Presseschau zu Unwettern "Wie kann so etwas im Jahr 2021 mitten in Deutschland passieren?"
Die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sorgt für zahlreiche Debatten zum deutschen Klimaschutz. Die internationale und nationale Presse blickt kritisch auf die politische Situation.
Mehr als 130 Tote und immer noch Dutzende Vermisste: Das sind die verheerenden Folgen des Unwetters, das den Westen Deutschlands massiv getroffen hat. Überschwemmungen haben zu heftigen Verwüstungen geführt, viele Menschen haben ihr Zuhause verloren. Die nationale und internationale Presse bezieht Stellung – besonders mit Blick auf die politische Situation während der Katastrophe. Ein Überblick:
Mitteldeutsche Zeitung, Halle (Saale): "Bekundungen des Mitgefühls – wie ernst sie subjektiv auch gemeint sein mögen – verkommen mittlerweile oft binnen weniger Stunden zu Leerformeln, wenn sie in derart großer Zahl und im oft fast identischen Wortlaut in den digitalen Netzwerken abgesetzt werden. Überdies können sich Betroffene davon zunächst wenig kaufen. Die wissen gerade nicht, wo ihnen der Kopf steht und wie es weiter gehen soll im Leben – wenn sie noch ein Leben haben. Die Menschen am Rhein, an der Ruhr oder in der Eifel brauchen das Mitgefühl und sich daraus ergebende Mithilfe in der nächsten Woche, im nächsten Monat und gewiss auch noch im nächsten Jahr. Auf das Übrige können sie fürs Erste getrost verzichten.
Was die Menschen mit Sicherheit nicht brauchen, ist, wenn die Karawane des Mitgefühls rasch zu einem anderen Elendsort weiterzieht, eigentlich unzuständige Politiker, die sich aus allzu durchsichtigen Motiven vor die Kameras drängeln – oder gar gegenseitige Attacken um eines politischen Geländegewinns willen."
Neue Zürcher Zeitung, Schweiz: "Wenn der Klimawandel katastrophale Wetterphänomene wie Starkregen oder Dürreperioden begünstigt, dann reicht eine Reduktion der CO-Emissionen nicht. Die Gesellschaft muss sich auch besser vor den Folgen der Klimaerwärmung schützen. Die Fragen nach der Verantwortung, die deutschen Politikern jetzt gestellt werden sollten, sind deshalb nicht nur die nach der Stilllegung von Kohlekraftwerken oder dem Bau zusätzlicher Windparks. Es sind auch Fragen nach geeigneten Warnsystemen vor Sturzfluten für die Bevölkerung gefährdeter Gebiete. Es sind Fragen nach nötigen baulichen Massnahmen zum Ableiten großer Regenmengen und zum Schutz von Siedlungsgebieten vor Überschwemmungen. Und es sind Fragen der Raumplanung, welche die Siedlungsentwicklung in hochwassergefährdeten Regionen sinnvoll steuern sollte.
Solche Fragen nach dem Management der negativen Folgen des Klimawandels werden im klimapolitischen Diskurs zumeist tabuisiert. Klimaschützer befürchten, dass sie als Ausrede für Nichtstun missbraucht werden. Doch wer diese Fragen vermeidet, verschließt die Augen vor der Realität und bringt damit die Bevölkerung in Gefahr."
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Reutlinger General-Anzeiger: "Wie kann so etwas im Jahr 2021 mitten in Deutschland passieren? In Erftstadt, Schuld und anderswo zeigt sich, dass der Mensch der Natur im Ernstfall schutzlos ausgeliefert ist – trotz flächendeckender Handykommunikation, Warn-Apps und Wettersimulationen. Wir wähnen uns in einer Sicherheit, die trügerisch ist. Notfalls die Feuerwehr gerufen, um mal eben den Keller leer zu pumpen? Oder ein Selfie mit GPS-Koordinaten geschickt, damit das THW die Hausbewohner rechtzeitig vom Dach holt?
Das wird schnell zur Illusion, denn die Technik hat Grenzen. Wenn der Funkmast unterspült wurde, Strom- und Telefonleitungen tot sind und der Akku vom Handy leer ist, kann keine Hilfe mehr gerufen werden. Selbst die Kommunikation der Helfer untereinander bricht zusammen. Ohne Schienen und Straßen ist kein Durchkommen."
- Interaktive Grafik zeigt: In diesen Regionen ist die Lage dramatisch
Augsburger Allgemeine: "Für die bisher desaströs gelaufene Wahlkampagne der Grünen bietet sich die Gelegenheit, in die Vorhand zu kommen. Die Möglichkeit tut sich auf, weil die gewaltigen Wassermassen schlagartig allen klarmachen, was uns in Deutschland in den kommenden Jahren wegen der Erwärmung der Erde immer häufiger droht. Und weil das Thema Klimaschutz bei CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet eine Schwachstelle ist."
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Corriere della Sera (Rom, Italien): "Der Klimaschutz steigt auf Platz eins der Sorgen der Menschen. Und die Folgen für die Ausgänge der Wahl könnten unvorhersehbar sein. Der Gedanke geht in das Jahr 2002, als die Elbe Landesteile im Osten überschwemmte und Gerhard Schröder, im Rennen für die Wiederwahl und in den Umfragen hinten dran, in Gummistiefeln zu Fuß hinaus eilte, um die Rettungsaktionen zu begleiten und gleichzeitig die Wahldynamik zu seinem Vorteil drehte. Es ist ein Drehbuch, das sich in diesen Stunden wiederholt, auch wenn alle versuchen, nicht den Eindruck zu erwecken, auf Stimmenfang zu sein. (...)
Es bleibt abzuwarten, ob es dann die Grünen sind, die von der neuen deutschen Angst profitieren. Sehr gut gestartet und dann wegen Ausrutschern und Fehlern von Annalena Baerbock zurückgefallen, haben die Umweltschützer viel aufzuholen. Sie haben jedoch das ambitionierteste Programm auf der Linie der europäischen Ziele. Eine Sache ist sicher. Nach der Katastrophe wird die Wahl in Deutschland im kommenden September die erste in Europa sein, die beim Thema der Klimaerwärmung gewonnen oder verloren wird."
Kölner Stadt-Anzeiger: "Bei den Reaktionen der Politiker auf die aktuelle Unwetter kommt noch etwas anderes hinzu: die Versuchung, sie für eine eigene Agenda zu nutzen. Gewiss hat der Starkregen mit dem Klimawandel, einem Top-Thema des Wahlkampfs, zu tun – mit der Erderwärmung und dem kaputten Jetstream. Nur Ignoranten können das noch leugnen. Insbesondere Unionskanzlerkandidat Armin Laschet wirkt in dieser Debatte – gelinde gesagt – überfordert. Nichts spricht dagegen und alles dafür, die Zusammenhänge offen zu benennen. Dann sollte man es freilich unverstellt tun, nicht im Gewand der Empathie. Empathie und Instrumentalisierung vertragen sich schlecht. Das eine ist eine unmittelbar menschliche Regung, die kein Ziel im Visier hat. Das andere folgt einem rationalen Kalkül, das auf etwas hinauswill. Ereignisse werden da rasch Mittel zum Zweck. So läuft man Gefahr, dass sich etwas Schönes in etwas Hässliches verwandelt."
El País (Madrid, Spanien): "Die katastrophalen Überschwemmungen, die Westdeutschland, Belgien und die Niederlande verwüstet haben, sind ein weiterer Beweis für die Herausforderungen, mit denen uns der Klimawandel konfrontiert. Was bei den Überschwemmungen überrascht hat, ist deren Intensität und Ausmaß. Das Geschehen zeigt, dass selbst entwickelte Gesellschaften mit hervorragender Infrastruktur und gutem Katastrophenschutz von den verheerenden Auswirkungen solcher Extremwetter nicht verschont bleiben. Die Auswirkungen haben das Herz des am weitesten entwickelten Teils Europas getroffen, mit einer tragischen Bilanz.
Die Folgen des Klimawandels beschränken sich nicht darauf, trockene Orte trockener zu machen oder mehr Hurrikane dort zu verursachen, wo sie normalerweise auftreten. Die Katastrophe macht klar, dass wir uns schneller in Richtung einer Dekarbonisierung der Wirtschaft bewegen müssen. Europa hat dabei schon wichtige Schritte unternommen, aber diese müssen weltweit getan werden. In der Zwischenzeit ist es notwendig, sich mit besseren Notfallplänen auf die Auswirkungen vorzubereiten. Die Überschwemmungen sind eine Warnung für alle."
Frankenpost, Hof: "Jetzt plötzlich werden alle Parteien die Klimapolitik entdecken. Noch mehr als ohnehin schon. Doch sollten sich die handelnden Personen ehrlich machen. Sie werden nun viel vom Klimawandel reden und von der Erderwärmung. Hochwasser transferieren abstrakte Klimastudien auf dramatische Art in den Alltag eines jeden Einzelnen. Es gehört aber auch dazu, zu sagen, dass Bodenversiegelungen, miese, marode, uralte Abwassersysteme und Bebauungen dazu führten, dass der stunden- und tagelange Regen nicht versickern konnte. Erst so konnte er sich zu Sturzbächen und reißenden Fluten entwickeln."
Frankfurter Rundschau: "Die Unwetterkatastrophe könnte das politische Feld vor der Bundestagswahl tief umpflügen und den Grünen Auftrieb geben, die zuletzt wegen Kandidatin Baerbocks eigener Fehler und einer unfairen Anti-Kampagne auf dem absteigenden Ast waren. Sie haben das Original-Copyright beim Klimaschutz, sie werden ihre Kampagne darauf fokussieren. Ob es dazu reicht, an der Union vorbeizuziehen, steht dahin. Zumindest aber ist zu erwarten, dass gegen die Ökopartei keine Regierung gebildet werden kann. Die Bürgerinnen und Bürger sind ja wohl aufgeklärt genug zu wissen, dass ohne Grüne sonst doch wieder der nur angetäuschte Klimaschutz à la Merkel, Altmaier und Laschet droht. Eine Warnung sollte sein, dass der Unionskandidat selbst beim Auftritt in Hagen zum Besten gab, sein NRW sei 'eines der Länder, das am meisten tut gegen den Klimawandel'. Das war eine dreiste Lüge des Kohlefreunds und Windkraftbremsers, wie sich leicht nachweisen lässt. Käme er damit durch, es wäre fatal."
- Nachrichtenagentur dpa