Massenmord in Las Vegas Das Massaker in der Partystadt
Las Vegas war nie eine Stadt der Unschuld. Nach dem beispiellosen Attentat hat dieser Ort, den die Menschen aufsuchen, um sich zu vergessen, für immer einen blutigen Makel.
Von Daniel C. Schmidt, Washington
Als kurz vor sieben Uhr am Morgen die aufgehende Sonne auf Las Vegas fiel, konnte man die beiden Fenster genau sehen. Oder das, was von ihnen übrig war. Dort oben, im 32. Stock des "Mandalay Bay Resort & Casino", einem Hotel am südlichen Ende des South Las Vegas Boulevard, flatterten die dunklen Vorhänge im Wind an der Nord- und Ostseite des Zimmers. Die Fenster waren eingeschlagen. Aus der Ferne betrachtet sahen die zerborstenen Scheiben aus wie schwarze Löcher in einem golden schimmernden Panzer.
Zuerst klingt es wie ein Feuerwerk
Von dort oben aus hatte der mutmaßliche Täter, den die Polizei später als Stephen Paddock identifizierte, nur wenige Stunde zuvor seine Schüsse abgefeuert – und dabei mehr als 59 Menschen getötet und weit über 500 Zuschauer eines Country-Festivals verletzt, an dem laut Veranstalter rund 20.000 Gäste teilnahmen. Das Attentat ist eins der blutigsten in jüngster amerikanischer Vergangenheit.
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Papp-papp-papp. Auf den Aufnahmen, die von dem Festival im Internet kursieren, klingt es im ersten Augenblick wie harmlose Feuerwerkskörper. Bis klar wird: Es fallen Schüsse.
"Ihre Hände waren voller Blut"
"Es war kurz nach zehn und wir hörten dieses komische Geräusch", erzählt Gail Davis, eine Zuschauerin des Konzerts, noch in der Nacht dem Sender CBS. "Wir haben uns angeguckt und gedacht, dass das nur Feuerwerk sein kann. Aber es hörte nicht auf. Dann sagte mein Mann: Das ist kein Feuerwerk, das klingt wie Schüsse von einer halbautomatischen Waffe."
Anschließend sei Panik ausgebrochen, sagt Davis. Alle hätten angefangen zu schreien und seien los gelaufen. "Ich hab nach rechts geguckt, wo dieses Mädchen stand. Sie stand da und hielt sich den Bauch. Sie hatte diese kurzen, abgeschnittenen Jeans an, ein bauchfreies Oberteil, Cowboy-Boots. Sie sah auf ihre Hände. Sie waren voller Blut. Das Mädchen schrie und fiel um. Wir riefen um Hilfe, und plötzlich gingen die Schüsse wieder los."
Wer hier hinkommt, will Spaß haben
Las Vegas ist ein seltsamer Ort. Mitten in der Wüste von Nevada türmt sich dieser glitzernde Koloss aus dem Nichts auf. Eine Stadt der Unschuld ist und war Las Vegas nie, man verliert sie hier für gewöhnlich. Die Würfel fallen 24 Stunden lang, 365 Tage. Wer hier hinkommt, will Spaß haben, immer gewinnen, manchmal sich verlieren. Es ist zweifellos möglich, dass in diesem Augenblick jemand abgebrannt aus einem Kasino stolpert und noch nichts von dem Attentat mitbekommen hat.
In der Polizeistatistik ist bis Ende 2014 die Zahl an Morden, Überfällen und Vergewaltigungen in Las Vegas in den vergangenen drei Jahren wieder angestiegen. Das letzte große Attentat fand im Sommer 2014 statt, als ein verheiratetes Pärchen sich eine Schießerei mit der Polizei leistete. Fünf Menschen starben insgesamt.
"Es ist ein scheußlicher, greller Ort"
"Ich trete in Vegas immer nur für eine Nacht auf", sagte der Schauspieler Robin Williams einmal über seine Engagements als Komiker in der Stadt, die nachts im Neonlicht viele zwielichtige Figuren anzieht. "Es ist ein scheußlicher, greller Ort; nicht das Ende der Welt an sich, aber man kann es definitiv von hier sehen."
Was nicht heißt, dass die Menschen, die in dieser Stadt leben, sich nicht kümmern würden: Bereits im Morgengrauen formierten sich lange Schlangen an den Blutspende-Stationen.
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Bei mehr als 500 Verletzten eine der ersten lebensrettenden Maßnahmen: "Genügend Blutspenden zu haben, ist für die umliegenden Krankenhäuser, die innerhalb von wenigen Stunden mehr als hundert Verletzte aufgenommen haben, jetzt entscheidend", sagte der Arzt David Agus. "Die Blutkonserven sind bei vielen Patienten die einzige Maßnahme, um sie aus ihrem kritischen in einen stabilen Zustand zu überführen. Wer kann, sollte heute hier Blut spenden, damit die Zahl der Opfer nicht weiter steigt."
"Wir haben hier zwölf Patienten, deren Zustand weiter kritisch ist", sagte Danita Cohen, Sprecherin des University Medical Center in Las Vegas am Morgen. "Acht mussten sofort notoperiert werden."
Täter wohnte in einer Rentner-Stadt
Während die Mediziner weiter um das Leben der Patienten kämpfen, haben die Behörden ihre Untersuchungen aufgenommen. Nach Angaben der Polizei soll der Täter, Stephen Paddock, 64 Jahre alt sein und sich selbst hingerichtet haben, bevor die Polizei sein Hotelzimmer im 32. Stock stürmen konnte. Paddock war laut County Sheriff Joseph Lombardo bereits am 28. September im Mandalay Bay abgestiegen, angereist aus dem etwa 120 Kilometer entfernten Ort Mesquite, einer Kleinstadt beliebt bei Rentnern. Bei einer Hausdurchsuchung vor Ort fand die Polizei weitere Waffen und Munition.
Die Frage, die sich nun stellt: Wenn Paddock, bei dem der Polizei nach "mehr als zehn Waffen, darunter eine automatische" gefunden wurden, bereits vor Tagen hier eingecheckt hatte, wie hat er die Gewehre ins Hotel geschmuggelt und warum sind sie nicht entdeckt worden?
"Ich weiß nicht, wie wir diese Tat hätten verhindern können"
Das Reinigungspersonal habe im Hotel das Zimmer in den vergangenen Tagen zum Saubermachen betreten, aber nichts bemerkt, sagte die Polizei. Zurzeit werten die Behörden das Videomaterial rund um das Hotel aus. Das Motiv bleibt weiter unklar, sagte Sheriff Lombardo: Man werde das Attentat nicht als Terrorakt bezeichnen, bis man sich sicher sei, welche Motivation Paddock gehabt habe.
"Wir haben keine Punkte im Verkehrsregister, keine Polizeimeldungen, keine Festnahmen, nichts", sagte Quinn Averett, Pressesprecher der Polizei Mesquite, auf Anfrage. "Wir haben keine Kenntnis [in unserer Datenbank] zu dieser Person", sagte Sheriff Lombardo in Las Vegas. "Ich weiß nicht, wie wir diese Tat hätten verhindern können."
"Er war ein wohlhabender Typ, der Poker gespielt hat", erzählte Eric Paddock am Morgen Reportern, die ihn vor seinem Haus in Orlando, Florida, überraschten. Sein Bruder Stephen habe als Buchhalter gearbeitet und sei vor ein paar Jahren in Rente gegangen. Er habe nach einer gescheiterten Ehe mit seiner Freundin zusammengelebt, von Kindern wisse Eric Paddock nichts.
Die Freundin könnte Marilou Danley sein. Laut Behörden hielt sie sich zur Zeit der Schießerei "außerhalb des Landes" auf. Die Polizei habe Danley vernommen, so Sheriff Lombardo. Man gehe nicht davon aus, dass sie in das Attentat verwickelt sei.
Das letzte Mal hätten die Brüder vor ein, zwei Wochen Kontakt gehabt, erzählt Eric Paddock: "Er hat mir geschrieben, ob es unserer Mutter gut geht. Sie hatte keinen Strom nach dem Hurrikan." Er habe ihr eine Gehhilfe geschickt, weil sie Probleme beim Laufen gehabt hätte.
Woher hatte er das Maschinengewehr?
Wer war Stephen Paddock, der mutmaßlich Attentäter? "Er war mein Bruder. Wir sind sprachlos und geschockt, weil es nichts gibt, was ich Ihnen sagen kann: Er ist aufs College gegangen, er hat gearbeitet… Ich weiß nichts davon, dass er sauer oder unzufrieden war. Er war nicht religiös oder politisch aktiv. Es gibt keinen Grund, warum ich das nicht erzählen würde. Ich wünschte, ich könnte, um es selbst zu verstehen", sagte Eric Paddock, der um ein Uhr morgens von der Polizei geweckt und über seinen Bruder informiert wurde. "Sie werden sehen, er hatte ein paar Pistolen, vielleicht ein Gewehr. Ich weiß das, ich hab ihm beim Umzug nach Mesquite geholfen. Ich möchte bloß wissen, wo er das Maschinengewehr her hat."
In den USA, dem wohl einzigen Land, in dem diese Art von Massenschießereien in trauriger Regelmäßigkeit stattfinden, gibt es zwei nationale Reflexe: Die Bevölkerung kauft sich im Anschluss an diese Taten mehr Waffen, um sich in ein Gefühl falscher Sicherheit zu betten, während die Politik ihr Bedenken, Trauer und Mitleid mit den Opfern und Familien äußert – und sich nichts ändert.
"Ein Akt des absoluten Bösen"
Präsident Donald Trump, der am Mittwoch nach Las Vegas reist, nannte in seiner Ansprache das Attentat einen "Akt des absolut Bösen", ließ aber merklich aus, von Terror oder über Waffengesetze zu sprechen. Die Waffenlobby in den USA ist nach all den Schüssen, Toten und Verletzten weiterhin ein mächtiger Verbund, über den einzelne Politiker im Kongress schützend ihre Hand legen. In den USA gibt es ungefähr so viele Waffen wie Einwohner. Bekanntlich verteilt diese Millionenindustrie großzügige Spenden an den richtigen Stellen, um sich Einfluss zu sichern. Politiker berufen sich wunderbarerweise oft auf das Second Amendment, das in der amerikanischen Verfassung garantierte Recht, eine Waffe tragen zu dürfen, und blockieren damit schärfere Gesetzesentwürfe. Obwohl die Statistik einen Zusammenhang aus Gesetzgebung und Anzahl der Waffen sieht.
In Nevada gelten relativ laxe Gesetze: Anwohner des Bundesstaates brauchen weder eine Genehmigung noch müssen sie sich registrieren lassen, wenn sie eine Pistole, Gewehr oder Schrotflinte kaufen. Für semi-automatische Gewehre gibt es beim Kauf kein Patronenlimit.
"Wenn jemand solche Gedanken hegt, ist es ganz egal, was wir für Gesetze haben", sagte Don Turner, Präsident der National Rifle Association (NRA) von Nevada nach Bekanntwerden des Attentats. "In der Hitze des Augenblicks gibt es die Tendenz, lautstark Anti-Waffengesetze zu fordern. Lassen Sie uns abwarten und herausfinden, was in diesem Fall wirklich passiert ist."
Jason Aldean, der beim "Route 91 Harvest"-Festival auf der Bühne stand, als die Schüsse fielen, sagte in einem Statement: "Ich habe keine Worte für das, was hier passiert ist. Es bricht mir das Herz, dass Menschen verletzt wurden, die hier herkamen, um sich zu amüsieren."
Las Vegas, die Amüsiermeile. Die Stadt wird dahin wieder zurückkehren, die Würfel fallen, Chips werden gesetzt, die Bank gewinnt, der Spieler verliert – selbst nach diesem schrecklichen Ereignis, es ist der Daseinszweck von Las Vegas. Aber ein Makel wird dieser 1. Oktober für immer bleiben.