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Anschlag in Hanau am 19. Februar: Serpil Unvar kämpft gegen die Angst


Serpil Unvar über ein Leben nach Hanau
"Der Schmerz wird nie weggehen"

InterviewVon Julia Reinl

Aktualisiert am 31.03.2025 - 15:13 UhrLesedauer: 5 Min.
Serpil Temiz Unvar: Sie hat bei dem Anschlag von Hanau ihren Sohn verloren.Vergrößern des Bildes
Serpil Temiz Unvar: "Ich habe alle Ängste erlebt." (Quelle: privat)
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Serpil Unvar hat am 19. Februar 2020 ihren Sohn Ferhat verloren. Ein Rechtsterrorist hat ihn und acht weitere Menschen in Hanau getötet. Fünf Jahre nach der Tat kämpft eine Mutter gegen die Angst.

Ferhat Unvar wurde nur 22 Jahre alt. Oft traf er sich mit Freunden in der "Arena Bar", einem Lokal im Erdgeschoss eines Wohnhauses in Hanau-Kesselstadt. So auch am Abend des 19. Februar. Im Kiosk, der an die Bar angrenzt, erschießt ein Mann Unvar gegen 22 Uhr. Mit ihm im Kiosk werden Gökhan Gültekin und Mercedes Kierpacz sowie im Bereich der Bar Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović erschossen.

Anschlag in Hanau

Am 19. Februar 2020 ermordete ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven.
Gegen 21.50 Uhr eröffnete er am Hanauer Heumarkt mit einer Schusswaffe das Feuer und tötete Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Sedat Gürbüz. Der 43-jährige Mann floh mit dem Auto nach Hanau-Kesselstadt. Dort erschoss er gegen 22 Uhr Vili Viorel Păun, der ihm im Auto vom Heumarkt aus gefolgt war, auf einem Parkplatz. Wenige Minuten später stürmte er die "Arena Bar & Cafe". Dort erschoss er Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz und Ferhat Unvar im Kiosk. Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović tötete er in der angrenzenden Bar.
Im Anschluss fuhr er zurück in sein Elternhaus, ebenfalls in Hanau-Kesselstadt. Dort tötete er erst seine Mutter, dann sich selbst. Weitere Details zum Anschlag lesen Sie hier.

Über die Tat kann Serpil Unvar auch nach fünf Jahren nicht sprechen. Zu sehr würde sie sich wieder in die Situation hineinbegeben, sagt sie. Zu sehr würde sie wieder damit konfrontiert, dass ein Rassist ihren Sohn Ferhat in Hanau getötet hat. Trotzdem spricht sie mit t-online darüber, wie es ist, ein Kind bei einem Anschlag zu verlieren, und über die Frage: Wovor haben Sie Angst, Frau Unvar?

Das ist ihre Antwort.

Serpil Unvar: "Seit dem 19. Februar habe ich keine Angst mehr um mich selbst. Ein Privatleben gibt es für mich nicht mehr. Ich lebe mein Leben jetzt für andere. Obwohl ich nie allein bin, junge Menschen mir Kraft und Unterstützung geben, bin ich auch sehr müde. Manchmal weiß ich nicht, wie ich weitermachen soll. Ferhat hat mit seinem Leben bezahlt. Er ist nicht mehr da, deshalb habe ich keine andere Möglichkeit, als weiterzumachen. Ich habe den größten Schmerz erlebt. Der Schmerz wird nie weggehen. Mein Kind ist ein Teil von mir, und dieser Teil ist nicht mehr da. Wovor soll ich noch Angst haben?

"Wir begeben uns in Lebensgefahr"

Früher hatte ich Angst vor Männern. Ich weiß, wie es ist, von einem Mann bedroht zu werden. Ich weiß, was es heißt, sich als Frau von einem Mann zu trennen. Wir werden bedroht und begeben uns in Lebensgefahr. Viele Frauen können sich nicht scheiden lassen, weil sie nicht ausreichend Unterstützung erhalten. Sie müssen weiter in Gefahr leben. Ich selbst habe das 19 Jahre lang erlebt. Das war nicht leicht. Ich hatte keine Angst vor der Scheidung, sondern vor dem Danach. Für meine Scheidung musste ich den Kontakt zu Freunden und Familie abbrechen. Sonst hätte ich es nicht geschafft. Nicht jede Frau kann das schaffen. Das ist in Deutschland nicht anders als in der Türkei. Wir werden nicht ernst genommen, bis wir tot sind. Aktuelle Gesetze schützen uns nicht, das zeigt die hohe Anzahl von Femiziden.

Heute habe ich zwar um mich selbst keine Angst mehr. Aber ich habe Angst um meine Tochter, weil ich weiß, wie es ist, ein Kind zu verlieren. Es ist nicht immer ein Rechtsextremist, der unsere Kinder tötet, aber es ist fast immer ein Mann.

"Ich werde das Vergessen nicht zulassen"

Ferhat hat gesagt: "Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst." Das Schlimmste am Tod ist, dass Menschen denken, dass wir sie vergessen. Ich werde das Vergessen nicht zulassen. Dafür kämpfen wir.

Wir vergessen, weil wir uns nicht ständig an schlimme Erlebnisse erinnern können. Aber das macht es oft noch schlimmer. Ich kann vor dem Schmerz und vor den Erinnerungen nicht weglaufen. Egal, wohin ich gehe, sie kommen mit mir. Andere schauen weg und vergessen, weil sie denken, die Probleme betreffen sie nicht. Es fehlt uns an gesellschaftlichem Zusammenhalt, und das macht mir Angst.

"Ferhat lebt weiter mit mir"

Trotzdem glaube ich an das Gute in den Menschen. Als der Vater des Täters vor meiner Haustür stand, hielt ich ihn für einen harmlosen alten Mann. Ich habe nett mit ihm geredet, ich wusste nicht, wer er ist. Erst später merkte ich, wozu er fähig war. Er ist Mittäter. Er möchte an unserem Leben teilhaben. Das war keine Angst oder Todesangst, die ich vor ihm hatte. Es war psychischer Terror. Er hat uns alle kaputt gemacht. Und die Spuren davon bleiben. Nicht eine Sekunde habe ich aber daran gedacht, aus Hanau wegzuziehen. Hier in der Wohnung erinnert mich alles an Ferhat. Es ist alles noch wie früher. Sein Zimmer, seine Klamotten. Ferhat lebt weiter mit mir.

Der Vater des Täters ist unser Nachbar. Ich kann ihn zufällig treffen und muss mich selbst vor ihm schützen. Er macht uns zu Tätern, die wir nicht sind. Er möchte uns die Schuld für den Tod seines Sohnes und seiner Frau geben. Ihren Tod hat er nicht akzeptiert.

Es war sein Sohn, der Ferhat getötet hat. Es war sein Sohn, der uns unsere Kinder genommen hat. Wie hasserfüllt ein Mensch sein kann, habe ich bei seinem Vater zum ersten Mal gesehen. Ich verstehe nicht, woher dieser Hass kommt. Ich verstehe nicht, wie ein Mensch so sehr hassen kann.

"Ich will nicht noch mehr Kinder verlieren"

Ich habe Angst vor der Zukunft und diese Angst wird Tag für Tag größer. Unser System versagt und die Politik spaltet die Gesellschaft. Die Wahlergebnisse bereiten mir Sorgen. Ich habe Angst um meine Kinder. Ich will nicht noch mehr Kinder verlieren. Wir müssen über die Fehler reden, um aus ihnen zu lernen. Aber das tun wir nicht.

Wir nehmen Hanau nicht ernst. Wie viele Anschläge sind seitdem passiert? Mannheim, Magdeburg, München. Aus meiner Sicht ist es egal, ob es ein Rassist ist, ein Islamist, ein Antisemit oder ein Rechtsextremist. Wir bringen unseren Kindern nicht bei, wie man zusammenleben kann und dass Hass sinnlos ist. Es reicht nicht, wenn wir den Rechtsextremismus allein bekämpfen. Ich kämpfe für Menschlichkeit. Für Verständnis, Empathie und Rechte. Für Ferhat. Ich kämpfe für meine Kinder. Als Mutter muss ich für sie stark sein. Sie brauchen mich. Ich habe nur noch dieses Leben, ein anderes gibt es nicht mehr. Manchmal vermisse ich Tage, an denen wir einfach nur chillen.

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Gedenktag und Demonstration zwei Jahre nach dem rassistischen Anschlag von Hanau 19.02.2022 Zwei Jahre nach dem rassistischen Anschlag von Hanau, bei dem Ferhat Unvar, Hamza Kurtovic, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Paun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saracoglu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin ihr Leben verloren, wird in Hanau der Toten gedacht. Hunderte Menschen demonstrieren für eine angemessene Erinnerung, soziale Gerechtigkeit, lückenlose Aufklärung und politische Konsequenzen. *** Day of re (Quelle: via www.imago-images.de/imago)

Bildungsinitiative Ferhat Unvar

Am 14. November 2020, Ferhat Unvars Geburtstag, gründete Serpil Temiz Unvar die Bildungsinitiative Ferhat Unvar. Sie soll eine Anlaufstelle sein für Kinder, Jugendliche und deren Eltern, die rassistische Erfahrungen machen. Sie schafft einen Raum für Aufklärung, Zusammenhalt und ein friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen. Die Initiative wird von der Familie Unvar und Unterstützern getragen und setzt sich u. a. mit Workshops und Vorträgen gegen Rassismus ein.

Ferhat war ein starker junger Mann. Niemals hätte ich geglaubt, dass ich ihn verlieren könnte. Ich war mir sicher, er würde irgendwann verstehen, warum ich so hart zu ihm war: Weil es nicht leicht ist, das Leben zu lernen. Heute bin ich anders zu meinen Kindern. Ich zeige mehr Nähe und Verständnis. Sie müssen nicht alles von mir lernen. Sie schaffen das allein.

Wenn man Liebe teilt und zeigt, verbreitet sie sich. Und sie wird jeden Tag größer. Junge Menschen brauchen Vertrauen und Liebe. Es ist unsere Verantwortung als Mensch, Gutes zu tun, um nachfolgenden Generationen eine Zukunft zu ermöglichen. Wir können unseren Kindern keine schlechte Welt hinterlassen. Wir dürfen Kinder nicht mit Hass großziehen."

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