Mysteriöser Tod Als die Stasi einen Bundesliga-Profi ins Visier nahm
Hat die Staatssicherheit der DDR auch in West-Deutschland gemordet? Töteten ihre Mitarbeiter noch nach der Einheit? Ermittler stehen vor einer Mauer des Schweigens.
Axel Mitbauer hat vor 50 Jahren, in der Nacht zum 18. August 1969, seine Heimat verlassen. Via Ostsee. Der DDR-Schwimmstar kraulte 25 gefährliche Kilometer in die Freiheit – von Boltenhagen bis auf eine westdeutsche Boje in der Lübecker Bucht. Eine Skandinavien-Fähre nahm ihn dort auf. "Ein Jahr nach meiner Flucht", erzählte Mitbauer jetzt, "spürte ich bei einer Bergabfahrt, dass etwas mit meinem Auto nicht korrekt war. Ich habe angehalten und bemerkt, dass die Schrauben an zwei Rädern losgedreht waren. Die Stasi wollte mich umbringen".
Der Fall Fuchs
Der ostdeutsche Schriftsteller und Regimekritiker Jürgen Fuchs starb 1999 an einer seltenen Form von Leukämie. Er glaubte bis zum Ende, er sei während seiner DDR-Haft radioaktiven Strahlen ausgesetzt gewesen durch ein Gerät, das hinter seinem Verhörstuhl in der Stasi-Haftanstalt Hohenschönhausen installiert gewesen sein soll. Seine Krebserkrankung sei "nicht gottgewollt, sondern menschengemacht", sagte er. Sein Verdacht rührte nicht von ungefähr: Bereits 1986 hatte die Stasi eine Bombe vor seinem Haus in West-Berlin explodieren lassen.
Auch der Kaiserslauterner Fußballer Lutz Eigendorf kam 1983 unter mysteriösen Umständen bei Braunschweig ums Leben. Er raste mit seinem Alfa Romeo in einer langgezogenen Rechtskurve gegen einen Baum. Wurde er geblendet oder "abgeblitzt", wie die Stasi diese Methode kannte und nannte?
Der Fall Eigendorf
Der frühere Sportler von Dynamo Berlin, der vor seiner Flucht 1979 in der DDR-Nationalelf gespielt hatte, war bei seiner Todesfahrt mit 2,2 Promille im Blut volltrunken – obwohl er laut Zeugen nur wenige Gläser Bier konsumiert hatte. Der Staatsanwalt Hans-Jörg Grasemann bestätigte später, Eigendorf sei auch im Westen von rund 20 Stasi-Spitzeln umgeben gewesen.
Waren Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit als Mordkommandos unterwegs – im Osten wie im Westen, in Staatsauftrag vor und auf privatem Feldzug sogar nach der Einheit? Oder haben sich bei Geflüchteten, Verfolgten und Bürgerrechtlern nach erhaltenen Drohungen wie "Es passieren immer wieder Autounfälle" oder "Wir finden dich überall" bis in die Gegenwart nur tiefe, unbegründete Urängste festgesetzt?
Blutige Anschläge
Von 1949 bis 1990 war Deutschland geteilt. Der Rechtsstaat Bundesrepublik im Westen stand der DDR mit einem durch eine sozialistische Einheitspartei geführten Regime im Osten gegenüber, das nur ein Ziel hatte: über alles die Kontrolle zu behalten. Das Terrain beider Staaten war Tummelplatz von nicht nur deutschen Geheimdiensten – und damit Schauplatz oft blutiger Anschläge. Allein der ostdeutsche Schießbefehl gegen Grenzflüchtige belegt, dass DDR-Behörden dabei weit weniger Respekt vor Menschenleben zeigten.
Es ist 1998. Acht Jahre ist der Mauerfall her. Hans Plüschke, ein fünffacher Vater und ehemaliger Oberjäger des Bundesgrenzschutzes, arbeitet jetzt in der hessischen Rhön als Taxifahrer. Er hat Ende 1997 in einem Fernsehinterview erstmals erzählt, wie er als Grenzschützer 1962 an der Demarkationslinie zwischen beiden Staaten in einen Schusswechsel mit DDR-Grenzern verwickelt war. Er musste damals, sagt er in die Kamera, in Notwehr zurückschießen – und hat dabei den DDR-Hauptmann Rudi Arnstadt oberhalb des rechten Auges tödlich getroffen. Das sind Dinge, die im Kalten Krieg nicht nur einmal vorgekommen sind.
Am 15. März fährt Plüschke die Taxi-Nachtschicht. Um vier Uhr früh soll er einen unbekannten Kunden von einer Telefonzelle in Rasdorf abholen, nur wenige Kilometer von der Stelle entfernt, an der es 35 Jahre zuvor zum deutsch-deutschen Feuergefecht gekommen war. Kurz nachdem der Fahrgast eingestiegen ist, geschieht in einer Senke an der Bundesstraße 84 ein bis heute völlig ungeklärtes Verbrechen.
Sind Spezialkommandos unterwegs?
Plüschkes BMW wird am Morgen 80 Meter von der Straße entfernt gefunden, daneben liegt seine Leiche. Weder Tageseinnahmen noch Papiere sind angerührt. Aber der Schuss wurde vom Beifahrersitz abgegeben, und die Kugel im Kopf des Taxifahrers ist über seinem rechten Auge eingedrungen. Wie einst bei Arnstadt.
Alles Zufall? Oder sollte man einem früheren Major der Volksarmee folgen, der gegenüber der "taz" von Spezialkommandos berichtet, die immer noch gegen Zielpersonen vorgehen? Nur Einfältige könnten glauben, dass Stasikämpfer Aufträge abbrechen, nur weil die DDR untergegangen sei, sagte er 2013 dem Blatt.
Der Mordfall zeigt: Der lange Geheimdienst-Schatten der DDR verschwindet nicht. Nur wenig kann am Ende aufgehellt werden – auch wenn es nach wie vor Versuche gibt. 2014 erklärte der linke Politiker Bodo Ramelow, Ministerpräsident in Thüringen, die Aufarbeitung von DDR-Unrecht zur wesentlichen Aufgabe seiner Landespolitik. Thüringer Gruppen wollen heute vor allem wissen, was mit Matthias Domaschk passiert ist, einem 23-Jährigen, der am 12. April 1981 in einer Zelle des Stasi-Gefängnisses Gera tot aufgefunden worden ist.
Domaschk gehörte seit Ende der Siebzigerjahre der Jugendopposition an. Er engagierte sich in der Jungen Gemeinde Jena. Er unterhielt Kontakte zur Solidarnosc nach Danzig und zur Charta 77 nach Prag, alles Organisationen, die sich gegen die kommunistischen Regierungen in Osteuropa richteten. Am 10. April 1981 wurden er und ein Freund von der Transportpolizei aus dem Zug geholt. Die jungen Leute wurden mit Knebelketten, Gebrüll und Laufschritt-Befehlen eingeschüchtert. Zwei Tage waren sie in Haft, als die Behörden mitteilten: Matthias Domaschk habe in der Untersuchungshaft Suizid begangen, bedauerlicherweise.
Was ist passiert? Die Fragen beschäftigen auch seine damalige Lebensgefährtin und seine Tochter. Beging er tatsächlich Suizid, wie sein Vater es unter Verweis auf ein Gespräch mit seinem Sohn in der Zeit davor nicht ausschließen wollte? Oder wurde er erdrosselt, erwürgt, erhängt? Die Aktenlage ist ungewöhnlich dürftig, schildert der Autor Henning Pietzsch, der die vom Land gestützte Forschungsarbeit verfolgt hat.
In den wenigen Unterlagen, die man fand, werden teils Ort und Zeit unterschiedlich dargestellt, es bleibt unklar, ob ein oder zwei Aufseher Domaschk gefunden haben, vor allem wirft die Fundsituation Fragen auf. Domaschk muss sich, Suizid vorausgesetzt, im Sitzen erhängt haben. Ist so etwas möglich? Professor Michael Tsokos von der Charité in Berlin ist einer der angesehensten Gerichtsmediziner Deutschlands. Ihn hat die Forschungsgruppe in ihre Arbeit an den Akten eingebunden.
Mögliche Todesursache: Erdrosseln
Tsokos ist zu einem bemerkenswerten Ergebnis gekommen. Nicht nur, dass es im Gesicht des jungen Mannes Spuren von Gewalteinwirkung gegeben hat. Tsokos sagt: "Aus rechtsmedizinischer Sicht ergeben sich an der Todesursache Erhängen einige Zweifel. Als weiterer todesursächlicher Mechanismus kommt eine andere Form der Strangulation in Betracht, nämlich ein Erdrosseln von hinten." Der Täter könne dabei hinter dem Opfer gestanden haben. Er kenne dies durchaus aus seiner kriminaltechnischen Praxis.
Tsokos äußert hier eine Möglichkeit. Fast vier Jahrzehnte nach dem Tod des jungen Mannes ist ein Beweis kaum noch machbar. Doch Ramelow, der linke Ministerpräsident, schließt sich, etwas verklausuliert, dem Experten an: "Es war ein mühsamer und langer Weg, die in den manipulierten Akten angelegte Legende vom Suizid zu widerlegen." Und er appelliert an die Gewissen der alten Stasi-Seilschaften, "die Mauer des Schweigens" von Mitwissern, Mittätern und Tätern zu durchbrechen und den "Familien Frieden zu bringen".
Morde waren nicht nachzuweisen
Tatsächlich ist dies in Deutschland auf breiter Front selten passiert. 22.550 "Eingänge", Anzeigen also, hat die über zehn Jahre bestehende Staatsanwaltschaft für Regierungs- und Vereinigungskriminalität in Berlin nach der Einheit bearbeitet. 21.270 Verfahren wurden eingestellt. 506 mal kam es zu Anklagen. 211 Verurteilungen sprachen die Gerichte aus, meist zur Bewährung. Echte Freiheitsstrafen gab es für 22 Funktionäre, elf davon wegen Totschlags an der innerdeutschen Grenze. Morde waren nicht nachzuweisen.
Wie im Fall von Jürgen Fuchs, dem Schriftsteller, der an einer ungewöhnlichen Krebsart starb. Wurde er radioaktiv verstrahlt? Die Stasi-Untersuchungsbehörde widmete sich dem Thema. Sie prüfte die sogenannte "Toxdat"-Studie, eine fast 1.000 Seiten dicke Arbeit für die Staatssicherheit, die sich mit gezielten Vergiftungen befasste und die selbst nach Ansicht ihrer Autoren "als Anleitung zum perfekten Mord" genutzt werden konnte.
Auch steht fest, dass der DDR-Geheimdienst mit radioaktivem Spurenmaterial gearbeitet hat, um die Bewegungen von Regimegegnern zu verfolgen oder sie zu "kennzeichnen". In den Siebzigerjahren wurden etwa 100 Markierungen vorgenommen, in den Achtzigern weitere 30 bis 50. Auch Bücher des Regimekritikers Rudolf Bahro wurden so verseucht. Auch er erkrankte an Krebs. Absicht aber, Mord gar, konnte die damalige Gauck-Behörde nicht erkennen.
So wurden auch längst die Akten geschlossen, die sich mit Lutz Eigendorfs merkwürdigem Alkohol-Unfall in Braunschweig befassten, mit einem Briefbombenanschlag auf den professionellen Fluchthelfer Kay Mierendorff oder dem Tod des DDR-Kritikers Bernd Moldenhauer auf einem Parkplatz, wo ihn ein Stasi-Informant erdrosselt hatte. Das angeblich aber nicht im Staatsauftrag.
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Der durch die Ostsee geflüchtete Schwimmtrainer Axel Mitbauer, dessen Radschrauben gelockert waren, hat sich ein neues Leben in der Schweiz aufgebaut. Er lebte lange in Sardinien und trainiert heute einen Verein in Luzern – nachdem er jahrelang Nacht für Nacht einen Schrank vor die Tür seines Schlafzimmers geschoben hatte. Aus purer Angst.
- Pietzsch, Henning: "Matthias Domaschk 2.0, Suizid oder Mord?", Landeszentrale für Politische Bildung, Thüringen, 2019
- WAZ: "Freiheit auf Boje 2A"
- taz: "Meine Wahrheit, deine Wahrheit"
- Mitteldeutsche Zeitung: "Mord durch die Stasi"
- eigene Recherchen