehrere Kriege, zuletzt 1870/71 gegen Frankreich, errichte Otto von Bismarck den deutschen Nationalstaat, der allerdings ein gewaltiges Demokratiedefizit aufwies. Bewahrheiteten sich die Worte des badischen Revolutionärs Friedrich Daniel Bassermann von 1848, dass den Deutschen die Ordnung doch lieber als die Freiheit wäre?
Zunächst einmal möchte ich betonen, dass den Deutschen etwas ganz Außergewöhnliches gelungen ist. Sie haben 1870/71 ihren Nationalstaat ohne größere Gewalt im Innern begründet. Das ist durchaus etwas Besonderes in diesem Zeitraum. In Italien übte der Norden während des Prozesses der Einigung der Halbinsel massive Gewalt im Süden des Landes aus, die Dritte Französische Republik ließ 1871 die Anhänger der sogenannten Pariser Kommune in der Hauptstadt massakrieren.
Nun hat sich das Bild des in der Vergangenheit oft kritisierten Deutschen Kaiserreichs in den letzten Jahren gewandelt.
Das Kaiserreich war ein Obrigkeitsstaat, allerdings herrschte keineswegs der so oft ins Feld geführte Stillstand gesellschaftlichen Lebens. Im Gegenteil, das Kaiserreich bot viel Platz für den Liberalismus. Nehmen wir den Bereich Sexualität, in dem der Mediziner und Sexualreformer Magnus Hirschfeld Wichtiges geleistet hat …
… 1919 sollte er in Berlin das Institut für Sexualforschung gründen.
Richtig! Aber Hirschfeld fing mit seiner Forschung nicht erst in der als liberal geltenden Weimarer Republik an, sondern schon im Kaiserreich. Dort waren unter dem Mantel der Wissenschaft solche Forschungen in einem als tabu geltenden Bereich wie der Sexualität ohne weiteres möglich. Bis heute gelten Länder wie die USA, Großbritannien oder Frankreich als Laboratorien der Moderne, aber auch im Kaiserreich war so vieles möglich. Es gab alternative Milieus, Protestbewegungen aller Art. Auch die Deutschen können überaus rebellisch sein.
1918 kam es dann erst zur Rebellion, schließlich zur Revolution, die das Land von der Monarchie zur Republik machte.
Und wieder ist die Tatsache auffällig, dass es sehr wenige Tote gab. Die wichtigste Nachricht in den Zeitungen vom 9. November 1918 war die Abdankung von Kaiser Wilhelm II. Danach kam aber gleich diese Meldung: Es wird nicht geschossen! Unter Betrachtung der Lage ist dies ganz außerordentlich: Eine militarisierte und radikalisierte Gesellschaft, in der so viele Waffen zur freien Verfügung stehen, bleibt weitgehend friedlich und leitet einen gewaltfreien Machtwechsel ein.
Stellt sich die Frage nach dem Warum.
Die Deutschen hatten eine gewaltige Angst vor Verhältnissen wie in Russland, wo zeitgleich mit äußerster Brutalität ein Bürgerkrieg ausgetragen wurde. Es herrschte stattdessen – auch nach den Entbehrungen des Ersten Weltkriegs – der Wille vor, einen neuen Staat ohne Gewalt zu begründen.
Zu dieser sollte es allerdings schnell und mehr als einmal in der Folgezeit kommen, wie Sie in Ihrem früheren Buch "Am Anfang war Gewalt" eindrücklich beschreiben.
Richtig. Im Buch gehe ich den Ursachen dieser Gewaltausbrüche nach. Wo immer es dazu kam, reagierte die Regierung, die die gerade erst gegründete Republik mit allen Mitteln schützen wollte, ebenfalls mit härtesten Maßnahmen. Warum? Sie schickte eine klare Botschaft: Und zwar, dass sie über derart umfangreiche Gewaltmittel verfüge, dass jede Gegenwehr zwecklos wäre. Zudem war die Angst vor russischen Zuständen gewaltig.
Nicht zuletzt standen die Machtverhältnisse zunächst zugunsten der Demokraten, 1923 hatte sich dies bereits geändert.
1923 waren die Gegner der Republik – Nationalisten, Antisemiten und Monarchisten – wieder stark geworden. Stärker, als sie sich das 1918 wohl selbst hätten träumen lassen. Franzosen und Belgier hatten das Ruhrgebiet besetzt zur Durchsetzung ihrer Reparationsforderungen, die Inflation galoppierte, Menschen verhungerten, und im November putschte der Emporkömmling Adolf Hitler in München. Aber was geschah? Die Republik bewältigte die Krise. Das ist meiner Meinung nach eine der größten Leistungen der Demokraten in der deutschen Geschichte.
Nun werden angesichts der zahlreichen Krisen der letzten Jahre und Jahrzehnte in Deutschland immer wieder Vergleich zur Weimarer Republik bemüht. Ist die gegenwärtige deutsche Demokratie stabil?
Die Geschichte der Weimarer Republik wiederholt sich weder in den USA noch in Großbritannien, Deutschland oder sonst wo. Aber wir nähern uns "Weimarer Zuständen" mehr als jemals zuvor. Das Internet ist der Bierkeller der Gegenwart. Dort kann eine Unwahrheit schnell zur angeblichen "Wahrheit" werden. Genauso wie es zu allen Zeiten Anhänger der Demokratie gibt, existieren auch ihre Feinde fortwährend. Über die "Reichsbürger" haben wir bereits gesprochen. Das Jahr 1923 und seine dramatischen Ereignisse sollten eine viele größere Bedeutung in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland genießen. Sich nicht an 1923 zu erinnern, weil es 1933 gegeben hat, wäre ein großer Fehler. Wichtig wäre es doch, zu verstehen, warum die Demokraten 1923 siegreich gewesen sind – und warum sie 1933 unterlagen. Und nicht zuletzt, wie uns diese Lehren von damals heute inspirieren können.
Ja, warum unterlagen sie 1933?
Die Demokraten waren 1933 erschöpft vom ständigen Abwehrkampf gegen Rechte und Linke, es fehlte auch an den jungen Hitzköpfen, die zur Verteidigung der Republik bereitgestanden hätten.
Adolf Hitler betrieb seine Pläne zur Erringung der Macht hingehen umso energischer.
Viele haben ihn unterschätzt. Dabei waren auch schon vor der späteren Abfassung seiner Hassschrift "Mein Kampf" viele Abscheulichkeiten bekannt. Die Nazis hatten bereits Todeslisten vorbereitet, für den Fall, dass ihr Putsch vom 9. November 1923 erfolgreich gewesen wäre. Sie fantasierten auch davon, 50.000 Juden zu ermorden – und so schnell wie möglich wieder gegen Frankreich Krieg zu führen
Auch aufgrund von Hitlers Dilettantismus brach sein Putschversuch aber schnell zusammen.
Gerade einmal 24 Stunden sollte er dauern, Hitler konnte nicht mal einen Bierkeller unter Kontrolle halten. Damals betrachteten die Zeitgenossen den "Führer" als absolute Witzfigur. Die Demokraten glaubten damals, dass sie nie wieder etwas von ihm hören würden.
Was sich als gewaltiger Irrtum herausstellen sollte.
In der Tat. Nun wird die bundesdeutsche Erinnerung derart stark vom Hitlerputsch am 9. November 1923 dominiert, was ich für bedenklich halte. Den Menschen müsste viel deutlicher vor Augen geführt werden, dass der 9. November 1923 seine Bedeutung durch die Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 erhielt. Nur so können beide Ereignisse richtig gewichtet werden.
Eine öffentliche Debatte darüber findet in Deutschland aber kaum statt.
Das ist bedauerlich, denn man muss vor einem solchen Jahrestag darüber nachdenken, nicht erst, wenn er da ist. Derartige Fragen betreffen doch alle Europäerinnen und Europäer, gerade in Zeiten, in denen wieder ein Staat rücksichtslos und unter Missachtung aller Regeln einen anderen bekriegt. Wir müssen die Ursachen von Gewalt und die Wege ihrer Eindämmung verstehen. Und nicht zuletzt müssen Demokratien Stärke zeigen, denn dies ist die einzige Sprache, die die Antidemokraten verstehen.
Professor Jones, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Mark Jones via Videokonferenz