Die Göhrde-Morde War das die größte Mordserie der Nachkriegszeit?
Vor bald 30 Jahren soll ein Friedhofsgärtner im Staatsforst Göhrde und in Lüneburg fünf Menschen brutal getötet haben. Jetzt dämmert den Ermittlern: Der Mann kommt in Deutschland für eine Vielzahl weiterer Morde infrage. 42 Polizeidirektionen holen gerade die Akten von 100 alten und bislang ungeklärten Fällen aus den Archiven.
Wie sehen Serienkiller aus? Verkniffener Mund. Eng stehende Augen. Grimmiger Blick und eher dunkles als helles Haar. So sehen die Massenmörder in den meisten Krimis aus. Und solchen Typen weichen wir dann lieber auf die andere Straßenseite aus. Doch das kann ein fürchterlicher Irrtum sein. Wie selbstbewusst guckte Kurt-Werner Wichmann seinem Gegenüber ins Gesicht! Groß, blond, blauäugig stand er da. Ein gepflegter Typ mit geputzten Schuhen. Charmant und überzeugend.
Kurt-Werner Wichmann ist wohl der Göhrde-Mörder gewesen. Er hat nach belastbaren Ermittlungsergebnissen, Stand Herbst 2018, fünf Menschen auf dem Gewissen. Aber das ist die vorsichtigere Annahme. Vielleicht sind es auch 24. Oder weit mehr? Eine Clearingstelle der Polizei Lüneburg und des Landeskriminalamtes Hannover vermutet eine dramatische Entwicklung. Sie hat vor wenigen Monaten ein Bewegungsprofil des Mannes an Polizeibehörden in ganz Europa geschickt. Die aus sechs Experten bestehende Gruppe bittet in dem Skript um eine "niedrigschwellige Kontaktaufnahme". Sollten irgendwo Kollegen einen ungeklärten Fall ihrer Datei mit diesem Wichmann in Verbindung bringen können: Sofort melden.
Das erste Echo ist überwältigend. "Inzwischen haben sich 42 Polizeidienststellen mit ungefähr 100 ungeklärten Fällen gemeldet", sagte Mathias Fossenberger von der Polizeidirektion in Lüneburg zu t-online.de. "Die Bewertung dauert gegenwärtig an." Auch rund um Lüneburg holen Fahnder ihre Altfälle zur neuen Begutachtung hervor. Aus dem Ausland gibt es noch keine Reaktionen.
Nicht nur, dass Kurt-Werner Wichmann, der 1993 in der U-Haft Suizid beging, als schlimmerer Serienkiller entlarvt werden könnte, als bisher nachweisbar ist. Er hat auch einen Mittäter oder Mitwisser gehabt. Er muss "zumindest bei einigen Taten von einer Person Unterstützung erhalten haben", heißt es in dem Skript. Der Helfer könnte noch leben. Ermittlungsverfahren laufen. Sie suchen ihn als Beschuldigten. Dass in diesem Zusammenhang der zehn Jahre jüngere Bruder des Verdächtigen Auskünfte geben könnte, bestätigt die Polizei nicht.
Sind die sechs Ermittler auf dem Weg, den größten Kriminalfall der deutschen Nachkriegsgeschichte zu lösen? Lüneburgs Polizeipräsident Robert Kruse ist zurückhaltend: "Aufgrund des bisherigen Ermittlungsstandes müssen wir von der Möglichkeit einer Vielzahl von Taten in Deutschland und vielleicht auch darüber hinaus ausgehen."
Die Morde im Staatsforst Göhrde, die erste Spur einer vielleicht langen Tatserie, liegen weit zurück.
Zwei tote Liebespaare im Landkreis Lüchow-Dannenberg
Es ist Juli 1989. Ein Sommer, der die Weltgeschichte verändern wird – und gerade auch das Leben im Landkreis Lüchow-Dannenberg nahe der minenversperrten Grenze zur DDR. Diese Grenze wird Monate später fallen. Noch aber haben die Menschen der Gegend ein anderes, Angst einflößendes Thema. Den "Totenwald". Irgendjemand bringt im riesigen Staatsforst Paare um. Bisher zwei Frauen und zwei Männer sind dem oder den Unbekannten zum Opfer gefallen.
Das Auffinden der Toten des Doppelmordes läuft als fürchterlicher Albtraum ab. Als Polizisten am 12. Juli, alarmiert durch drei Beerenpflücker, in der Göhrde die Leichen des seit Mai vermissten Ehepaares Ursula (45) und Peter Reinhold (51) aus Hamburg-Bergedorf untersuchen, fallen nur achthundert Meter entfernt Schüsse. Diesmal heißen die Opfer Ingrid Warmbier (46) und Bernd Michael Köpping (43), ein Liebespaar. Von den Schüssen hören die Polizisten nichts, weil sie in einer Erdmulde abgegeben werden. So wird das tote Liebespaar erst zwei Wochen später gefunden, als Beamte wegen der ersten Toten den Wald nach Spuren absuchen.
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Eine außergewöhnliche Hitzeglocke hängt im Sommer 1989 über dem flachen Land an der Elbe. Die Leichen verwesen schnell. Die Ermordeten sind entkleidet und verstümmelt, Peter Reinholds Kehlkopf ist eingedrückt. Was hat Tierfraß angerichtet und was die Brutalität des Mörders? Wurden sie erschossen, erwürgt, erschlagen? Das alles kann kaum mehr ermittelt werden. Die zwei anderen Opfer sind, gefesselt an Händen und Füßen mit Leukoplast, durch Kopfschüsse aus einer 5,6 Millimeter-Kleinkaliberwaffe gestorben. Die Gerichtsmediziner stellen bei der Frau eine zertrümmerte Schädeldecke und Verletzungen im Brustbereich fest.
Parallelen fallen auf. So hat sich der Täter nach beiden Doppelmorden mit den Autos der Opfer abgesetzt. Vieles weist auf Zusammenhänge zwischen den Fällen hin. Das wird sich als untertrieben herausstellen.
Zunächst greift die Polizei ins Leere. Hinweise gibt es zwar genug, mehr als eintausend Akten werden angelegt. Doch weder die Überprüfungen der Patienten der nahen Psychiatrie noch die der Kurgäste aus Bad Bevensen ergeben irgendeinen Verdacht. Der betrogene Ehemann von Ingrid Warmbier? Fällt schnell als Beschuldigter aus. Weil in Wales ein Paar ähnlich umkommt und britische Nato-Soldaten im Nordosten Niedersachsens Schießübungen machen, wird die "britische Spur" verfolgt. Auf der Insel erweist sich ein John Cooper als Täter. Er war nicht in Deutschland. Am Ende gibt die 40-köpfige Sonderkommission auf. Sie wird aufgelöst.
Dabei haben die Ermittler den Schlüssel zur Lösung auf dem Schreibtisch liegen. Sie ahnen es nur nicht. Denn parallel bearbeitet die Polizei in der Region einen anderen Fall.
Der Fall Birgit Meier: ein Zusammenhang zu Göhrde?
Lüneburg liegt 37 Kilometer von Göhrde entfernt. Am Abend des 14. August 1989 treffen sich die 41-jährige Birgit Meier und ihr Ehemann Harald. Sie wollen sich trennen, aber finanziell gütlich einigen. Das funktioniert. Am nächsten Morgen wollen sie zum Notar. Harald Meier findet, seine künftige Ex sehe heute besonders hübsch aus: "Hast du noch was vor?", fragt er. "Wer weiß?", gibt sie zurück.
Birgit Meier verschwindet an diesem Abend vor 29 Jahren spurlos. Harald Meier recherchiert auf eigene Faust und stößt dabei auf einen Namen. Seine Frau hat nach der Trennung von ihm auf einer Party einen losen Kontakt geknüpft. Es ist der Friedhofsgärtner Kurt-Werner Wichmann. Sehr langsam rückt dieser 43-jährige Mann, der schon als 14-Jähriger straffällig wurde und mit 21 eine Anhalterin vergewaltigte, auf der Verdachtsliste nach oben. Sein Haus wird 1993 durchsucht. Die Beamten finden Schusswaffen, Handschellen, Beruhigungsmittel – und Folterwerkzeug. Im Garten stoßen sie auf einen vergrabenen roten Sportwagen, auf dem Rücksitz sind Blutspuren. Doch die scheinen die Spurensicherung zunächst nicht zu interessieren. Auch festnehmen können sie ihn nicht. Sie hatten sich zur Durchsuchung bei ihm angekündigt. Jetzt ist er auf der Flucht. Die Flucht endet mit einem Unfall in Süddeutschland. Im Unfallwagen liegen Waffen. Wichmann wird verhaftet. Zehn Tage später erhängt er sich im Gefängnis.
Gegen Tote wird nicht mehr ermittelt. Das ist ein Grundsatz im Strafprozessrecht. Doch Birgit Meiers Bruder lässt das schon vom Beruf her keine Ruhe. Wolfgang Sielaff ist zur Zeit des Verschwindens seiner Schwester Chef des Hamburger Landeskriminalamtes. Sielaff wird 2002, nach der Pensionierung, eine eigene Untersuchung starten. Jahrelang treibt er sie voran, zusammen mit bewährten Kriminalisten. Er liest Tausende von Aktenseiten. Er rollt auf, was die Kollegen 1993 eigentlich schon erledigt haben wollen.
2013 durchsucht Sielaff ein Zimmer des vor zwanzig Jahren verstorbenen Wichmann. Dort findet er überraschend ein Dossier mit Medienberichten zu den Doppelmorden in der Göhrde. Es ist ein erster Hinweis auf unerkannte Zusammenhänge. Noch einmal vier Jahre später im September 2017 gräbt er mit Erlaubnis des neuen Eigentümers in der Garage des roten Backsteinhauses, in dem Wichmann früher lebte. Sein Team findet das Skelett von Birgit Meier. Das Garagengrab war in der ersten Ermittlungsrunde übersehen worden.
Wie nachlässig sind die Ermittlungen damals geführt worden? Wie viele Spuren wurden nicht abgeglichen? Warum sind Beweisstücke nicht auffindbar? Biss man sich zu lange am zunächst verdächtigen Ehemann von Birgit Meier fest? Solche Fragen stellt sich nicht nur der ehemalige LKA-Chef Sielaff.
"Aufgrund intensiver polizeilicher Ermittlungen sind bisher zwei DNA-Spuren des tatverdächtigen Wichmann in einem Auto der Opfer der sogenannten Göhrde-Morde nachzuweisen", erklärt die Lüneburger Polizei nach 29 Jahren, im Frühjahr 2018. Der tote Kurt-Werner Wichmann steht damit auch offiziell im Verdacht, der Mörder im Staatsforst gewesen zu sein – und auch der von Birgit Meier in Lüneburg.
Ein ungewöhnlicher Lebenslauf
Ende der Geschichte? Vielleicht steckt das Drama der Göhrde-Morde erst in den Anfängen. Heute befassen sich die aktuellen Ermittler mit dem sehr ungewöhnlichen Lebenslauf des schon immer gewalttätig aufgetretenen Friedhofsgärtners. Nicht nur, dass er Jahr für Jahr viele Tausend nicht erklärbare Kilometer im Auto zurückgelegt hat. Nicht nur, dass er mit einem breit gestreuten Portfolio an Landkarten unterwegs war. Es gibt auch zahllose zeitliche wie sachliche Querverbindungen zu anderen ungeklärten Mordfällen – wie die oft schreckliche Art und Weise, auf der die Opfer starben.
Die 60er- bis 80er-Jahre waren kriminalhistorisch blutige Jahrzehnte. Der Abgleich genetischer Spuren war als Aufklärungsmethode noch unmöglich. Ganze Frauenmordserien aus dieser Zeit sind unaufgeklärt geblieben. Ist Wichmann folternd und mordend quer durchs Land gezogen? Die Clearingstelle in Lüneburg bestätigt keine Details. Nur: "Die gemeldeten Fälle verteilen sich auf das ganze Bundesgebiet. Eine lokale Eingrenzung zum jetzigen Zeitpunkt ist noch nicht angezeigt", sagte Fossenberger zu t-online.de. Auch könne man eine konkrete Einschätzung der infrage kommenden Hinweise erst später abgeben.
Dennoch liegen begründbare Spekulationen nahe.
Kommt der Friedhofsgärtner für sechs Tötungsdelikte an Mädchen und Frauen infrage, die sich in der dünn besiedelten Region südlich von Hamburg von 1965 bis 1969 ereignet haben und für die man nie einen Täter fand?
War Wichmann der "Münsterland-Mörder", dem in der Grafschaft Bentheim von 1971 bis 1974 mit Edeltraut van Boxel, Marlies Hemmers, Erika Kunze und Barbara Storm vier junge Frauen auf sehr brutale Art zum Opfer fielen?
Besonders aber: Wieso kam es zwischen September 1975 und April 1977 in der Rhein-Neckar-Region zu den Morden an den Anhalterinnen Monika Sorn, Maria-Else Scholte, Monika Pfeifer und der erst 15-jährigen Maria Theresia Majer – ausgerechnet zu der Zeit, als Wichmann in Karlsruhe wohnte?
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Der Fall der Göhrde-Morde gewinnt gerade noch einmal an Dynamik. Bei der "Landeszeitung" in Lüneburg hat sich Anfang der Woche der Gebrauchtwarenhändler Michael Volkert gemeldet – im Gepäck ein blaugrauer Plastikkoffer, der aus dem früheren Hausstand Wichmanns stammen soll. Ein inzwischen verstorbener Bekannter hatte Volkert demnach diesen Koffer vor fünf Jahren zum Aufbewahren gegeben: "Frag nicht". Inhalt: Zwei Pistolen, Munition und ein 1975 in Karlsruhe ausgestellter Führerschein – auf den Namen Kurt-Werner Wichmann. Die Kriminaltechnik hat Arbeit bekommen.
- Eigene Recherchen
- Texte aus "Zeit", "Spiegel","Landeszeitung"
- "Hallo Niedersachsen", 0.09.18 (NDR)