Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Angriffe auf Journalisten "Die Gewalt hat eine noch nie dagewesene Dimension erreicht"
Nach dem Anschlag auf Peter de Vries ist auch die deutsche Medienlandschaft erschüttert.
Der brutale Anschlag auf den niederländischen Journalisten Peter de Vries sorgt weltweit für Entsetzen. Ein Einzelfall? Wer sich mit der tödlichen Gefahr für Journalisten in den vergangenen Jahren befasst, findet weitere erschreckende Beispiele, auch in Europa:
Im April wurde der Grieche Giorgos Karaivaz in Athen getötet. Sieben Mal schossen zwei Täter auf den Reporter.
2018 wurden in der Slowakei der Reporter Ján Kuciak und dessen Verlobte in ihrem Haus erschossen.
Ein Jahr zuvor kam auf Malta die Journalistin Daphne Caruana Galizia durch eine Autobombe ums Leben.
"Die Situation in Europa ist noch gut, aber nicht mehr in jedem Land und zu jeder Zeit", sagt Christopher Resch von Reporter ohne Grenzen zu t-online. Abseits von Kriegs- und Krisengebieten sei die Gefahr auch weniger von den Ländern, sondern eher von den Themen abhängig: "Korruption und organisierte Kriminalität ist weltweit das gefährlichste Themenfeld." In den genannten vier Fällen hatten alle Journalisten dazu recherchiert. Deshalb hält Resch auch ähnliche Anschläge in Deutschland für denkbar: "Auch deutsche Journalisten begeben sich bei diesen Themen in Gefahr."
Besorgniserregende Entwicklung
Grundsätzlich ist die Medienarbeit in Deutschland in den seltensten Fällen lebensgefährlich. Allerdings zeigen Statistiken auch hierzulande eine besorgniserregende Entwicklung. "Gewalt gegen Medienschaffende in Deutschland hat eine noch nie dagewesene Dimension erreicht", heißt es etwa in dem jüngsten Jahresbericht von Reporter ohne Grenzen.
2020 registrierte die Organisation 65 gewalttätige Angriffe auf Journalisten. Verglichen mit dem Vorjahr hat sich die Zahl verfünffacht. Zudem geht sie von einer hohen Dunkelziffer aus. Selbst im Jahr 2015, in der Hochphase der Pegida-Bewegung, die Medien häufig als "Lügenpresse" verunglimpfte, lag die Zahl mit 39 Vorfällen nur etwa halb so hoch.
Corona-Demonstrationen als Gefahrenquelle
Bei einer weiter gefassten Definition von Angriff fällt die Zahl noch erheblich höher aus: Aus einer Anfrage der Grünen im Bundestag ging im Januar hervor, dass 2020 insgesamt mehr als 250 Strafdelikte gegen Vertreter der Medien registriert wurden.
Ein Großteil der Zwischenfälle wird dabei auf Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen verzeichnet. "Die Corona-Demos haben das Klima gegen die Medien befeuert", sagt Resch. Wer zu den Protesten recherchiert, findet im Internet etliche Vorfälle, bei denen Journalisten nicht nur verbal, sondern auch körperlich angegriffen wurden. Auf einer Demonstration der sogenannten "Querdenker"-Bewegung wurden etwa Anfang April laut Deutschem Journalisten-Verband mehrere Reporter mit Steinen attackiert.
Als Konsequenz berichten inzwischen viele Medien von den Demonstrationen nur noch mit Unterstützung privater Sicherheitsdienste. Denn von der Politik habe es bisher wenig Hilfe gegeben. "Beim Schutz von Journalisten sehe ich wenig Bewegung vom Innenministerium", kritisiert Resch.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Noch zu Beginn des Jahres sprach die Bundesregierung davon, dass bei konkreten Zwischenfällen die Polizeien der Länder zuständig seien. "Damit ignoriert die Bundesregierung de facto die Studien und Erhebungen zur Gewalt an Medienschaffenden und lässt die Medienfeindlichkeit weiter wachsen", sagte die medienpolitische Sprecherin der Grünen, Margit Stumpp, t-online.
Allerdings scheint inzwischen ein Umdenken stattgefunden zu haben. Im April sprach ein Sprecher des Bundesinnenministeriums von Nachholbedarf. Man müsse den Schutz der freien Berichterstattung bei den Demonstrationen noch stärker in den Blick nehmen.
"Geredet wurde viel"
Seitdem habe sich aber nichts getan, bemängelt die FDP. "Geredet wurde viel, aber tatsächliche Verbesserungen zugunsten der Medienschaffenden sind nicht eingetreten", sagte der medienpolitische Sprecher, Thomas Hacker. Er schlägt vor, den Umgang mit Journalisten in der Ausbildung von Polizisten stärker in den Fokus zu nehmen. Auch könne man strafrechtlich nachschärfen: "Gewalt gegen Medienschaffende darf kein Kavaliersdelikt sein."
Die zuständige Politikerin der Linken, Doris Achelwilm, bringt Schwerpunktstaatsanwaltschaften ins Spiel. Zudem müsse der Staat die Übergriffe genauer erfassen. "Es gibt keine systematische Berichterstattung der Bundesregierung über die Entwicklung der Pressefreiheit, obwohl es dafür längst an der Zeit wäre", sagte Achelwilm t-online.
Auch deshalb ist Deutschland in der internationalen Rangliste der Pressefreiheit von Rang 11 auf 13 abgerutscht. Insgesamt wird die Situation als "zufriedenstellend" und damit nur noch in der zweithöchsten Kategorie bewertet. Der Anschlag auf Peter de Vries zeigt allerdings, wie weit Statistik und Realität auseinanderliegen können: In der Rangliste liegen die Niederlande vor Deutschland auf Platz sechs. Die Pressefreiheit wird dort mit der Bestnote "gut" bewertet.
- Eigene Recherche
- Interview mit Christopher Resch am 8.7.2021
- Deutscher Journalisten-Verband: "Was tut die Polizei?"
- Bundestag: "Antwort der Bundesregierung: Polizeiliche Aufgaben und Pressefreiheit im Spannungsfeld"
- Reporter ohne Grenzen: "Nahaufnahme Deutschland"