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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gewalt zur Fußball-EM "Deutsche Hooligans wollen einen starken Mob zeigen"
Hooligans und politische Debatten könnten die Freude an der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland trüben. Experte Robert Claus ordnet ein, was die EM gesellschaftlich mit sich bringen kann.
Am Freitag beginnt die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Sie wird nicht nur ein sportliches Großereignis, sondern auch eine politische Bühne, sagt Robert Claus, der zu Fußball, Rassismus und Gewalt forscht. t-online hat mit ihm über mögliche EM-Konflikte gesprochen.
t-online: Die EM ist ein sportliches, aber auch ein gesellschaftliches Ereignis. 2006 hatten wir das Sommermärchen, in dem sich Deutschland auch als ein vielfältiges, weltoffenes Land präsentieren wollte und konnte. Wie sehen Sie die Chancen, dass das erneut gelingt?
Robert Claus: Viele erinnern sich gerade an das "Sommermärchen 2006", aber für wen gab es das? In Deutschland gab es seit 2005 multiple Krisen, Hartz IV war gerade eingeführt worden, die Arbeitslosigkeit war hoch. Die Nationalmannschaft galt damals als relativ schwach. Aber sie kämpfte und hatte Erfolg. Und das Deutschland der Post-Kohl-Ära hatte Lust zu zeigen, dass es jenseits von aggressivem Nationalstolz als Gastgeberland feiern kann. Andererseits: Als die deutsche Mannschaft gegen Italien verlor, kam es an vielen Orten zu rassistischer Gewalt, etwa gegen italienische Restaurants und ihre Besitzer. Das ist leider der oft verschwiegene Teil des sogenannten Sommermärchens.
Was erwarten Sie für 2024?
Die Fußball-Europameisterschaft ist ein sportliches Großereignis. Sie ist aber auch eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Bühnen in diesem Jahr in einer Welt polarisierter Debatten. Hier wird verhandelt, wofür Europa steht, für Vielfalt und Zusammenhalt oder für Nationalismus, Rassismus und Gewalt. Womöglich werden wir für beide Pole Beispiele sehen.
Aber viele Fans sagen doch, Politik habe im Stadion nichts zu suchen?
Sie ist aber schon da: Wir hatten in diesem Jahr bereits die Debatte über Antonio Rüdiger und den Tauhid-Finger, die durch eine Rechts-außen-Kampagne angestoßen wurde. Dann gab es die Umfrage in der WDR-Dokumentation von Philipp Awounou, in der sich 21 Prozent der befragten Fußballfans gegen ethnische Diversität aussprachen und sagten: Wir wollen mehr weiße Nationalspieler. Darin spiegeln sich grundlegende Debatten über Deutschland als Migrationsland.
Zur Person
Robert Claus forscht und publiziert zu den Themen Rechtsextremismus und Gewalt, Antidiskriminierung und Vielfalt im Sport und seinen Fankulturen.
Sind diese Debatten nur in Deutschland akut?
Die Ergebnisse der Europawahl zeigen, dass uns diese Frage europaweit beschäftigt: Wie vielfältig will Europa sein? In allen Ländern werden Fußballspieler of Color prekär behandelt: Sie werden als Vertreter ihres Landes bejubelt, wenn sie erfolgreich sind, aber bei Misserfolgen werden sie nicht sportlich kritisiert, sondern rassistisch beschimpft und ausgegrenzt.
Kann sich die Fußballwelt so ein Verhalten überhaupt leisten?
Für den Fußball in Deutschland lässt sich demografisch sagen: Wenn wir alle Jugendlichen of Color aus den Amateurfußballvereinen hinauswerfen würden, müsste die Hälfte von ihnen schließen. Die Diversität wächst, und der DFB sieht das und positioniert sich ja auch entsprechend und bekennt sich zu Vielfalt. Das tut er durch Werbeclips und Symbole wie Regenbogenarmbinden. Auch im Kultur-Begleitprogramm zur EM finden sich viele Veranstaltungen, die Vielfalt und Zusammenhalt in den Fokus stellen.
Wie geht es rechtsextremen Fußballfans mit einer deutschen Nationalmannschaft, die sich zu Vielfalt bekennt?
Früher war für Rechtsextreme eine EM oder WM eine Gelegenheit, Nationalstolz zu feiern und zu verbreiten. Heute sehen wir eher eine Entfremdung. Sie schimpfen über die Hautfarben der Spieler, die Positionierung des DFB oder über pinke Trikots. Rechtsextreme Medien propagieren, sie wollten die EM zu einem Desaster machen. Rassistische Social-Media-Kampagnen sind also sehr wahrscheinlich. Dabei ist das Agieren der AfD sehr relevant: Wird die Partei auch gegen das Thema Vielfalt angehen, wenn das deutsche Team erfolgreich ist? Bislang haben Rechtsextreme immer hervorgehoben, dass sie Deutschland – zumindest ihr Ideal davon unterstützen –, nicht aber ein Team mit vielen Spielern of Colour.
Ein Unsicherheitsfaktor bei Fußball-Großveranstaltungen sind die Hooligan-Szenen verschiedener Länder. Was erwartet uns da?
Hooligans werden auch zu dieser EM anreisen. Gewalt in den Stadien ist aber weniger wahrscheinlich, denn die Spielstätten sind durch Kameras, Tickets und Polizei sehr regulierte Räume. Gewalt findet womöglich eher in den Innenstädten statt – zudem verabreden sich Gruppen wahrscheinlich klandestin im ländlichen Raum.
Welche Gruppen sollten Sicherheitsbehörden da besonders im Blick haben?
Es ist bekannt, welche Länder eine gewaltbereite Hooligan-Kultur haben. Traditionell sind das Polen, Tschechien, Kroatien, Ungarn und Deutschland. Historisch stammt der Hooliganismus aus England, doch finden die führenden Entwicklungen im Kampfsport der Szene größtenteils in Zentral- und Osteuropa statt. Die werden vermutlich auch alle zur EM anreisen. Immerhin werden die russischen Hooligans ausbleiben. Russland ist ja nicht bei der EM dabei. Und die ukrainischen Hooligans sind aktuell fast alle an der Front.
Bereiten sich die deutschen Hooligans vor?
Sie sprechen zumindest davon, einen "starken deutschen Mob" präsentieren zu wollen, der zu massiver Gewalt fähig sein soll. Noch ist aber unklar, ob das abseits der Öffentlichkeit organisiert wird oder ob die Gewalt in die Innenstädte getragen werden soll.
Welche Partien haben ein besonders hohes Konfliktpotenzial?
Für deutsche Hooligans sind Partien attraktiv gegen Länder, in denen ebenso eine relevante Hooliganszene agiert, mit der man sich messen kann. Zudem hat es eine symbolische Ebene: Für extrem rechte Hooligans sind Duelle gegen Länder interessant, die von der Wehrmacht überfallen wurden.
Die Duelle werden dann oft von Kriegsmetaphern begleitet. Die Hooligan-Szene ist zwar nicht komplett rechtsextrem, aber die Schnittmengen zur extremen Rechten sind groß. Mir macht allerdings ein anderes Szenario mehr Sorgen als Hooligan-Gewalt untereinander.
Welches Szenario denn?
Aus nationalistischen Gründen hassen sich die Hooligan-Gruppen zwar, aber sie sind nicht wirklich verfeindet, sondern erleben auch in der Szene ein Zusammengehörigkeitsgefühl und sind oft international vernetzt. Und sie teilen Feindbilder wie Nicht-Weiße, Migranten, queere Menschen oder Juden. Ich mache mir Sorgen, dass sich Hooligan-Gruppen zusammenschließen könnten, um Orte der Vielfalt anzugreifen, etwa LGBTIQ*-Treffpunkte, Orte jüdischen Lebens. Auch Unterkünfte für Geflüchtete sind leider gefährdet. Ich hoffe, die Behörden haben auch diese Gefahr im Blick.
Wie können Fans zu einer gelungenen Europameisterschaft beitragen?
Indem sie aufeinander Acht geben. Alle, von der Familie bis zum Kneipenwirt, der die Spiele zeigt, können dazu beitragen, dass sich alle Menschen möglichst wohlfühlen. Das bedeute, etwa bei homofeindlichen oder rassistischen Sprüchen dagegen zu sprechen, mit Niederlagen sportlich umzugehen und generell darauf zu achten, dass gerade öffentliche Plätze für alle zugänglich sind, also etwa auch für Menschen mit Behinderungen. In den Stadien gibt es zudem einen Awareness-Service. Letztlich geht es um Zusammenhalt.
- Telefoninterview mit Robert Claus, 11.6.2024
- bpb.de: "Extrem rechte Fußballfans und die Nationalmannschaft des DFB. Tendenzen einer Entfremdung"