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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Kriminalstatistik hat eine Debatte losgetreten: Ist Deutschland krimineller geworden? Wie aussagekräftig sind die Zahlen wirklich? Experten ordnen ein.
Der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zufolge ist die Kriminalität in Deutschland angestiegen: Fast sechs Millionen Straftaten wurden im vergangenen Jahr zur Anzeige gebracht – ein Plus von 5,5 Prozent. Gibt die Statistik Grund zur Sorge? Ist Deutschland wirklich unsicherer geworden?
Bundesinnenministerin Nancy Faeser betonte am Dienstag, dass Deutschland immer noch "eins der sichersten Länder der Welt" sei. Zugleich sind sich viele Experten einig: Die PKS spiegele die Realität nicht ausreichend wider. Dennoch ist der Aufschrei nach der Veröffentlichung der jährlichen Zahlen groß. Wie passt all das zusammen?
"Zahlen mit größtmöglicher Zurückhaltung bewerten"
Hartmut Aden, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht, Politik- und Verwaltungswissenschaft, warnt vor einer Überbewertung der Statistik: "Es gibt zur PKS sehr viel Forschung – bereits seit Jahrzehnten. Es gibt einen großen wissenschaftlichen Konsens, dass man diese Zahlen mit größtmöglicher Zurückhaltung bewerten muss." Es wundere ihn sehr, dass nach einer Phase, in der auch die Politik relativ verantwortlich mit diesen Zahlen umgegangen sei, diese in diesem Jahr wieder sehr populistisch thematisiere. "Das geben die Zahlen sicherlich nicht her, denn es ist ja lediglich eine polizeiliche Tätigkeitsstatistik."
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Es würden Fälle abgebildet, die bei der Polizei zur Anzeige gebracht wurden oder eben im Fokus polizeilicher Wahrnehmung stehen. "Alles andere taucht dort nicht auf. Das bedeutet: Die Zahlen haben mit der Realität nur bedingt zu tun", sagt Aden. Deshalb müsse man Zahlenveränderungen, wie sie gerade auftreten, sehr zurückhaltend beurteilen.
"Es ist bizarr"
Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht und Kriminologie, schlägt im Gespräch mit der "Zeit" ähnliche Töne an: "Die Zahlen der PKS sagen kaum etwas über die tatsächliche Kriminalitätsentwicklung in Deutschland aus. Es ist bizarr, wie sie Jahr für Jahr in der öffentlichen Debatte überinterpretiert wird." Auch Singelnstein meint, die PKS sei ein Tätigkeitsbericht der Polizei, mehr nicht. "Die Statistik spiegelt nur das wider, was die Polizei sehen kann und erfassen will." Der Kriminologe kritisiert: "Die PKS wird behandelt wie der Goldstandard der Kriminalitätsmessung. Sie ist aber nur der Blechstandard."
Aus seiner Sicht sei es wichtig, bei der Interpretation der Zahlen darauf zu achten, welche Taten bei der Polizei bekannt werden und welche nicht. Aus der Forschung sei bekannt, "dass man eher Menschen anzeigt, die man als nicht zur eigenen Gruppe gehörend wahrnimmt", so Singelnstein.
Kriminologe will neue Datengrundlage
Der Kieler Kriminologe Martin Thüne geht noch einen Schritt weiter – er will die PKS in ihrer jetzigen Form abschaffen und durch eine bessere Datengrundlage ersetzen. Generell sei die Polizeiliche Kriminalstatistik "eine problematische Datengrundlage", sagte Thüne der "Frankfurter Rundschau" (Mittwochsausgabe). "Auf dieser Basis zu sagen, Deutschland sei unsicher geworden, halte ich für Unsinn." Er plädiere stark dafür, "dieses PKS-System radikal infrage zu stellen, sich zusammenzusetzen und etwas Neues zu entwickeln".
Vorschläge dazu gebe es seit Jahrzehnten. Thüne verweist darauf, dass die Statistik "in der Öffentlichkeit polarisiert". Es würden daraus Maßnahmen abgeleitet, "die auf dieser Datengrundlage besser nicht abgeleitet werden sollten". "Die PKS ist unvollständig, verzerrt, potenziell manipulierbar und ungewichtet", so das Urteil des Wissenschaftlers.
Bei der Erfassung ausländischer Tatverdächtiger ist die Statistik nach Ansicht Thünes "systematisch verzerrt". Als ein Problem nannte er, dass "zumindest in der öffentlichen und politischen Debatte die Zahl von ausländischen Tatverdächtigen regelmäßig ins Verhältnis gesetzt wird zur ausländischen Wohnbevölkerung – also zum Beispiel 40 Prozent an den Tatverdächtigen bei nur 15 Prozent in der Gesamtbevölkerung".
Dabei würden aber viele Taten von Tatverdächtigen erfasst, die gar nicht in Deutschland lebten. "Das sind reisende Tätergruppen, das sind Touristen, das sind Stationierungskräfte, das sind Pendler", so Thüne. Deswegen werde der Anteil an den Tätern immer größer sein als der Anteil an der Wohnbevölkerung.
Kritik an Begriff "Ausländerkriminalität"
Laut der PKS ist die Zahl der nicht-deutschen Tatverdächtigen im vergangenen Jahr um 17,8 Prozent auf rund 923.000 angestiegen. Der Anteil nicht-deutscher Verdächtiger an allen Verdächtigen nahm um 3,7 Prozentpunkte zu und lag bei 41,1 Prozent. Derweil wuchs die Zahl der deutschen Verdächtigen innerhalb eines Jahres um ein Prozent auf etwa 1,32 Millionen an.
Im Zusammenhang der Straftaten, die nicht-deutsche Tatverdächtige begangen haben sollen, wird auch oft von "Ausländerkriminalität" gesprochen. Dieses Wort kommt jedoch in der Statistik gar nicht vor, wie das Bundeskriminalamt (BKA) t-online auf Anfrage mitteilte: "Der Begriff 'Ausländerkriminalität' wird in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) nicht verwendet."
Thomas Hestermann, Professor für Journalismus an der Hochschule Macromedia in Hamburg und ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, erklärt dazu im Gespräch mit t-online: "Ausländerkriminalität ist kein wissenschaftlicher Begriff – denn Menschen werden nicht zu Tätern, weil sie Ausländer sind." In jeder Gesellschaft würden vor allem junge Männer straffällig, Armut und Perspektivlosigkeit seien weitere Faktoren. "Wenn Eingewanderte und Geflüchtete zur Tatenlosigkeit verdammt sind, wenn sie gar keine Chance auf ein besseres Leben in Deutschland sehen, dann steigt das Risiko von Kriminalität."
"Integration an vielen Stellen gelungen"
Der Begriff der Ausländerkriminalität verletze all die vielen Menschen ausländischer Herkunft, die in Deutschland rechtstreu leben, Steuern zahlen und fleißig sind – und trotzdem in der aktuellen Debatte unter Generalverdacht gerieten. "Es wäre fatal zu übersehen, an wie vielen Stellen Integration gelungen ist", sagt Hestermann. Aus Medienanalysen wisse die Forschung, dass über nicht-deutsche Tatverdächtige weit häufiger berichtet wird als über deutsche Kriminelle. "Das verzerrt das Bild", so der Professor. Die Erfolge von Eingewanderten seien selten ein Thema, außer in der Sportberichterstattung.
Hestermann fordert: "Deutschland muss stärker vermitteln: Wer ein Recht auf Aufenthalt hat, sich anstrengt und sich anständig verhält, muss alle Chancen auf ein besseres Leben haben, ungeachtet von Namen und Hautfarbe." Deutschland müsse zugleich seine Erwartungen an Rechtstreue und Engagement der Eingewanderten klarer durchsetzen.
"Bedient rassistische Diskurse"
Kriminologe Singelnstein erklärt im Gespräch mit der "Zeit", warum die Zahlen zu Straftaten, die durch nicht-deutsche Personen begangen worden sein sollen, noch problematisch sind: "Ein Teil der Fälle wurde zum Beispiel in Sammelunterkünften erfasst, da ist die soziale und behördliche Kontrolle deutlich intensiver. Da rufen meist nicht die Bewohner, sondern Betreuer und Leiter der Unterkunft die Polizei. Das ist eine ganz andere Kontrollintensität als in einem Mietshaus, wo viele Konflikte informell geregelt werden." So etwas werde in der Statistik aber nicht berücksichtigt. Diese Verzerrungen müssten herausgerechnet werden, wenn man etwas über die tatsächliche Kriminalitätslage erfahren will.
Singelnstein kritisiert: "Mich stört generell schon diese Einteilung in deutsche und nicht-deutsche Tatverdächtige." Es sage im Kontext Kriminalität praktisch nichts aus, aber bediene rassistische Diskurse. Der Pass werde zum entscheidenden Merkmal. "Man muss die Aussagekraft dieser Kategorie also grundsätzlich in Zweifel ziehen", so der Experte.
- Anfrage an das Bundeskriminalamt
- Anfrage an Dr. Thomas Hestermann
- Online-Pressegespräch zu "Rassismus und Antisemitismus bei der Polizei: Was tun Bund und Länder?" am 9. April 2024
- zeit.de: ""Es ist bizarr, wie die Zahlen überinterpretiert werden""
- Mit Material der Nachrichtenagentur AFP