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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Dramatische Fälle 2021 Tödliche Gewalt unter Jugendlichen – eine Folge des Lockdowns?
Fälle von extremer Jugendgewalt haben in diesem Jahr in Europa für Aufsehen gesorgt. Sind sie Ausdruck einer beunruhigenden Entwicklung? Experten ordnen die Geschehnisse ein.
Es ist Sonntag, der 3. Januar 2021. Kurz vor 16 Uhr nachmittags wird die Polizei im südenglischen Reading in einen belebten Park gerufen. Augenzeugen haben einen Messerangriff gemeldet. Vor Ort finden die Beamten einen am Boden liegenden Jungen vor. Passanten umringen ihn und versuchen, ihm mit Herzdruckmassage das Leben zu retten. Doch auch die eintreffenden Sanitäter können nicht mehr helfen. Der 13-jährige Oliver Stephens, genannt Olly, erliegt noch am Tatort seinen schweren Verletzungen.
Die Anklage geht davon aus, dass Olly mit der Absicht in den Park gelockt wurde, ihn umzubringen. Die Identität der drei mutmaßlichen Täter, die nur Stunden nach dem Angriff festgenommen wurden und seither in Untersuchungshaft sitzen, ist der Öffentlichkeit nicht bekannt. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes. Denn sie sind kaum älter als das Opfer, 14 Jahre alt, Kinder noch. Zwei Jungen und ein Mädchen.
Dass Menschen in so jungen Jahren zu derartigen Verbrechen in der Lage sein sollen, löst Entsetzen aus und wirft Fragen auf nach dem Warum. Häufig schließen sich solchen Taten – vor allem dann, wenn es eine gefühlte Häufung gibt – Debatten an über eine vermeintliche Verrohung der Jugend, werden Maßnahmen diskutiert, die von besserer Betreuung bis zu härteren Strafen reichen. Seit dem Frühjahr 2020 kommt aber noch ein weiterer Aspekt hinzu: die Ausnahmesituation der Pandemie. Haben die mit ihr einhergehenden dramatischen Einschränkungen im Öffentlichen wie Privaten Einfluss auf das Konfliktverhalten von Kindern und Jugendlichen?
Kämpfe mit Messern und Baseballschlägern
Tatsächlich ist das, was in Reading Anfang Januar geschah, kein Einzelfall geblieben. Sinsheim, Ende Februar: Ein 13-jähriger Junge wird auf einem Feldstück in den Weinbergen am Rand des Ortsteils Eschelbach erstochen. Tatverdächtig ist ein 14-Jähriger, er wird am Tatort mit einem Küchenmesser in der Hand festgenommen. Der Junge bestreitet die Tat. Derzeit sitzt er in Untersuchungshaft.
Eine ganze Reihe von Verbrechen, bei denen Jugendliche, teils noch Kinder, Gleichaltrige getötet haben sollen, erschüttert in diesem Jahr Frankreich. Ende Februar, Saint-Chéron im Süden von Paris: Bei einer Schlägerei stirbt ein 14-jähriges Mädchen. Sechs Tatverdächtige zwischen 13 und 16 Jahren werden festgenommen. Einen Tag später wird im etwa 40 Kilometer entfernten Boussy-Saint-Antoine ein 13-Jähriger bei einer Massenschlägerei getötet, ein 14-Jähriger wird schwer verletzt. Etwa 50 Jugendliche waren mit Messern und Baseballschlägern aufeinander losgegangen.
Mitte März wird in einem Pariser Vorort eine 14-Jährige verprügelt und in den Fluss Seine geworfen, wo sie ertrinkt. Die Polizei verdächtigt ein 15-jähriges Mädchen und einen gleichaltrigen Jungen. Zuletzt sorgte der Tod der 17-jährigen Marjorie Mitte Mai für Entsetzen. Es heißt, das Mädchen habe ihre Schwester gegen Mobbing im Netz verteidigen wollen, als mutmaßlich ein 14-Jähriger mit einem Messer zustach.
Die Zahlen gehen zurück. Aber sagt das schon alles?
Ob das, was da in den Pariser Vororten, in Reading und in Sinsheim passiert ist, eine Häufung entsetzlicher Einzelfälle war oder tatsächlich Abbild eines Trends, lässt sich nicht so einfach sagen. Statistisch betrachtet geht die Jugendkriminalität überall in Westeuropa zurück, und das seit Jahren. Aber ist damit schon alles gesagt? Erfassen die Polizeizahlen das ganze Bild? Hat sich womöglich auch unser Verhältnis zu jugendlicher Gewalt verändert? Denn demografische Entwicklung und Alterung der Gesellschaft, veränderter Medienkonsum und wachsende Sensibilität für das Thema sind Faktoren, die es zu beachten gilt.
Der Kurzbericht zur Polizeilichen Kriminalitätsstatistik für das Jahr 2020, der im April den Innenministern der Länder vorgelegt wurde, weist für das vergangene Jahr einen Rückgang der Gewaltkriminalität um etwa 2,4 Prozent nach. Gefährliche und schwere Körperverletzung sowie Mord und Totschlag gingen in ähnlicher Größenordnung zurück. Deutlicher war das Minus bei Raubdelikten und Diebstahl. Die Zahl der Tatverdächtigen nahm um rund 2,5 Prozent ab. Noch deutlicher war der Rückgang bei den Tatverdächtigen im Kinder- und Jugendalter: minus 14 bzw. minus acht Prozent.
Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Martin Rettenberger ist Psychologe und Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden. Er beobachtet bei der jugendlichen Gewaltkriminalität zwei Trends. "Da ist zum einen der längerfristige: Seit zehn bis 20 Jahren gehen Gewaltdelikte bei Jugendlichen kontinuierlich zurück. Und dann ist da der kurzfristige: Wir sehen durch die Corona-Krise deutliche Auswirkungen. Die Beschränkungen der vergangenen knapp eineinhalb Jahre führten zunächst zu einer Abnahme der Kriminalität, da die entsprechenden Tatgelegenheiten abnahmen. Aber: Delinquentes Verhalten hat sich in dieser Zeit bei einigen Jugendlichen verlagert, hin zu Cyberkriminalität und Cybermobbing etwa."
Hinzu kommt laut Rettenberger noch ein anderes Phänomen, das in den ersten Monaten der Pandemie und auch jetzt wieder für Schlagzeilen sorgt: Entladungen von aufgestauter Aggressivität in derzeit stark reglementierten öffentlichen Räumen. Der Psychologe nennt das Beispiel der Krawalle in Stuttgart im Juni 2020, wo sich die Aggressivität der Jugendlichen gegen die Polizei richtete. Zuletzt unter anderem in Hamburg, wo Feiern mit Hunderten, teils Tausenden Jugendlichen in Parks mitunter in Gewalt gegen Einsatzkräfte umschlugen.
Licht ins Dunkel bringen
Dass die offiziellen Statistiken das Kriminalitätsgeschehen nur in Teilen ausleuchten, ist nichts Neues. In den polizeilichen Berichten landet schließlich nur das, was erfasst und angezeigt wird. Man spricht dann vom sogenannten Hellfeld. Doch je nach Delikt stimmt das Hellfeld mal mehr, mal weniger mit der Realität überein. Was zum Teil an erheblichen Unterschieden im Anzeigeverhalten liegt, wie die Politikwissenschaftlerin Yvonne Krieg erläutert, die für das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) den Bereich der Jugendkriminalität beobachtet. Gewaltdelikte oder sexuelle Belästigung, sagt sie, würden zum Beispiel deutlich seltener angezeigt als Raub.
Um buchstäblich Licht ins Dunkel zu bringen, führen Yvonne Krieg und ihre Kollegen sogenannte Dunkelfeldbefragungen bei Jugendlichen durch. "Das heißt, wir befragen Schülerinnen und Schüler in den Schulen, verteilen Fragebögen oder lassen dort online Fragebögen ausfüllen. Dabei fragen wir dann auch ab, ob die Polizei von dem Delikt erfahren hat. Wenn keine Anzeige vorliegt, dann taucht das in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik nicht auf, in unserer Dunkelfeldbefragung aber schon."
Im letzten Forschungsbericht des KFN aus dem Jahr 2019 hatte mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler angegeben, in ihrem Leben schon einmal Opfer von Gewalt geworden zu sein – ein höherer Wert war in vorherigen Befragungen noch nicht erfasst worden. Vor allem Körperverletzungen und sexuelle Belästigungen hatten demnach zugenommen. In weit mehr als der Hälfte der Fälle wurden Gleichaltrige als Täter benannt. Mädchen wurden häufiger zu Opfern als Jungen. Angezeigt wurden 13 Prozent der Taten.
Eine andere Sensibilität für Gewalt
Rettenberger gibt zu Bedenken, dass Jugendgewalt heute viel präsenter im öffentlichen Bewusstsein sei als früher. Er spricht zum einen von sogenannten Jugendkontrolleffekten, da wegen der Alterung der Gesellschaft demografisch mehr ältere Personen auf jeweils eine jüngere Person kommen, zum anderen von einer breiteren Versorgung mit Bildungs- und Betreuungsangeboten.
"Zeigen Kinder oder Jugendliche besorgniserregende Entwicklungen, fallen diese heute früher auf und werden früher registriert, etwa durch Sozialarbeiter", erläutert Rettenberger. "Auch die Sensibilität gegenüber Gewalt hat deutlich zugenommen. Sprechen Sie mal mit Ihren Eltern oder Großeltern, was vor 30 oder 40 Jahren auf den Schulhöfen passiert ist."
Extreme Ausbrüche jugendlicher Gewalt bleiben glücklicherweise eine sehr seltene Ausnahme, aber es hat sie schon immer gegeben. In aller Regel haben sie eine Vorgeschichte: Gewalterfahrungen, soziales Umfeld, Drogenkonsum. Die Einflussfaktoren sind vielfältig, wie Politikwissenschaftlerin Krieg erläutert: "Unsere wesentlichen Erkenntnisse sind, dass – wie auch nicht anders zu erwarten – Jungen weit häufiger an Gewaltdelikten beteiligt sind als Mädchen. Dass Kinder und Jugendliche von niedrigeren Schulen häufiger kriminell werden als Schüler von Gymnasien. Dass der Freundeskreis eine wesentliche Rolle spielt: Wenn Kriminalität dort zur Normalität gehört, dann lernen die Jugendlichen das kriminelle Verhalten und übernehmen das. Auch wer häufiger schwänzt und dann folglich unbeaufsichtigt ist, fällt häufiger kriminell auf. Eine ganz wesentliche Rolle spielt zudem psychische und physische Gewalt im Elternhaus. Wer derartige Erfahrungen macht, bei dem besteht eine größere Gefahr, kriminell zu werden. Auch problematischer Alkoholkonsum spielt eine Rolle."
Das Problem des Cybermobbing
Oft gehen den physischen Attacken verbale Angriffe in den sozialen Medien voraus. So war es offenbar auch bei den Morden an der 17-jährigen Marjorie und der im März in die Seine geworfenen Alisha. Frankreichs Öffentlichkeit diskutiert seither intensiv über Cybermobbing und die Frage, ob und wie Eltern überhaupt noch Einfluss darauf nehmen können, was auf den Smartphones ihrer Kinder los ist.
"Cybermobbing hat über alle Altersgruppen hinweg zugenommen", beschreibt Psychologe Rettenberger die Entwicklung. "Das verwundert auch nicht, da Smartphones immer präsenter und immer wichtiger für unseren Alltag geworden sind. Ich erwarte, dass dieser Trend auch noch anhalten wird. Viele empfinden die sozialen Medien als rechtsfreie Räume und verhalten sich entsprechend."
Sicherheit als Wahlkampfthema
Gleichwohl waren in Frankreich nach den Ausbrüchen jugendlicher Gewalt vor allem Rufe nach der harten Hand des Staates zu hören. Da spielt mit hinein, dass in einem Jahr Präsidentschaftswahlen sind und Sicherheit ein wichtiges Thema ist, über das sich Kandidaten zu profilieren versuchen. Der konservative Bewerber Xavier Bertrand brachte zum Beispiel eine Senkung der Strafmündigkeit auf 15 Jahre ins Gespräch. Auf den Vorwurf, er eifere damit der Rechtspopulistin Marine Le Pen nach, entgegnet er, man dürfe das Thema Unsicherheit nicht länger Extremisten überlassen.
Fragen nach dem Warum, nach den Ursachen für die Gewalt, nach den Umständen aus denen sie erwächst, gerieten in der Debatte in den Hintergrund. Was Rettenberger nicht wundert: "Solche extremen Taten führen häufig zu reflexartigen Rufen nach Strafverschärfungen oder anderen repressiven Formen der strafrechtlichen Kontrolle. Das mag in der ersten Emotionalität auch nachvollziehbar sein. Grundsätzlich sind repressive Maßnahmen allerdings nur dort sinnvoll, wo kurzfristig extreme Krisensituationen in den Griff bekommen werden müssen."
Mittel- bis langfristig hingegen würden repressive Maßnahmen vor allem bei jungen Menschen keine positiven Effekte zeigen. "Oft setzt sich im Leben dieser jungen Menschen dann nur das fort, was sie zuvor schon in anderen Lebensbereichen erlebt haben: sinnloses Bestrafen ohne weitere Perspektive. Bestrafung mag manchmal notwendig sein, resozialisierend wirkt sie nur, wenn sie an unterstützende Maßnahmen geknüpft ist."
- Gespräche mit Yvonne Krieg und Martin Rettenberger
- BBC: Olly Stephens killed in ambush plan, court told
- Rhein-Neckar-Zeitung: Tötungsdelikt in Eschelbach
- Euronews: "Passt aufeinander auf"
- Bericht der Zeitung "Le Figaro"
- Kronen-Zeitung: Internet-Fehde eskalierte: 17-jähriges Mädchen tot
- Eigene Recherche