Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Jura-Professorin Tatjana Hörnle Triage nach Impfstatus? Juristin erklärt kontroversen Vorschlag
An dieser Frage scheiden sich die Geister: Dürfen Ungeimpfte im Falle einer Triage benachteiligt werden? Professorin Tatjana Hörnle sagt Ja. Im Interview erklärt sie, wieso.
Soll der Impfstatus bei der Corona-Triage berücksichtigt werden? Rechtswissenschaftlerin und Rechtsphilosophin Tatjana Hörnle sprach sich in einem Blogeintrag dafür aus. Die Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht reagierte damit auf ein Papier, in dem die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und andere Fachgesellschaften genau das ausgeschlossen hatten.
Im Interview mit t-online spricht Hörnle über die emotionale Debatte. Sie erklärt, weshalb die Sorge vor einem "Dammbruch" unberechtigt sei und unter welchen Umständen sie mit einem Grundprinzip der Intensivmedizin brechen würde.
t-online: Frau Hörnle, Sie haben in einem Beitrag vorgeschlagen, bei Corona-Triage-Entscheidungen zukünftig auch den Impfstatus als Kriterium zu berücksichtigen. Wieso?
Tatjana Hörnle: Meine Grundaussage ist nicht, dass der Impfstatus berücksichtigt werden soll oder gar muss, sondern dass er berücksichtigt werden darf. Anlass meines Beitrages sind die klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI und anderer Fachgesellschaften, die ein solches Kriterium ausdrücklich ausschließen. Ich sage: Unter bestimmten Umständen, in denen es kein anderes rationales Entscheidungskriterium mehr gibt, darf auch der Impfstatus eine Rolle spielen.
Damit würden Sie mit einem Grundprinzip der Intensivmedizin brechen: Dass nämlich bei der Triage ausschließlich die Überlebensprognose eine Rolle spielt, und nicht das Vorverhalten des Patienten.
Ich halte die Überlegung, dass es in erster Linie auf die klinische Erfolgsaussicht ankommt, auch für vernünftig und angemessen. So werden sich realistischerweise viele Fälle priorisieren lassen. Sie müssen sich aber jene Fälle vorstellen, in denen dieses Kriterium keine Entscheidung mehr erlaubt, weil in einer Knappheitssituation Patienten eingeliefert werden, deren Gesundheitszustand und Überlebensprognose sich ähneln.
Sie argumentieren, dass Ungeimpfte das Risiko einer Corona-Erkrankung wissentlich in Kauf nehmen, wohingegen Geimpfte alles tun, um dieses Risiko auszuschließen. Deshalb sei es gerecht, dass Geimpfte im Extremfall bevorzugt werden.
Wissentlich ist in einem schwachen Sinne gemeint. Man kann davon ausgehen, dass demjenigen, der sich nicht impft, klar ist, dass sein Krankheitsrisiko erhöht ist. In dieser Situation ist es fair zu sagen, dass auch der Impfstatus berücksichtigt werden darf.
Prof. Dr. Tatjana Hörnle ist Rechtswissenschaftlerin und Rechtsphilosophin. Sie erforscht vor allem ethische und gesellschaftliche Fragen im Bereich des Strafrechts. Seit Juni 2019 ist sie Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg. Außerdem gehört sie der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina an.
Künftige Mutationen könnten die Wirksamkeit der Impfstoffe reduzieren. Wie wirksam muss eine Impfung sein, damit sie sich als Triage-Kriterium eignet?
Diese Frage kann ich als Juristin nicht beantworten, und ich habe auch keinen Wert zugrunde gelegt. Ich habe nur eine Option für einen Werkzeugkasten beschrieben, den die Behandelnden vor Ort anwenden.
Beispiele wie der Fußballer Joshua Kimmich zeigen, dass Ungeimpfte auch Opfer von falscher Beratung, von "Querdenkern" oder von Falschmeldungen in den sozialen Medien sein können. Wie sollte man mit Menschen umgehen, die ihr Risiko falsch einschätzen?
Ich würde sagen, dass auch diese Menschen das Risiko wissentlich eingehen, auch wenn sie unter Umständen nicht wohlinformiert oder rational abgewogen handeln. Ein Grundverständnis, dass es Corona gibt und dass empfohlen wird, sich impfen zu lassen, kann man im Jahr 2022 bei allen voraussetzen. Das einzige Problem hätten wir mit Menschen, die wie Robinson Crusoe die letzten zwei Jahre auf einer einsamen Insel verbracht hätten und plötzlich in unsere Lebensrealität gespült würden. Aber das ist irreal.
Ein Anwendungsfall der Triage, der von einer besonderen Ressourcenknappheit geprägt ist, ist die Organspende. Auf eine Spenderniere kommen oft Hunderte von möglichen Empfängern. Selbst in diesen Fällen spielt das Vorverhalten von Patienten, wie etwa eine Drogenvergangenheit, keine Rolle. Wieso sollten wir in der Pandemie von diesem Grundsatz abrücken?
Die klinische Erfolgsaussicht lässt sich in der Pandemie sicherlich für viele Fälle nutzen, wenn man sie feinmaschig genug ausdifferenziert und genügend Indikatoren hat, um individuelle Überlebensprognosen miteinander zu vergleichen. Daraus speist sich vermutlich auch die Hoffnung der DIVI, dass die bisherigen Richtlinien ausreichen werden, falls es auf der Intensivstation knapp wird. Das Problem sind aber die wenigen schwierigen Fälle, die es in Zukunft vielleicht geben kann.
Also zwischen Patienten mit sehr ähnlicher klinischer Erfolgsaussicht.
Genau, dann braucht man ein anderes Entscheidungskriterium. Mir haben Ärzte berichtet, dass sie in der Extremsituation ungern das Los entscheiden lassen würden. Und stellen Sie sich vor, dass den Angehörigen eines nicht behandelten, verstorbenen Patienten mit Herzinfarkt gesagt wird: "Pech beim Losen gehabt". Gerade bei tragischen Priorisierungsentscheidungen braucht man rationale Begründungen. Der Impfstatus wäre eine solche Begründung.
Haben Sie sich bei Intensivmedizinern umgehört? Gibt es diese Fälle, in denen zwei Menschen exakt die gleiche klinische Erfolgsaussicht haben? Oder ist Ihr Vorschlag eher theoretischer Natur?
Inwieweit das in der Vergangenheit der Fall war, ist nur von beschränkter Aussagekraft. Ich kann Ihnen keine Statistik liefern. Ob man diese Option wirklich braucht und wie oft, das hängt davon ab, wie sich Corona in den nächsten Monaten entwickelt, oder welche Pandemien noch auf uns zukommen. Ich halte es aber für blauäugig zu sagen, wir werden ein solches Kriterium nie brauchen. Wer so argumentiert, will eine in der Öffentlichkeit sehr unbeliebte Diskussion offenbar lieber nicht führen. Politisch ist das nachvollziehbar. Aber intellektuell finde ich es unredlich.
Können Sie verstehen, dass Menschen Ihren Vorschlag als Beitrag zur weiteren Spaltung zwischen Geimpften und Ungeimpften auffassen?
Ja, das kann ich. Die Debatten sind hochgradig emotional. Auf der einen Seite kritisieren diejenigen, die vor allem mit der Menschenwürde argumentieren, dass wir uns als Gesellschaft entsolidarisieren würden. Andere haben das Gefühl, man wolle die Ungeimpften auf grausamste Art und Weise abstrafen. Diese Emotionen sind menschlich nachvollziehbar. Jemand, der sich nicht impfen lässt, bekommt in der Gesellschaft ohnehin genug Gegenwind, bis in sein privates Umfeld hinein. Dann kommt noch so ein Vorschlag. Es geht um die Bewältigung seltener, tragischer Extremsituationen, und nicht um persönliche Abwertung oder eine grundsätzlich unsolidarische Gesellschaft.
Wie waren denn insgesamt die Reaktionen auf Ihren Vorschlag?
Zwei Drittel aller E-Mails waren zustimmend. Einige Ärzte waren froh, dass meine These öffentlich ausgesprochen wird.
Sie sind auch Mitglied der Leopoldina, dem höchsten wissenschaftlichen Beratungsgremium der Bundesregierung. Wurde Ihr Vorschlag dort besprochen?
Nein, mein Vorschlag wurde einer größeren Leserschaft erst durch einen "Spiegel"-Artikel kurz vor Weihnachten bekannt. Ob das noch breiter debattiert wird, wird wohl davon abhängen, ob sich Omikron im Januar oder Februar zu einer riesigen Welle auswächst.
Bislang gibt es wenige rechtliche Vorgaben, an denen sich Ärzte bei der Triage-Entscheidung orientieren können. Ihr Vorschlag gäbe den Medizinern mehr Rechtssicherheit. Können Sie sich erklären, wieso die meisten Ärzte Ihr Konzept trotzdem ablehnen?
Es ist ein heikles Thema. Meine These wird von vielen Menschen als Entsolidarisierung empfunden, sie befürchten einen Dammbruch. In der Folge könnten auch Kriterien wie Risikosportarten oder Rauchen für die Nichtbehandlung von Patienten sprechen, sagen die Kritiker. Ich habe mich in dem Blogartikel aber bemüht darzulegen, dass ich die Dammbruchgefahr nicht so sehe. Es ist wichtig, zwischen der allgemeinen Frage "Wie organisieren wir unser Gesundheitssystem" und der Sondersituation einer sich sehr schnell ausbreitenden Pandemie zu unterscheiden.
Dennoch bringen Sie ein Verursacher-Prinzip in die Entscheidung über die Behandlung von Patienten ein. Dann stellt sich unweigerlich die Frage, wieso bei einer Triage nicht grundsätzlich alle benachteiligt werden, die ihre Behandlungsbedürftigkeit auf zumutbare Weise hätten verhindern können – also auch Raucher, Übergewichtige oder Extremsportler.
Das scheidet schon aus pragmatischen Gründen meist aus. In dem Moment, in dem jemand auf die Intensivstation eingeliefert wird, lässt sich selten ein eindeutiger Kausalzusammenhang feststellen zwischen dem, was dieser Patient vorher getan hat und dem jetzigen Problem. Das ist selbst bei einem Skiunfall unmöglich. Auch zwischen Bauchfett und einem Herzinfarkt lässt sich kein direkter Zusammenhang herstellen, und nicht jeder, der raucht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit an Lungenkrebs erkranken. Bei unterlassener Impfung ist dagegen der Kausalzusammenhang im Einzelfall und vor allem der Beitrag zur Pandemielage klarer.
Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Anzahl an Impfdurchbrüchen scheint auch der Kausalzusammenhang zwischen ungeimpft und erkrankt nicht ganz wasserdicht.
Dem Grundsatz nach ist der Kausalzusammenhang beim Impfstatus aber klarer als in den von Ihnen beschriebenen Fällen. Wenn die Erkrankung da ist, dann kann man es in dem Fall besser auf die unterlassene Impfung und damit auf eigene Verursachung zurückführen als in anderen Fällen.
Der Verfassungsjurist Arnd Diringer schreibt in der "Welt": "Dass Menschen in einer gesundheitlichen Notsituation medizinisch schlechter gestellt oder überhaupt nicht behandelt werden, weil sich ein bewusst eingegangenes Risiko verwirklicht, sollte in einem der Menschenwürde verpflichteten Staat nicht einmal erwogen werden." Was entgegnen Sie?
Diese Argumente führen uns keinen Schritt weiter in der Situation einer extremen Notlage auf Intensivstationen. Wenn ein Mensch unweigerlich sterben wird, hilft es nichts, auf die Menschenrechte zu verweisen, die ja symmetrisch auf beiden Seiten bestehen, bei allen lebensbedrohlich Erkrankten. Diejenigen, die in eine solche Richtung argumentieren, wollen sich vor dem Umstand wegducken, dass in einer Triage-Situation alle Behandlungsmöglichkeiten ausgereizt wurden und es unvermeidbar ist, dass Menschen sterben.
Nun könnte man Ihnen entgegnen: Doch, die Menschenwürde lässt den Losentscheid als einzigen echten Ausweg zu.
Es geht ja auch darum, dass derjenige, der diese schreckliche Auswahlentscheidung treffen muss, diese gegenüber den betroffenen Patienten und deren Angehörigen begründen muss. Zu sagen, wir sind in die Stationsküche gegangen und haben Streichhölzer gezogen – das ist die schlechteste aller Begründungen.
Der Verhaltensökonom Marcus Schreiber sagte in einem "Spiegel"-Interview, die Triage nach Impfstatus sei eine "Keule, mit der viele Impf-Zögerer zu einer Entscheidung gezwungen werden könnten". Geht es Ihnen, wie Schreiber, mit Ihrem Vorschlag auch darum, Druck auf Ungeimpfte auszuüben?
Es gibt zwei sehr unterschiedliche Wege, für die Berücksichtigung des Impfstatus zu argumentieren. Der verhaltensökonomische Ansatz sagt: Wir wollen Menschen beeinflussen. Wer diesem Gedanken folgt, der führt ein "müssen" in die Debatte hinein. Der Impfstatus muss dann berücksichtigt werden, weil nur so genügend Druck erzeugt wird, um eine sehr große Zahl an Menschen doch noch zur Impfung zu bewegen. Insoweit geht es um Kollektivinteressen an einer möglichst hohen Impfquote. Mein Ansatz stellt dagegen darauf ab, dass man für konkrete Einzelfallentscheidungen rationale Begründungen braucht, und deshalb der Impfstatus berücksichtigt werden darf.
Der Präsident des Weltärztebundes Ulrich Montgomery bezeichnete deutsche Richter als "Richterlein", weil diese seiner Ansicht nach zu oft politische Entscheidungen zu den Corona-Maßnahmen zurücknähmen. Ist dieser Vorwurf berechtigt?
Einerseits handelt es sich um einen rhetorischen Missgriff, den man in öffentlichen Diskursen vermeiden sollte. Andererseits sehe ich schon gerade beim Thema Triage die Gefahr, dass Juristen sich manchmal zu stark in medizinethische Entscheidungen einmischen. Ich finde, dass Juristen zurückhaltend sein sollten, wenn es um strikte Verbote und Gebote für diejenigen geht, die unter dem extremen Stress der Pandemie stehen.
- Persönliches Gespräch mit Tatjana Hörnle