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Erdbeben in Türkei und Syrien | Experte hält 20.000 Tote für realistisch


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Darum traf es die Türkei
"20.000 Tote könnten realistisch sein"

  • Lars Wienand
InterviewVon Lars Wienand

Aktualisiert am 06.02.2023Lesedauer: 4 Min.
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Unglaubliche Zerstörung: Drohnenaufnahmen zeigen, was die Erdbeben in der Türkei angerichtet haben. (Quelle: t-online)

Bei den katastrophalen Erdbeben in der Türkei und Syrien waren Spannungen Auslöser, die sich über Hunderte Jahre aufgebaut hatten. Ein Erdbebenexperte sieht die Gefahr noch nicht gebannt.

Zwei tödliche Beben haben die Türkei und Syrien erschüttert. Angesichts der Umstände war sofort klar, dass die Katastrophe wohl Tausende Menschenleben kostet, sagt Jens Skapski, Betreiber der privaten Internetseite erdbebennews.de. Skapski hat in Aachen und Bochum Geowissenschaften, Seismotektonik und Georisiken studiert. Er erklärt, wie sich mit dem ersten Beben eine Spannung gelöst hat, die sich über Jahrhunderte aufgebaut hatte und wie damit ein Dominoeffekt ausgelöst wurde.

t-online: Herr Skapski, was hat diese Erdbeben so gefährlich gemacht?

Jens Skapski: Da kommen mehrere fatale Aspekte zusammen. Das erste Beben hat sich nachts ereignet, wenn die meisten Menschen schlafen und nicht schnell aus möglicherweise einstürzenden Häusern kommen. Dazu war dieses Beben in einer Region mit hoher Bevölkerungsdichte. Das war bei dem zweiten starken Beben anders. Vor allem haben sich beide Beben aber mit extremer Intensität in geringer Tiefe ereignet mit einem Bruch bis an die Oberfläche. Beim ersten Beben kommt noch hinzu, dass der Bruch 300 Kilometer lang ist, es hat sich also sehr breit ausgedehnt. Und es hat lange gedauert, mehrere Minuten lang hat die Erde sehr stark gebebt.

Nach dem ersten sehr starken Erdbeben in der Nacht gab es um etwa 11.30 Uhr ein zweites ähnlich starkes. Wie hängen die zusammen?

Wir reden hier von einem Beben an einer anderen Störung, der Cardak-Störung. Die bildet einen Abzweig der Ostanatolischen Störung, wo sich das erste schwere Beben ereignet hat. Zwei so starke Beben in so kurzer Zeit sind aber kein Zufall, das erste Beben hat das zweite an der anderen Störungszone mit Sicherheit getriggert. Das ist auch eine Gefahr, es kann noch weitergehen: Wir haben an einer weiteren Störung, der Malatya-Störung, die sehr lange ruhig war, jetzt schon ein Beben der Stärke 5,8 gesehen. Und südlich haben wir die Tote-Meer-Störung, an der es seit Jahrhunderten kein großes Beben gab. Die Wahrscheinlichkeit, dass noch weitere große Beben folgen, ist in nächster Zeit deutlich höher.

Wie kommt es da zu solchen Beben?

Dort, wo es jetzt die katastrophalen Beben gab, verlaufen die Arabische und die Anatolische Platte in entgegengesetzte Richtungen: Die Arabische Platte bewegt sich mit etwa 15 Millimetern im Jahr Richtung Nordosten und die Anatolische Platte schiebt sich mit 20 Millimetern pro Jahr in entgegengesetzter Richtung. An den Rändern waren sie aber verhakt. Das führte dort zum Aufbau von Spannung, die sich seit Jahrhunderten nicht richtig abgebaut hat. Das letzte große Beben an dieser Stelle gab es 1544. Und wenn dann die Spannung sich ruckartig löst, kann das auch an anderer Stelle einen Dominoeffekt haben.

Das letzte große Beben war dort 1544, sagen Sie? Aber es kommt dort doch immer wieder zu schweren Erdbeben.

Den Eindruck hat man aus der Ferne. Die Beben jetzt waren die stärksten aufgezeichneten seit 1943, aber das 1943er-Beben war an anderer Stelle. Das ereignete sich an der Nordanatolischen Störung mit der Stärke 7,9. An der Ostanatolischen Störung hatte das aber zu keiner Entlastung geführt. Wir sind da wieder bei dem Punkt, dass es in der Region mehrere große Störungen gibt. Beben ereignen sich deshalb sehr häufig. Wir können das anhand von Jahrtausenden an Aufzeichnungen katastrophaler Erdbeben sehr genau zurückverfolgen.

Wie das?

Gerade die Region zwischen Aleppo und der historischen Stadt Antioch (heute: Antakya) beheimatete einer der frühesten Hochkulturen, ein Beben von 494 vor Christus ist gut belegt. Es gibt diverse Berichte über Beben mit hohen fünfstelligen bis siebenstelligen Opferzahlen.

Siebenstellig?

Nach einem Beben mit Zentrum bei Damaskus im Jahr 1202 ist in arabischen Quellen von 1,1 Millionen Toten die Rede. Da spielen allerdings auch Hungersnöte und Epidemien nach dem Beben hinein. Das Beben hatte sich auch in der Nacht in einer der zur damaligen Zeit am dichtesten besiedelten Regionen der Welt ereignet.

Die Region sollte also eigentlich sehr vertraut sein mit Erdbeben. Kurdische Vertreter werfen der türkischen Regierung schon vor, zu wenig Vorsorge betrieben zu haben? Erdogans Kabinett treffe eine Teilschuld, weil nach Erdbeben nur "kosmetische Initiativen" ergriffen würden.

Ich bin dafür zu wenig mit der türkischen Politik vertraut. In vergangenen 20 Jahren hat sich dort wohl manches getan, wo es seither Beben gegeben hatte. Im Süden der Türkei, wo es lange ruhig war und jetzt in der Nacht das schwere Beben gab, lag der Fokus aber wohl nicht so auf dem Thema. Und in Syrien als Bürgerkriegsland gibt es vielerorts ganz andere Probleme als erdbebensicheres Bauen.

Wann wird man die genauen Opferzahlen der aktuellen Beben kennen?

Es werden leider wohl noch sehr viele Tote geborgen werden, auch Menschen, die jetzt noch am Leben sind. Die Kälte dort verringert die Überlebenschancen unter Trümmern. Mit jeder Stunde wird es unwahrscheinlicher, Überlebende zu finden, nach drei Tagen gibt es hier fast keine Hoffnung mehr. Deshalb ist sehr schnelle internationale Hilfe auch so wichtig bei der Suche. Die Opferzahlen in den ersten Stunden schnellen bei solchen Ereignissen in der Regel leider danach oft um den Faktor X nach oben. Bei einem Beben dieser Intensität in dieser Region war Fachleuten eigentlich fast von Anfang an klar, dass es mehrere Tausend Opfer geben wird.

Eine Zahl von 20.000 Toten könnte am Ende realistisch sein. Zu diesem Wert gelangen Berechnungen mit Risklayer, einem Modell zur Schadensanalyse, das die Intensität, die Bodenbeschaffenheit, Bevölkerungsdichte und Erfahrungen früherer Beben berücksichtigt. Nach dem ersten Beben in der Nacht lag die Schätzung bei 12.000, durch das zweite Beben ist die Zahl noch einmal entsprechend gestiegen.

Danke für das Gespräch.

Verwendete Quellen
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