Gift im Pausenbrot Mutmaßlicher Giftmischer war "auffällig unauffällig"
Giftmord-Verdacht in einer westfälischen Armaturenfabrik: Warum strich ein 56-jähriger Mitarbeiter einem Kollegen Bleiacetat aufs Brot? 21 Todesfälle aus den letzten 18 Jahre werden untersucht. Giftmorde werden vielfach gar nicht oder sehr spät entdeckt.
Im als so ruhig bekannte Ostwestfalen ist es ein riesiger Fall. Die Polizeidirektionen von Bielefeld, Paderborn, Gütersloh und Lippe und das Landeskriminalamt (LKA) gehen seit Mai einem schlimmen Verdacht nach. Ist hier, im 27.000-Einwohner-Städtchen Schloß Holte-Stukenbrock, seit zwei Jahrzehnten ein Serienmörder unter der Belegschaft?
Die Firma Ari baut Armaturen für HighTech-Unternehmen in der ganzen Welt. Dafür sorgen 700 Mitarbeiter in den Produktionshallen in der Mergelheide. Manche von ihnen sind schon sehr lange da - wie Klaus O., der hier seit 38 Jahren "auffällig unauffällig" tätig war, wie der Personalchef sagt.
In der heimischen Küche Gift gemischt?
Der Name Klaus O. macht der Belegschaft seit einigen Wochen Angst. Und das noch ein bisschen mehr, nachdem das LKA aus Düsseldorf einen besorgniserregenden und O. belastenden Bericht vorgelegt hat. Es könnte sein, dass der 56-Jährige seit langem versucht hat, Kollegen mit Gift zu töten.
Er könnte dazu in seiner heimischen Küche im Bielefelder Stadtteil Senne toxische chemische Stoffe wie Bleiacetat, Quecksilber oder Cadmium gemischt und den Bekannten am Arbeitsplatz auf die Pausenbrote gemischt haben.
Folgen stellen sich schleichend ein
Was die potenziellen Opfer am meisten umtreibt: Die Substanz macht erst auf lange Sicht krank. Niemand muss sofort merken, dass ihm tödlicher Aufstrich ins Essen gepackt wurde.
Bisher ist kein Mord nachgewiesen. Aber nicht wenige der Kollegen raunen seit einiger Zeit, dass eine ungewöhnlich hohe Zahl von Mitarbeitern gestorben ist, die noch nicht einmal das Rentenalter erreicht hatten. Mindestens drei dieser Todesfälle hat man sich bei Ari überhaupt nicht erklären können.
Das Landeskriminalamt denkt laut einer Erklärung der Bielefelder Polizei in eine ähnliche Richtung: "Die Ermittlungen konzentrieren sich auf die Aufklärung aller Todesfälle in der Firma seit dem Jahr 2000. Dabei werden 21 Fälle, in denen Mitarbeiter vor Eintritt in den Ruhestand verstorben sind, betrachtet". Bei diesen 21 Fällen "gab es aus der Sicht der Ermittlungsbehörden eine auffallend hohe Zahl von Herzinfarkten und Krebserkrankungen". Ursache könnten durchaus Schwermetallvergiftungen sein.
Mitarbeiter entdeckte weiße Substanz auf der Stulle
In drei anderen Fällen ist der Verdacht auf Vergiftung bereits konkreter: Ein Belegschaftsmitglied liegt seit zwei Jahren im Koma, ein zweites wurde zum Dialysepatienten. Ein dritter Mann, erst 26 Jahre alt, hat den Anschlag auf seine Stulle in diesem Frühsommer rechtzeitig bemerkt. Ihm ist der Alarm zu verdanken.
Anfang Mai: Der 26-Jährige will in sein Brot beißen, als er darauf eine merkwürdige weiße Substanz entdeckt. Er rührt das Lebensmittel nicht an, wendet sich zunächst an den Betriebsrat des Unternehmens und erstattet Anzeige.
Zunächst glaubt man im Betrieb an einen schlechten Scherz, erinnert sich Personalleiter Tilo Blechinger. Doch als eine erste Analyse die mögliche Gefährlichkeit des Stoffes ergibt, installiert die Betriebsleitung eine Überwachungskamera im Pausenraum.
Tage später schnappt die Falle zu. Am 16. Mai, dem Mittwoch vor Pfingsten, läuft O. ins Bild. Er macht sich an einer der Brotdosen zu schaffen. Noch am gleichen Tag wird er wegen des Verdachts auf versuchten Mord festgenommen und in die U-Haft in die Vollzugsanstalt Bielefeld-Sennestadt gebracht. Bei Durchsuchungen in der Wohnung des Verdächtigen finden die Fahnder eine Chemie-Küche mit einschlägigen hochgiftigen Substanzen vor, die tödlich wirken können.
Exhumierungen werden geprüft
Der Inhaftierte schweigt zum Vorwurf der Giftmischerei. Doch jetzt liegt der 15-köpfigen "Mordkommission Mergel" das Gutachten des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes vor. Es liefert einen zentralen Hinweis: "Auf den sichergestellten Pausenbroten war toxisches Bleiacetat in Mengen aufgebracht, welche geeignet waren, schwere Organschäden herbeizuführen".
Krankenakten werden gewälzt, ehemalige behandelnde Ärzte befragt, in Absprache mit Rechtsmedizinern seien Exhumierungen nicht ausgeschlossen, teilte die Bielefelder Polizei mit. Gifte können bei Exhumierungen noch nach langer Zeit identifiziert werden. War hier ein Serienkiller unterwegs? Welches Motiv könnte er gehabt haben? Hatte nie jemand etwas in den letzten Jahren bemerkt?
Giftmorde hatten im Mittelalter Hochkonjunktur
Morde von Giftmischern sind im Bewusstsein der Öffentlichkeit tatsächlich eher eine Sache des späten Mittelalters. Große Adelsgeschlechter setzten Mitte des 16. Jahrhunderts Arsen ein, um gefährliche Gegner oder Konkurrenten zu beseitigen. Auch Päpste gaben den Auftrag zu Giftmorden – oder kamen selbst auf diese Weise um. Die Gruften in den Kathedralen der italienischen Stadtstaaten unter den Borgias und Medicis sind voll von Opfern, die urplötzlich erkrankten und nach endlosen Qualen hinschieden.
"Erbfolge-Pulver" nannten Zeitgenossen die zunächst unauffällige, aber mörderische Waffe zynisch. Unter dem Begriff Aqua Tofana waren Mittelchen bekannt, mit dem Gattinnen und Gatten aus dem Weg geschafft wurden.
Doch auch die Zeiten der schnell nachweisbaren Giftstoffe Arsen und Zyankali sind vorbei. Selbst der bewusst herbeigeführte Tod per Gasleitung mit dem neuzeitlichen Kohlenmonoxid kommt heute kaum mehr vor. Gas ist längst „entgiftet“ worden. Die aktuellen chemischen Mordwaffen sind anderer Natur. Polonium gehört dazu, dessen Einsatz gegen Gegner russischen Geheimdiensten zugeordnet wird.
Pläne für Anschlag mit Rizin aufgedeckt
Oder Rizin, ein Pressrückstand des Rizinusöls. Rizin kann schon in einer Dosis von einem Gramm 1000 Menschen umbringen. Ein mutmaßlicher Islamist hat den Mix gerade erst in seiner Kölner Bleibe hergestellt. Vielleicht zum Bau einer Bio-Bombe, wie der Verfassungsschutz vermutet.
Das Haus musste unter hohen Sicherheitsvorkehrungen geräumt werden. Auch diese Aufdeckung vor zwei Wochen war eine spektakuläre Sache für das LKA in NRW. Nach dem Fall fordert der Direktor des Instituts für Toxikologie der Universitätsmedizin Mainz, Thomas Hofmann, eine Meldepflicht für Ausgangsstoffe zur Giftherstellung. Eine Expertenkommission solle alle schwer toxischen Stoffe und Pflanzen auf eine Liste setzen und für diese eine Regulierung festlegen.
Bleiacetat stammt nicht aus Ari-Beständen
Jetzt haben die Experten dort in den Labors am Düsseldorfer Rheinufer Bleiacetat auf den Pausenbroten aus Holte-Stukenbrock festgestellt. Das ist ein weißes Kristall, auch in Pulverform, das verschluckt Übelkeit, Erbrechen, Verstopfungen und Magenkrämpfe hervorrufen kann.
Ziemlich bald nach der Einnahme greift es aber das Blut an und schädigt das zentrale Nervensystem. Herz und Kreislauf können in Mitleidenschaft geraten, eine Krebsentwicklung ist nicht ausgeschlossen. Vorbeugend hat die Chefetage von Ari versichert, das gefundene Gift stamme nicht aus dem Betrieb. Das bestätigt auch die Polizei. Woher Klaus O. es haben könnte? Es ist offen.
Fälle unentdeckt durch zu wenige Rechtsmediziner
Rechtsmediziner glauben, dass viele Tötungsdelikte gar nicht erst entdeckt werden – auch, weil rechtsmedizinische Institute personell unterbesetzt sind oder ganz aufgelöst wurden. Sie schätzen die Zahl der nicht entdeckten Opfer auf bis zu 2000 im Jahr. Nicht wenige Gifttote könnten unter ihnen sein, zumal seit einiger Zeit ein sensibler Tatort Auffälligkeiten zeigt: Krankenhäuser. Im täglichen Betrieb kann dort kaum jemand den Einsatz aller nötigen Arzneien genau überwachen.
Es war in Oldenburg so, wo der Krankenpfleger Niels H. mit schweren Medikamenten bis zu 100 Patienten getötet haben könnte. Er ist wegen Doppelmordes verurteilt. Weiteren Verdachtsfälle führen dazu, dass die Akte nicht geschlossen wird, er ist wegen 97 weiterer Fälle angeklagt.
Lebenslang hinter Gitter sitzt Stephan L. aus Sonthofen im Allgäu. Dort im Krankenhaus hat er 28 Menschen auf ähnliche Weise getötet. „Selbstherrlich und wie am Fließband“, hieß es in der Anklage der Staatsanwaltschaft.
In München spritzte eine Hebamme vier Frauen lebensgefährliche Blutverdünner. Die Opfer konnten noch gerettet werden. Das Motiv? Unklar.
Nur wenige Gift-Fälle in der Statistik
Und erst vor einem Jahr deckte eine Cybereinheit der Kölner Polizei den Verkauf hochgiftiger Substanzen im Darknet auf. Drei Verdächtige aus Hamm in NRW und Mölln in Schleswig-Holstein wurden verhaftet. Auf der Shopping-Liste im Internet stand auch Carfentanyl. 200 Milligramm davon, eingeatmet durch die Haut, sind tödlich.
In der Kriminalstatistik hingegen taucht Gift – anders als im späten Mittelalter - als Waffe kaum auf. Gemordet wird mit Schusswaffen, Messern, mit schweren Gegenständen. Eine Untersuchung der Uni Bonn ergab für den Zeitraum von 1996 bis 2005 gerade 15 Giftmorde bei insgesamt 882 Tötungsdelikten. 1,7 Prozent.
In Ostwestfallen gab es auch Fanta-Mord
Dennoch ist ein Fall wie der des verdächtigen Klaus O. nicht ganz so selten. Dezember 2006. In Minden stirbt, nicht weit vom möglichen Tatort in Holte-Stukenbrock und unter fast vergleichbaren Umständen, der 44-Jährige Familienvater Johann Isaak in einem Werk des Chemiekonzerns BASF. Er hatte eine Flasche mit Fanta-Limonade in einem Kühlschrank des Pausenraums deponiert und daraus getrunken.
Die Fanta war mit Zyanid versetzt. Als nach dem Tod des Mannes Ermittler an die Arbeit gehen, kommen zwei von ihnen in Kontakt mit giftigen Dämpfen und werden verletzt. Auch noch eine zweite Flasche wird entdeckt, sie gehört einem Arbeitskollegen.
Bis heute ist der Mordfall Isaak ungeklärt. Die vage Spekulation: Möglicherweise handelte es sich um Rache eines entlassenen Mitarbeiters. BASF hatte damals 190 der 500 Vollzeitstellen abgebaut.
Was aber trieb den mutmaßlichen Giftmischer bei Ari? Der Vorgang ist voller Rätsel.
- Erklärung der Polizei und Staatsanwaltschaft
- Bericht des Westfalen-Blatts möglichen Exhumierungen