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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Berliner Corona-Haus unter Quarantäne "Ich kann nicht ausschließen, dass es ein Hotspot wird"
Aggressive Stimmung, Polizisten in Zivil, genervte Nachbarn. In Neukölln wurde ein Wohnkomplex unter Corona-Quarantäne gestellt. Doch halten sich die Anwohner auch an die Regeln?
Ein Mann mit grauem Haar schaut aus seinem Fenster und plustert sich auf. "Ich weiß nicht, ob ich in Quarantäne bin oder nicht", raunzt er die Straße herunter. Neben ihm ein weiterer Anwohner, der nur mit dem Kopf schüttelt. Zivil-Polizisten auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachten das Geschehen und empfehlen der t-online.de-Reporterin, besser nicht von vor Ort über den Fall zu berichten. Die Stimmung ist gereizt.
Das ist die aktuelle Situation vor dem Eckhaus in der Harzer Straße im Berliner Stadtteil Neukölln.
Absperrungen? Warnschilder? Fehlanzeige
Steht man direkt vor dem Wohngebäude an der Straßenkreuzung, weisen weder Schilder noch Absperrungen auf das hin, was hier gerade vor sich geht. Auch die Tür zum Innenhof ist offen, jeder könnte dort durchgehen. Dabei steht der gesamte Wohnkomplex unter Corona-Quarantäne. Zwei Wochen lang dürfen die Anwohner ihre Wohnung nicht verlassen.
Insgesamt sind 369 Haushalte betroffen. Bei 70 Personen wurde bereits das Coronavirus nachgewiesen. Darunter auch Kinder. "Ich kann nicht ausschließen, dass der Harzer Kiez zum Hotspot wird", sagte der Neuköllner Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) t-online.de.
Doch was hat es zu bedeuten, wenn ein komplettes Wohnhaus unter Quarantäne steht?
Gereizte Stimmung von den Balkonen
Wirklich ausführlich möchte keiner der Anwohner über die Situation sprechen. Die meisten reagieren gereizt. Und manche von ihnen verstoßen auch gegen die Quarantäne-Regeln. Nur ein Beispiel: Ein Anwohner bemerkt von seinem Balkon aus die Reporterin auf der Straße und fordert sie lautstark auf, zu verschwinden. Als das nicht passiert, kommt er aus seiner Wohnung, verlässt den Wohnkomplex und ruft ihr lautstark Beschimpfungen wie "Hurentochter" hinterher – zudem spritzt er den Inhalt seiner Wasserflasche in ihre Richtung. Die Polizisten scheinen recht zu haben. Journalisten sind hier unerwünscht.
Erst in einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite finden sich Menschen, die über die Situation sprechen wollen – wenn auch anonym. In dem Haus "hat es mal gebrannt", berichtet eine Nachbarin, "und dann wurde es den Rumänen überlassen."
Klar ist: Der Vorbesitzer ließ das Gebäude bis 2011 verkommen. Anschließend wurde der Komplex im Norden Neuköllns von der Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft saniert, und viele der Wohnungen sind an Roma-Familien vermietet. Hier erfahren Sie mehr dazu.
Doch weshalb infizieren sich gerade in diesem Wohnkomplex so viele Menschen mit dem Coronavirus?
Eine Erklärung liegt nahe: In den Wohnungen leben teilweise bis zu zehn Menschen. Und viele Personen auf einem engen Raum erhöhen die Ansteckungsgefahr. Wenn dann auch noch vereinzelt Anwohner gegen die Quarantäne-Regeln verstoßen, kann das brandgefährlich werden. Auch Berliner außerhalb der Wohnanlage könnten angesteckt werden.
"Der Ursprung des Ausbruchs bleibt weiter unklar. Wir haben unterschiedliche Hinweise, die sich widersprechen. In der Nachschau ist das egal, weil wir das nicht mit Sicherheit aufarbeiten können. Wir wollen weitere Infektionen verhindern", betont Stadtrat Liecke.
Um die Quarantäne-Regeln durchzusetzen, wurde von den zuständigen Ämtern inzwischen ein Stufenplan entwickelt.
Der Stufenplan
- Stufe 1: Sozialarbeit. Das Gesundheitsamt und Sozialarbeiter sind vor Ort und erklären den Anwohnern die Maßnahmen.
- Stufe 2: Quarantäne-Brecher werden von den zuständigen Ämtern angesprochen und auf die Regeln hingewiesen.
- Stufe 3: Hilft Stufe 2 nicht, wird die Amtshilfe durch die Polizei möglich.
"Quarantäne durch Zwang" sei allerdings nicht erwünscht, rechtlich aber möglich. Doch nur als "letztes Mittel", so Liecke.
Wie geht es nun weiter?
Zwischen der Stadt und der Polizei gab es bereits eine erste Lagebesprechung. Aktuell beobachten Zivilpolizisten das Gebäude. Viele Bewohner wurden bereits auf das Virus getestet, doch längst nicht alle. Im Laufe der Woche sollen weitere Tests folgen. Und auch die Menschen in den Hinterhäusern, bei denen keine positiven Tests vorliegen, bleiben weiterhin unter Quarantäne.
Doch eine Überwachung der Gebäude rund um die Uhr – in denen vor allem viele finanzschwache Familien wohnen sollen – gibt es nicht.
- Erklärt: Was gilt bei Quarantäne?
Und deutlich wird beim Gang durch die Harzer Straße vor allem eines: Die Lage ist angespannt. Anwohner sind aufgebracht, Nachbarn nervös. Die Polizei hält sich (noch) zurück. Klar: Wer ist schon gerne bei sommerlichen Temperaturen in Berlin für zwei Wochen eingesperrt? Vor allem, wenn man mit vielen Menschen auf engem Raum zusammenwohnen muss.
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Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) brachte es Anfang der Woche bei der eigens einberufenen Pressekonferenz auf den Punkt: "Corona ist nun bei den Schwächsten angekommen."
- Eigene Recherche
- FAZ: Wohnprojekt für Roma in Berlin
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- BZ: Bisher 57 Infizierte in Neukölln