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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Loveparade-Katastrophe Strafrechtler: "Die Aufklärung ist nicht abgeschlossen"
Zehn Jahre nach der Loveparade-Katastrophe sind die Strafprozesse ohne Urteile beendet. Doch die Aufklärung ist noch nicht am Ende: Warum das so ist, erklärt Strafrechts-Professor Henning Ernst Müller.
Nach der Loveparade mit 21 Toten heute vor zehn Jahren gab es keine Strafen. Der Strafrechtsprofessor Henning Ernst Müller beklagt das: "Jeder Autofahrer, der mit einem kleinen Fehler viel Unglück anrichten kann, wird bestraft." Wenn Sorgfaltsnormen verletzt würden wie bei der Loveparade, dann könne man das nicht als Unglück einstufen.
Müller leitet den Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht an der Uni Regensburg und hat den Fall jahrelang mit Einschätzungen auf dem juristischen Beck-Blog begleitet. Im Interview äußert er sich zu Schuld, Verantwortung – und offenen Fragen.
t-online.de: Herr Prof. Müller, 21 Menschen sterben und niemand ist verantwortlich?
Henning Ernst Müller: Man hat sich auch von Warnungen nicht irritieren lassen und meinte, man müsse so ein riesiges Jugendevent auch in Duisburg durchführen, obwohl es eigentlich keinen geeigneten Platz dafür gibt. Man hat sich dann frühzeitig auf dieses Gelände zwischen Bahn und Autobahn konzentriert, wo die Zugangswege einfach nicht geeignet für die Hunderttausenden Menschen sind. Ein Stau im Eingangsbereich, der durch Tunnel und eine eingefasste Rampe gekennzeichnet war, war programmiert. Die Politiker in Stadt und Land waren dafür und hätten sich sicher auch gern hinterher feiern lassen, wenn das Event gelungen wäre. Deshalb tragen sie zumindest auch politische, zum Teil auch moralische Verantwortung.
Und strafrechtlich?
Die mit der Planung und Genehmigung konkret befassten Personen hätten die Reißleine ziehen müssen, als sie erkannten, dass die Sicherheit für die Besucher, die dort feiern wollten, nicht herzustellen war. Zudem wurden die Sicherheitsauflagen, die man vorgesehen hat, auch noch fahrlässig missachtet und deren Einhaltung nicht überwacht. Das war sorgfaltspflichtwidrig und dies begründet eben auch eine strafrechtliche Schuld für fahrlässige Tötung und Körperverletzung.
Aber es gibt keine Schuldsprüche, das Verfahren wurde im Mai eingestellt. Hat Sie das überrascht?
Nicht mehr, da schon längere Zeit absehbar war, dass man mit der Hauptverhandlung nicht mehr vor der absoluten Verjährung Ende Juli 2020 fertig wird. Die Einstellung hat mich aber aus zwei Gründen enttäuscht: Die Begründung des Gerichts, dass bei multiplen Ursachen die Einzelschuld geringer sei, überzeugt mich als Strafrechtswissenschaftler gar nicht. Unverständlich ist auch, dass das Gericht das seit fast zwei Jahren vorliegende Gutachten von Prof. Gerlach nicht in den Prozess eingeführt hat.
Wenn es viele Ursachen gibt und keiner richtig zuständig ist, ist auch niemand zu bestrafen?
Das ist offenbar die Ansicht des Gerichts. Aber diese Ansicht trifft eben nicht zu: Auch in einem komplexen Geschehen gibt es für einzelne Bereiche Verantwortliche und sie können auch für Fehler verantwortlich gemacht werden. Immerhin waren hier auf der Seite des Veranstalters gut ausgebildete und bezahlte Profis am Werk und auf der städtischen Seite Beamte, die sich normalerweise kein X für ein U vormachen lassen. Dennoch haben sie die Veranstaltung genehmigt, weil sie wohl von einem unbedingten politischen Willen ausgingen.
Eine in vielen Punkten schlechte Organisation schützt vor Strafe?
Hoffentlich nicht. Gerade wegen dieses möglichen falschen Signals kritisiere ich die Entscheidung. Es wäre besser gewesen, das Gericht hätte wegen Verjährung eingestellt. Nun hat es signalisiert: Je mehr Bäcker den Brei verderben, desto weniger Schuld hat jeder von ihnen. Nein, in unserer arbeitsteiligen Welt muss jeder für seinen Beitrag Verantwortung tragen. Und Mitarbeiter des Veranstalters wie auch der Behörden, die ihre Pflicht, die Besucher vor Gefahren zu schützen, missachten, sollten auch bestraft werden. So wie jeder Autofahrer, der mit einem kleinen Fehler auch viel Unglück anrichten kann. Dabei geht es nicht um hohe Strafen, aber darum, dass die Missachtung von Sorgfaltsnormen nicht als "Unglück" klassifiziert werden kann.
Sie haben das Gerlach-Gutachten mit fast 4.000 Seiten angesprochen, das nicht mehr in den Prozess eingeflossen ist. Sind die Erkenntnisse dort nicht relevant?
Doch, die sind hochrelevant. Wer die Geschichte des ganzen Strafverfahrens kennt, weiß, dass schon vor Jahren bei Anklageerhebung ein wesentlich kürzeres Gutachten vorgelegt wurde. Das hatte das Gericht im Zwischenverfahren für ungeeignet erachtet. Dadurch kam ja die enorme Verzögerung des Prozesses zustande und auch der Auftrag an einen neuen Gutachter. Er hat seine Sache außerordentlich ernst genommen und wirklich "Aufklärung" betrieben. Mit nach meiner Ansicht hanebüchener Begründung hat das Gericht die Einführung dieses Gutachtens immer wieder aufgeschoben und jetzt in der Coronakrise gemeint, man habe nun keine Zeit mehr dafür.
2010 hat die damalige NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft bei der Trauerfeier lückenlose Aufklärung versprochen. War es das jetzt?
Die Aufklärung ist nicht abgeschlossen. Bisher konnte man auf das Strafverfahren verweisen und so eine politische Aufklärung aufschieben oder für verzichtbar halten. Dieser Grund ist jetzt weggefallen. Man muss jetzt daran gehen, auch über Medienöffentlichkeit die Politik zu einer Aufarbeitung drängen. Ich habe im Beck-Blog das Strafverfahren aus strafrechtlicher Sicht zehn Jahre lang begleitet und kommentiert. Aber nun sollte der Blick auf die verwaltungsrechtliche und politische Seite zum Tragen kommen, unabhängig von Parteiengezänk. Der Gutachter Prof. Gerlach hat damit auch schon begonnen, indem er darauf hinweist, dass man sich um den sicheren Zugang zu solchen Veranstaltungen bislang zu wenig Gedanken macht. Hier besteht offenbar Regelungsbedarf.
- Schriftlicher Austausch mit Henning-Ernst Müller
- Beiträge von Henning Ernst Müller im Beck-Blog