Täter aus dem Geldadel? Neue Spuren im Fall der ermordeten Rosemarie Nitribitt
Die Prostituierte Rosemarie Nitribitt wurde 1957 erwürgt. Bis heute ist der Täter unbekannt. Neu aufgetauchte Akten belegen eine belastbare Spur in eine reiche Industriellenfamilie.
Der Grabstein im Gräberfeld 95 auf dem Nordfriedhof von Düsseldorf ist auffällig und sehr schlank. Ein Satz ist hineingemeißelt: "Darum merkte ich, dass nichts Besseres darin ist, denn fröhlich sein und gütlich tun im Leben." Hier ist Rosemarie Nitribitt beerdigt. Sie wurde vor 61 Jahren ermordet. Da war sie 24. Manchmal stehen frische Blumen auf dem Grab.
Ein Stück deutscher Nachkriegsgeschichte
"Die Nitribitt" ist bis heute ein Name. Erich Kubys Streifen "Das Mädchen Rosemarie", verfilmt mit Nadja Tiller in der Hauptrolle, lockte acht Millionen Zuschauer ins Kino. Sie war die Edelhure der jungen Bundesrepublik. Ihr Leben und ihr Sterben sind ein Stück deutscher Nachkriegsgeschichte.
Wer sie 1957 tötete, konnte nie ermittelt werden. Nie gab es eine Verurteilung. Nicht einmal wurde festgestellt, wann der unbekannte Mörder ihre Kehle zudrückte. Kriminalbeamte haben bei der Beweisaufnahme geschlampt und beim Betreten der stickigen Wohnung, in der Nitribitts Leiche lag, erstmal die Fenster aufgerissen. Ein fataler Anfängerfehler mit der Folge, dass der genaue Todeszeitpunkt kriminaltechnisch nicht mehr bestimmbar war. Es war nicht der einzige.
Neue Spuren in alten Akten
Doch natürlich können Mörder auch nach sechs Jahrzehnten entlarvt werden. Das geht heute zum Beispiel über eine DNA-Analyse – wenn noch Asservate vorhanden sind. Oder über alte Fahndungsakten, die man für vernichtet oder verschollen hielt und die nach einer Ewigkeit ausgerechnet im Keller eines Polizeipräsidiums in einer spinnennetzverhangenen Ecke aufgestöbert werden.
Im spektakulärsten Mordfall der Fünfziger Jahre hat es diesen Zufallsfund gegeben. Frankfurter Staatsanwälte, so wird zumindest erzählt, wollten Mitte 2013 gegen einen Altpapierhändler wegen angeblich von ihm verhökerter Dokumente ermitteln. 22 Akten tauchten als Beifang auf – samt Fotos, Wohnungsschlüssel und einem Schamhaar. Es waren die polizeilichen Vernehmungsprotokolle und Beweisstücke der Mordsache Nummer 68331/57, Rosemarie Nitribitt.
Der Spross einer ehrbaren Familie
Wer im Leseraum des hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden in diesem Aktenberg blättert, stellt überrascht fest: Es gibt eine durchaus belastbare, aber nie sehr konkret verfolgte Täterspur im Stapel gilbbrauner Schreibmaschinenseiten. Sie führt in eine der bekanntesten Industriellendynastien Deutschlands, die der Stahlbarone von Bohlen und Halbach. Der Name Krupp ist besser bekannt.
Es ist der Allerheiligentag des Jahres 1957 nahe dem Eschenheimer Tor im Norden der noch immer stark kriegszerstörten Frankfurter City. Nachbarn ist aufgefallen, dass sich die Brötchentüten vor der Wohnung einer jungen Frau stapeln. Das ist ungewöhnlich. Die Dame hat sonst häufigeren Besucherverkehr. Am Nachmittag erscheint die alarmierte Kriminalpolizei. Sie meldet danach an das Bundeskriminalamt im nahen Wiesbaden: "Am 1.11.1957, gegen 16.30 Uhr, wurde in dem Appartementhaus Stiftsstraße 36 in ihrer Zweizimmerwohnung die Prostituierte Rosemarie Nitribitt ermordet aufgefunden. Der Tod trat durch Erwürgen ein. Vor der Tat hat ein kurzer Kampf stattgefunden."
Eine tiefe Wunde am Hinterkopf weist auf den Kampf hin. Und dann noch: Der Tatbestand lasse keine Festlegung der Tatzeit zu. Das ist dreist. Die Beamten verschweigen den Kollegen vom BKA die Panne mit den geöffneten Fenstern – eine Irritation, die die Hoffnungen des Täters noch übertrifft. Er hatte nach dem Mord die Heizung auf 30 Grad Celsius hochgefahren, um den Verwesungsvorgang zu beschleunigen und so Hinweise zu verschleiern.
Das Mädchen Rosemarie
Wer war Rosemarie Nitribitt? Nicht unbedingt eine Schönheit. Aber blond, durchdringende Augen, gerne mit dem Pudel Joe und in verführerischer Pose unterwegs. So kannte sie das prüde, moralinsaure Nachkriegsdeutschland, und so hatte sie es als Chance gesehen.
1933 als Folge eines One-Night-Stands geboren kam sie aus ärmsten Verhältnissen in Düsseldorf. Sie wuchs im Heim auf, wurde mit elf Jahren das erste Mal vergewaltigt. Sie wollte raus aus diesem Tief und fand das richtige Leben in Frankfurt. Rosemarie lernte Englisch, Französisch, machte einen Kurs in "gutem Benehmen". Sie kaufte sich den Mercedes Cabrio 190 SL in schwarzer Lackierung, mit Weißwandreifen und rotem Polster und bot den Kunden unter Telefon Frankfurt 26 83 0 ihren Körper an.
Die Kunden waren von Rang und Namen. Viele kamen aus dem Geldadel. Wie die Brüder Gunter und Ernst Sachs, Eigentümer der Schweinfurther Kugellagerwerke. Kurt Georg Kiesinger, später Kanzler der ersten Großen Koalition, soll sie Berichten nach besucht haben, der Rennfahrer Huschke von Hanstein und der Milliardär Harald Quandt. Ein anderer Harald jedoch, Harald von Bohlen und Halbach aus Essen und Mit-Erbe des Kruppschen Imperiums, war mehr als nur ein Kunde. Er war, davon zeugen die den Vernehmungsprotokollen beigefügten Briefe im Hessischen Staatsarchiv in Wiesbaden, über einen Zeitraum von etwa einem halben Jahr vor ihrem gewaltsamen Tod ihr Geliebter.
Liebesbriefe in den Akten
"Mein Rehchen". "Mein Fohlen". So begannen seine Schreiben aus St. Moritz, aus Tirol oder aus Montreal. Er schickte ihr Lyrik: "Deiner Brüste Liebeshügel sind des Hafis schönster Traum." Er schenkte ihr Schmuck, Perlenohrringe, eine "Pferdegruppe aus Porzellan", auch mal einen Werkzeugkasten oder einen Tirolerhut. Er steckte ihr heimlich D-Mark-Scheine zu und stattete ihre Wohnung mit Bildern aus. Die Polizeiakten führen später 16 Positionen von Präsenten auf.
Doch wie zerbrechlich war die Romanze zwischen Rosemarie und Harald? Erwartete sie, die einfache Prostituierte, dass er, der reiche Stahl-Erbe, sich irgendwann offen zu der strikt geheim gehaltenen Beziehung bekannte? Wollte sie gemeinsam mit ihm verreisen? Mehr finanzielle Unterstützung? Auf all das deutet viel hin. Aber ihre geplante Begleitung auf eine seiner Dienstreisen ins Elsass ließ er kurz vor ihrem Tod unter einem Vorwand platzen. Und als sie ihn, auch das steht in den Akten, auf eine Ehe ansprach, antwortete er seiner Rosemarie brutal: wenn überhaupt, dann "auf dem Mond".
Von Bohlen und Halbach in der Vernehmung
Frankfurt, 3. November 1957, drei Tage nach dem Leichenfund. Es ist ein Sonntag. Der Mordfall wühlt die Republik auf. In den letzten 72 Stunden hat die Kripo der Mainmetropole im Appartement an der Stiftstraße Dutzende Spuren hin zur vermögenden Klientel von Nitribitt sichergestellt. Jeder der Besucher kommt als potentieller Täter, zumindest aber als Zeuge in Frage.
Die Herrschaften werden nacheinander ins Präsidium bestellt. An diesem Sonntag hat sich Harald von Bohlen und Halbach, der zwei Jahre zuvor noch prominenter Häftling in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war, früh aus Essen auf den Weg gemacht. Keiner daheim sollte das Ziel des Ausflugs erfahren. Er ist pünktlich. "Vorgeladen erscheint der Industrielle Harald von Bohlen und Halbach, geb. 30.5.16 in Essen, wohnhaft in Essen, Berenberger Mark 10", steht in den Akten der Polizei.
Von Bohlen und Halbach, den der deutsche Boulevard für den reichsten Mann Deutschlands hält, erzählt dem vernehmenden Oberkommissar Details seiner Love-Story. Wie sie ihn in der Nähe des Hotels Frankfurter Hof aus ihrem Cabrio heraus angesprochen hat. Wie man in einer nahe liegenden Pension zum ersten mal intim geworden ist. Wie er sich an der Rezeption als Gatte eintragen und sie "Rebecca" nennen musste.
Die Akten geben auch her: Das erste Date hat Harald von Bohlen und Halbach mit 200 D-Mark bezahlt. Danach? Es wurde enger. Die liebevollen Briefe. Die Geschenke. Der Geschlechtsverkehr sei "durchaus normal" abgelaufen, berichtet der Zeuge dem Kommissar. Für die Kondome habe er gesorgt. Dabei sei man nicht bei jedem der etwa zehn Treffen in ihrer Wohnung miteinander im Bett gewesen. "Ich habe sie freundschaftlich auch als Kerl gemocht."
Wo er von Dienstag, 29., bis Donnerstag, 31. Oktober gewesen sei?, fragt ihn der Hauptkommissar. Er habe in dieser Zeit Essen nicht verlassen, sagt der Zeuge.
Die verräterische Spur in der Wohnung
Die Polizei weiß zu diesem Zeitpunkt etwas mehr. Der Erkennungsdienst hat in Nitribitts Wohnung neben zahlreichen Spermaresten, Notizbüchern und Tonbändern eine angebrochene Flasche Beaujolais gefunden. Daran haften Finger- und Handabdrücke. Das ist eine verräterische Spur, denn Nitribitt war für ihre Ordnungsliebe bekannt. Sie hätte nach einem Herrenbesuch kaum eine Weinflasche offen stehen lassen. Die Handabdrücke könnten vom letzten Besucher stammen – und damit vom Mörder der jungen Frau. Als Harald das Frankfurter Präsidium verlässt, hat man ihm nichts davon erzählt. Das Labor hat noch kein Ergebnis.
Knappe drei Wochen später, am 22. November, liegt das vorläufige "daktyloskopische Gutachten" vor. Zur Nummer 9 der Asservate heißt es: "Die an der o.a. Flasche 'Beaujolais' (...) gesicherten Teilhandflächenspuren sind ohne jeden Zweifel mit dem oberen linken Teil der linken Handfläche (...) von Herrn Harald von Bohlen und Halbach (...) identisch." Das gleiche gelte für die gesicherten Teilfingerspuren.
War der Krupp-Erbe zur Tatzeit in Frankfurt? Hat es in der Wohnung eine Auseinandersetzung um eine gemeinsame Zukunft gegeben? Wurde Harald von Bohlen und Halbach dabei zum Mörder?
Neben der belastenden Tatort-Spur gibt es eine Zeugenaussage, die von Hassi Borsedi. Die eine Etage tiefer wohnende Nachbarin von Rosemarie Nitribitt will am 31. Oktober gegen 15.30 Uhr einen hellen Schrei gehört haben, dem ein schweres dumpfes Geräusch eines auf den Boden fallenden Menschen folgte.
Hauspersonal stützt das Alibi
Von Bohlen und Halbach hat der Polizei für jeden einzelnen in Frage kommenden Tattag eine überprüfbares Alibi vorgelegt – ausgerechnet für diesen Donnerstag vor Allerheiligen aber sind seine Angaben eher vage: Er glaube, "vorwiegend zu Hause gewesen zu sein". Mutter Bertha, die Patriarchin der industriellen Dynastie, war kurz zuvor gestorben. Er habe Kondolenzschreiben beantworten müssen. Das Hauspersonal rund um den Familiensitz Villa Hügel stützt ihn. Die Haushälterin, die Küchenhilfen, der Fahrer. Die Haushälterin versichert der Essener Kriminalpolizei: "Nach dem Tode seiner Mutter fühle ich mich verantwortlich. Ich würde es verspüren, wenn er längere Zeit abwesend wäre."
Es gibt keine zweite Vernehmung des 45-Jährigen. Die Ermittler der Endfünfziger haben, aus welchen Gründen auch immer, keinen verstärkten Verdacht geschöpft. Sie haben die Spur 31 im Mordfall Nitribitt, die zu Harald von Bohlen und Halbach, nach der Übernahme der Sache durch die Essener Polizei nach nur drei Tagen fallen lassen. In deren Schlussbilanz heißt es reichlich unterwürfig: Im Hause Krupp von Bohlen und Halbach herrsche bekanntermaßen "eine strenge und solide patriarchalische Lebensführung vor". Es sei "kaum glaubhaft", dass Harald von Bohlen und Halbach "in den kritischen Nächten von Essen nach Frankfurt und zurück gefahren ist", ohne, dass dies bemerkt worden wäre.
Als die Akte in Essen zugeklappt wird, haben sich die Frankfurter Kripo-Kollegen längst auf Heinz Pohlmann als Hauptverdächtigen konzentriert, den schwulen Hausfreund des Opfers. Hatte er nicht wenige Tage nach dem Mord seine Bankschulden getilgt? Hatte er sich nicht einen teuren Mercedes gekauft? Gegen ihn kommt es schließlich zur Anklage. Raubmord. Doch demütigender kann eine Niederlage der Staatsanwälte vor dem Richtertisch nicht ausfallen. Nach kurzer Verhandlungsdauer wird Pohlmann am 13. Juli 1960 freigesprochen. Es gibt keinerlei Beweise für seine Schuld. Der Schlussstrich.
Mordfall wird zum Stoff für Filme
In den Jahrzehnten nach dem Urteil ist aus dem ungelösten Mordfall Nitribitt die Gesellschaftsgeschichte vom Mädchen Rosemarie geworden, aus dem Krimi ein Unterhaltungsstoff, der die Kaufzeitungen, Illustrierten und Frauenhefte beschäftigte. Polizei und Justiz schützten die Identität der Kunden der ermordeten Prostituierten und die der Zeugen, so lange es ging, darunter auch Harald von Bohlen und Halbach.
Dass Hausfreund Pohlmann die Krupps mit der Nennung von Haralds Namen in einer Illustrierte erpresst hat, dass der Generalbevollmächtigte des Konzerns, Berthold Beitz, nach einem "Beichtgespräch" mit Harald wohl zumindest mit einem kleinen Betrag auf die Erpressung eingegangen ist und die Nennung vielleicht so verhindern konnte? Auch das wurde erst viel später bekannt.
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Harald von Bohlen und Halbach heiratete und starb 1983 im Alter von 67 Jahren an einer Infektion, die er sich bei einer Auslandsreise zugezogen hatte. Heinz Pohlmann lebte, finanziell gut ausgestattet, bis zu seinem Tod 1995 in München. Berthold Beitz – möglicherweise der letzte Wissende um das Drama in der Stiftstraße – ist am 31. Juli 2013, acht Wochen vor seinem 100. Geburtstag, in Kampen auf Sylt verstorben. Nur wenig später tauchten die verschwundenen 22 Polizeiakten auf.
Rosemarie Nitribitts auffälliges, schlankes Grab im Gräberfeld 95 des Düsseldorfer Nordfriedhofs ist 2008 noch einmal geöffnet worden. Man fügte auf nachdrückliches Verlangen der Angehörigen den sterblichen Überresten des Körpers den Kopf des Mordopfers hinzu. Zuvor hatte er ein halbes Jahrhundert im Frankfurter Kriminalmuseum gelegen und dort – wegen der gut sichtbaren schweren Schädelverletzungen – als Lehrmaterial für den Kripo-Nachwuchs gedient.
- eigene Recherchen
- Akten zum Mordfall im Staatsarchiv Hessen
- Focus, Bild