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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Frankreich vor historischem Prozess Kinder vergewaltigt: Sexpuppen, geheime Tagebücher und 300 Opfer
Ein angesehener Chirurg, ein düsteres Doppelleben: Der Missbrauch von 300 Kindern blieb über Jahrzehnte verborgen. Wie war das möglich? Ein historischer Prozess soll Antworten liefern.
Joel Le Scouarnec war einst ein angesehener französischer Chirurg. Jahrzehntelang behandelte er Patienten aus der gesamten Bretagne – bis er 2017 in den Verdacht geriet, seine Nichte und zwei weitere Mädchen vergewaltigt zu haben. Eines seiner jungen Opfer hatte seinen Eltern von dem Übergriff berichtet. Als die Beamten daraufhin zur Festnahme anrückten, fanden sie den Einsiedler in einem großen, heruntergekommenen Haus vor – umgeben von Sexpuppen in Kindergröße.
Bei der anschließenden Durchsuchung entdeckte die Polizei weiteres erschreckendes Beweismaterial, darunter mehr als 300.000 Bilder, die Kindesmissbrauch zeigten, und schockierende Tagebücher. Über 25 Jahre hinweg hatte Le Scouarnec seine Taten sorgfältig protokolliert. Auf tausenden Seiten hielt er fest, wie er sich an seinen kleinen Patienten verging. Es seien lediglich "Fantasien", verteidigte sich der Arzt. Doch mehrfach gestand er selbst in den Tagebüchern: "Ich bin ein Pädophiler."
Wegen der Vergewaltigung seiner Nichte und zweier weiterer Mädchen wurde Le Scouarnec 2020 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Nun bereitet sich Frankreich auf den größten Kindesmissbrauchs-Prozess in der französischen Geschichte vor. Der 73-Jährige wird beschuldigt, zwischen 1989 und 2014 insgesamt 299 Kinder missbraucht zu haben – oft, als sie unter Narkose waren. Gegen Le Scouarnec laufen mehr als 100 Anklagen wegen Vergewaltigung und mehr als 150 Anklagen wegen sexueller Nötigung.
FBI warnte Frankreich bereits Anfang der 2000er vor Le Scouarnec
Einige der Anklagepunkte hat Le Scouarnec bereits gestanden, jedoch nicht alle. Im Prozess in Vannes im Nordwesten Frankreichs wird nun auch die Frage geklärt werden müssen, wie der Arzt sich jahrzehntelang ungestraft an Kindern vergehen konnte. Der Verdacht steht im Raum, dass er von seinen Kollegen sowie der Leitung der Krankenhäuser, in denen er beschäftigt war, geschützt wurde. Denn bereits Anfang der 2000er Jahre hatte das FBI den französischen Behörden mitgeteilt, dass Le Scouarnec auf Kindespornografie-Websites zugegriffen hatte. Damals kam er mit einer viermonatigen Bewährungsstrafe davon – ohne die Verpflichtung, sich einer medizinischen oder psychologischen Behandlung zu unterziehen.
Diese Informationen wurden aber nie an die Gesundheitsbehörden weitergegeben, wirft nun der Rechtsanwalt Frederic Benoist der Staatsanwaltschaft vor. Le Scouarnec konnte weiter als Chirurg arbeiten, Kinder operieren und deren Nachsorge übernehmen. "Ein enormes Maß an Fehlverhalten ermöglichte Le Scouarnec, seine Taten zu begehen", erklärte Benoist in einem Gespräch mit der BBC. Er vertritt die Kinderschutzorganisation La Voix de L'Enfant (deutsch: Die Stimme des Kindes), die darauf drängt, die "entscheidenden institutionellen und juristischen Fehltritte" aufzuklären, die den jahrzehntelangen Kindesmissbrauch ermöglicht haben sollen.
Die Familie soll geschwiegen haben
Auch Mitglieder seiner eigenen Familie sollen von Le Scouarnecs Pädophilie gewusst, aber geschwiegen haben, heißt es. "Es war die Omertà der Familie, die dazu führte, dass sein Missbrauch jahrzehntelang weitergehen konnte", sagte ein in den Fall involvierter Anwalt der BBC. Le Scouarnec habe sich "allmächtig" gefühlt und das Gefühl gemocht, durch "kalkulierte Übertretungen mit der Gefahr zu flirten", wie die französische Tageszeitung "Le Monde" aus einem Gerichtsbeschluss zitierte.
Da viele seiner Opfer zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Übergriffe unter Narkose standen, konnten sie sich nicht an die Ereignisse erinnern und waren schockiert, als sie von der Polizei kontaktiert wurden. Erst dann erfuhren sie, dass ihre Namen – neben anschaulichen Beschreibungen des Missbrauchs – in Le Scouarnecs Tagebüchern auftauchten.
"Er hat mich vergewaltigt"
Olivia Mons von der Opferhilfsorganisation France Victimes berichtete, dass viele Betroffene von vagen Erinnerungen verfolgt worden seien, für die sie nie die passenden Worte gefunden hätten. Einige der mutmaßlichen Opfer sagten, die beunruhigenden Enthüllungen hätten ihnen geholfen, die unerklärten Symptome eines Traumas zu verstehen, das sie ihr ganzes Leben lang belastet hatte.
Eine Frau berichtete in den französischen Medien, dass sie von Erinnerungen überflutet worden sei, als die Polizei ihr einen Eintrag mit ihrem Namen in den Tagebüchern des beschuldigten Chirurgen zeigte. "Ich hatte Flashbacks, wie jemand in mein Krankenzimmer kam, die Bettlaken hochhob und sagte, er würde nachsehen, ob alles gut gegangen sei", sagte sie. "Er hat mich vergewaltigt."
Doch nicht alle von Le Scouarnecs mutmaßlichen Opfern waren unter Narkose. Die Anwältin Francesca Satta, die mehrere mutmaßliche Opfer vertritt, berichtete, dass zu ihren Klienten "die Familien zweier Männer gehören, die sich erinnerten und sich schließlich das Leben nahmen".
Prozess beginnt am 24. Februar
Nun bereitet sich die Stadt Vannes auf den historischen Prozess vor. In einem ehemaligen Universitätsgebäude wurden drei Hörsäle reserviert, um die Hunderte mutmaßlicher Opfer, ihre Rechtsvertreter und Familien unterzubringen.
Der Prozess beginnt am 24. Februar und soll bis Juni dauern. Ob Presse und Öffentlichkeit Zutritt erhalten, hängt davon ab, ob alle mutmaßlichen Opfer auf ihr Recht auf einen Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit verzichten.
- lemonde.fr: "Affaire Le Scouarnec: l’ex-chirurgien pédophile sera jugé en 2025 devant la cour criminelle du Morbihan" (Französisch)
- bbc.com: "The Cornish buildings that inspired a global cartoon" (Englisch)
- lemonde.fr: "Affaire du chirurgien pédocriminel Le Scouarnec: questions sur de possibles négligences des instances médicales" (Französisch)