Mindestens 1.000 Tote Erdbeben in Afghanistan: Bergige Region erschwert Rettungsarbeiten
Ein Erdbeben hat die ostafghanische Provinz Paktika schwer getroffen: Die Einsatzkräfte gehen von mindestens 1.000 Toten und noch mehr Verletzten aus.
Nach dem verheerenden Erdbeben in der afghanisch-pakistanischen Grenzregion dauern die Rettungsarbeiten an. Mindestens 1.000 Tote und 1.500 Verletzte beklagten die Behörden, wie die staatliche Nachrichtenagentur Bakhtar am Mittwoch meldete. UN-Schätzungen zufolge wurden etwa 2.000 Häuser zerstört. Besonders betroffen sind die Provinzen Paktika und Chost. In den Unglücksgebieten gruben Helfer unterdessen Massengräber aus. Das gewaltige Beben hatte zahlreiche Bewohner am frühen Mittwochmorgen aufgeschreckt.
Fotos in den Online-Netzwerken zeigen eingestürzte Häuser in den Straßen eines Dorfes. In Videos ist zudem zu sehen, wie Bewohner betroffener Gebiete Verletzte zu einem Helikopter bringen.
Bergige Region erschwert Rettungsarbeiten
Der Katastrophenschutz befürchtet unterdessen eine noch höhere Opferzahl. Die Rettungsarbeiten wurden durch den schwierigen Zugang zur abgelegenen Bergregion behindert. Die militant-islamistischen Taliban, die seit August 2021 wieder in Afghanistan herrschen, sprachen den Opfern ihr Mitgefühl und Beileid aus und riefen eine Notsitzung des Kabinetts zusammen. Sie baten Hilfsorganisationen um sofortige Unterstützung, "um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern".
Mehrere Hubschrauber wurden in die Unglücksregion geschickt, um den Menschen vor Ort zu helfen. Örtliche Einsatzkräfte versuchten laut der Katastrophenschutzbehörde, sich einen Zugang zu der abgelegenen Region zu verschaffen.
Mehrere Hilfsorganisationen sicherten dem Land unterdessen Unterstützung zu. "Es wird erwartet, dass die Zahl der Opfer noch steigen wird, da die Such- und Rettungsmaßnahmen noch andauern", teilte das UN-Nothilfebüro (OCHA) mit. UN-Generalsekretär António Guterres sprach den Opfern sein Beileid aus.
"Das Erdbeben in Afghanistan erschüttert ein Land, in dem rund 20 Millionen Menschen nicht mehr wissen, wie sich ernähren sollen", sagte der Welthungerhilfe-Landesdirektor in Kabul, Thomas ten Boer. "Die lokalen Behörden haben bereits signalisiert, dass Hilfe von außen willkommen sei. Das zeigt, dass aus eigener Kraft die Katastrophe, deren Ausmaß noch nicht genau bekannt ist, kaum zu bewältigen ist", so ten Boer.
Nach Angaben von OCHA wurden bis zu 1.800 Häuser in den betroffenen Provinzen zerstört. Die Bauweise in der armen und wirtschaftlich schwachen Region ist aus Kostengründen nicht erdbebensicher. Da die durchschnittliche afghanische Familie sieben bis acht Mitglieder habe und oftmals mehrere Familien unter einem Dach lebten, seien vermutlich sehr viele Menschen obdachlos geworden.
"Das Grauen ist groß"
Ein Augenzeuge berichtete der Nachrichtenagentur dpa von der Zerstörung in den betroffenen Gebieten. "Überall herrscht ein großes Chaos. Ich habe in einer Stunde hundert Leichen gezählt", sagte der Journalist Rahim Chan Chushal. "Das Grauen ist groß. Die Eltern können ihre Kinder nicht finden und die Kinder ihre Eltern nicht. Jeder fragt sich, wer tot ist und wer lebt. Die Häuser sind aus Lehm, und deshalb wurden sie alle durch die starke Erschütterung zerstört."
Ein Regierungssprecher schrieb auf Twitter: "Wir rufen die Hilfsorganisationen auf, den Opfern des Erdbebens sofortige Hilfe zu leisten, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern." Bereits am Mittwoch trafen Helfer des Roten Halbmonds ein.
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Erschütterungen in weiten Teilen Pakistans zu spüren
Die Angaben regionaler Erdbebenwarten zur Stärke schwankten zunächst. Pakistanische Behörden gaben am späten Dienstagabend (Ortszeit) eine Stärke des Bebens von 6,1 an. Nach Angaben der US-Erdbebenwarte USGS hatte es eine Stärke von 5,9 und ereignete sich gegen 1.30 Uhr Ortszeit. Das Zentrum des Bebens befand sich der Behörde zufolge rund 50 Kilometer südwestlich der Stadt Chost nahe der Grenze zu Pakistan in rund zehn Kilometern Tiefe.
Ein zweites Beben der Stärke 4,5 erfolgte laut USGS fast am selben Ort zur selben Zeit. Die Erschütterungen waren bis in die rund 200 Kilometer entfernte Hauptstadt Kabul sowie im 480 Kilometer entfernten Lahore in Pakistan zu spüren. Mancherorts brach Panik aus, über Schäden oder Verletzte in Pakistan war nach ersten Angaben jedoch nichts bekannt.
"Tief betrübt"
Papst Franziskus hat für die Opfer des verheerenden Bebens in Afghanistan gebetet. "Ich drücke den Verletzten und denen, die vom Erdbeben betroffen sind, meine Nähe aus", sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche am Mittwoch am Ende der Generalaudienz vor Gläubigen und Besuchern auf dem Petersplatz in Rom. Er bete besonders für diejenigen, die ihr Leben verloren hätten, und für deren Familienangehörige, erklärte der 85-Jährige.
Die Bundesregierung sprach "dem afghanischen Volk ihr tiefes Mitgefühl aus". "Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Opfer und bei den vielen Verletzten", Regierungssprecher Steffen Hebestreit im Onlinedienst Twitter. Er bekräftigte, dass die Bundesregierung die Taliban weiter nicht anerkenne. Es gehe darum, schnell Hilfe zu leisten, dazu werde Deutschland im Rahmen der humanitären Hilfe beitragen.
US-Präsident Joe Biden sei angesichts des Bebens "tief betroffen", erklärte der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan. Biden habe USAID und andere Partner der Regierungsbehörden angewiesen zu prüfen, wie den am stärksten Betroffenen geholfen werden könne.
Pakistans Regierungschef Shehbaz Sharif erklärte, er sei "tief betrübt" über die Katastrophe.
Erdbeben sind in Afghanistan keine Seltenheit
Der Sondergesandte der Europäischen Union für Afghanistan, Tomas Niklasson, twitterte, die EU stehe "bereit, Nothilfe zu koordinieren und zu liefern". Die UNO schickte nach eigenen Angaben mehrere Teams in die betroffenen Gebiete. Papst Franziskus sagte in Rom, er bete für die Erdbebenopfer und sei in Gedanken bei "den Verletzten und den anderen Betroffenen".
Erdbeben sind in Afghanistan und vor allem in der Bergkette Hindukusch keine Seltenheit. Wegen der mangelhaften Bausubstanz vieler afghanischer Häuser sind die Schäden oft verheerend. Hilfsorganisationen mahnen seit längerem an, dass das Land bessere Vorkehrungen für Katastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen und Erdrutsche treffen müsse. 1998 erschütterte ein Beben den Norden Afghanistans, mehrere Tausend Menschen starben. In Pakistan starben 2005 bei einem gewaltigen Erdbeben mehr als 75.000 Menschen, über 3,5 Millionen Menschen wurden obdachlos.
Hinzu kommt, dass die humanitäre Lage in Afghanistan infolge des Abzugs der westlichen Truppen und der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ohnehin katastrophal ist. Es fehlt etwa an Lebensmitteln und Medikamenten.
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP
- BBC: "Afghanistan earthquake: At least 250 killed and scores wounded in Paktika province" (englisch)