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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Evakuierung im Westerwald So erlebten Reisende den Brand im ICE 511
Ein Knall, Rauch, Feuer vor den Fenstern – und ein Polizist, der der ruhende Pol im Durcheinander eines brennenden Zuges ist. t-online.de hat die dramatischen Momente im ICE 511 rekonstruiert.
Schon um 4.44 Uhr war Angelique Bark in Remscheid in einen Zug gestiegen, um halb sieben war sie spätestens hellwach. "Es gab einen Knall, es wurde sofort viel lauter im Zug." Rechts und links vor ihr an den Fenstern des mit bis zu 300 km/h durch den Westerwald schießenden Zuges sieht sie Feuerschein in der Dunkelheit.
510 Menschen sitzen in dem ICE 511, der Feuer fängt. Bei der Evakuierung bei Dierdorf werden fünf Menschen leicht verletzt. Der Wagen der von 1996 bis 2006 produzierten 403er-Baureihe steht am Mittag als Gerippe auf den Gleisen. Er kann auch auf den Gleisen nicht weggezogen werden.
"Ich hatte Angst, viele hatten Angst, die Menschen haben wild und schnell durcheinander geredet", erzählt die 20 Jahre alte Angelique Bark t-online.de. Dass keine Panik ausbrach, dass alles geregelt ablief, war besonnenen Menschen im Zug zu verdanken, wenn man Barks Schilderung folgt. "Direkt nach dem Knall ist ein Polizist vor mir aufgestanden, dort wo es den Knall gegeben hatte." Der Bundespolizist mit Schutzweste übernimmt das Kommando, er ist es, der für den schnellen Nothalt sorgt.
Ruhig nach vorne gehen, ist seine Ansage. Fahrgäste, die diskutieren wollen, weist er mit seiner Autorität bestimmt in die Schranken. Alle folgen. Angelique Bark hat inzwischen zum Handy gegriffen. "Ich wollte die Stimme meiner Ziehmutti hören, zur Beruhigung. Ich habe das Handy die ganze Zeit nicht ausgemacht."
Sie wird es sich später eingeschaltet in den BH stecken, um weiter Kontakt zu halten. "Die Menschen sind noch auf dem Weg nach vorne, als der ICE bereits bremst und zum Stehen kommt." Um 6.33 Uhr ist die Meldung offiziell bei der Deutschen Bahn festgehalten: "Brand im Zug."
Feuer unter dem zweiten Triebwagen
Das Feuer ist offenbar unter dem zweiten Triebwagen entstanden. Der Transformator, zwei Stromumrichter und Bremsgeräte sitzen dort. In Bahn-Kreisen heißt es, der Zug sei tags zuvor wegen Schmorgeruchs im ICE-Instandhaltungswerk in Köln-Nippes gewesen. Gab es Anzeichen für Probleme?
Die Pressestelle der Deutschen Bahn bestätigt das nicht, wegen der laufenden Untersuchungen mache man keine Angaben. Schmorgeruch an Zügen wird aber häufiger festgestellt, und oft findet die Werkstatt keinen Grund. Bundespolizei und Eisenbahnbundesamt ermitteln jetzt zur Ursache. Die Strecke bleibt mindestens über das Wochenende gesperrt.
In der anderen Hälfte des Zuges sitzt Sascha Frank und wundert sich wie viele andere. Eben noch hatte der ICE in Siegburg gehalten, jetzt macht er eine Schnellbremsung auf freier Strecke. In diesem Teil des Zuges weiß zunächst keiner, was der dramatische Grund ist. Frank bekommt es nebenbei von einer Zugbegleiterin mit. Er wird es selbst erst später beim Aussteigen sehen.
Im zweiten Teil des ICE 511 dehnt sich die Zeit hinter verschlossenen Türen. "Die Zugbegleiterin hat das sehr gut gemacht, Geschäftsreisende haben beruhigend auf mich eingeredet, dass alles gut wird. Aber ich hatte Angst und andere auch", sagt Sascha Frank. Eine indische Familie ist mit zwei kleinen Kindern unterwegs, eines hört nicht mehr auf zu weinen.
Evakuierung mit Leitern
Vielleicht sind es fünf Minuten, vielleicht zehn, die der Zug steht, als Angelique Bark im anderen Wagen "Klack-Klack-Klack" hört. Es sind Leitern, die an die Türen angelegt werden. Die Menschen können den Zug gleich verlassen. Das ist schnell gegangen. Vor einer Evakuierung muss die Strecke gesperrt sein, es muss sichergestellt sein, dass die Oberleitung nicht heruntergekommen ist. Das Licht im Zug geht kurz aus, dann wird es aus einem Akku gespeist.
Die Türen öffnen sich. Kein störendes Gepäck mitnehmen, hat die Zugbegleiterin gesagt, das sei eine "Fluchthinderung". Manche nehmen trotzdem Koffer mit über die improvisierten Ausstiege aus dem Zug. Bark im hinteren wie auch Frank im vorderen Zugteil sprechen trotzdem von einer sehr professionellen Evakuierung. Klare Ansagen über Megafon. Die Bahn hat hohe Standards dafür. In jedem ICE auf der Strecke muss eine bestimmte Zahl an Mitarbeitern in einem Selbstrettungskonzept geschult sein.
Und trotzdem erfassen manche Reisende vorne die Lage nur dadurch, dass vor dem Fenster andere Fahrgäste mit dem Taschenlampenlicht ihrer Smartphones wild gestikulieren. "Es gab bis dahin in unserem Wagen im vorderen Zugteil keinerlei Informationen von der Bahn", berichtet Fahrgast Wolfgang Wolk. "Wir haben uns normal unterhalten und uns gefragt, wann es weiter geht, bis wir draußen auf den Gleisen die Menschen gesehen haben."
Auch Tim Hübner im vorderen Zugteil empfindet es unkoordiniert, vermisste Ansagen. "Das hat sich erst geändert, als die Feuerwehr übernommen hat." Wolk stimmt zu: "Die Bahn hat aus meiner Sicht gepatzt, die Hilfsdienste waren absolut beeindruckend."
Die Feuerwehr im Westerwald hat ein ähnliches Szenario erst vor wenigen Monaten mit der Deutschen Bahn in der Nähe geübt. Es gibt festgelegte Rettungsplätze, zu denen die Menschen geführt werden. Am Freitagmorgen stehen nun in kurzen Abständen Helfer. Es geht zu einer Brücke über die A3. Dort legt die Feuerwehr Leitern an einer Böschung an, damit niemand auf dem Weg nach unten wegrutscht. Um 7.15 Uhr kommt die Bestätigung: Alle Reisenden sind an dem Sammelplatz an der Autobahn, im Zug ist niemand mehr. Damit ist die Evakuierung erfolgreich abgeschlossen.
Mehrere Menschen verletzten sich
Eine Person hat sich dennoch das Sprunggelenk gebrochen, berichtet die Bundespolizei. "Rechts in Fahrtrichtung ging es mehr als zwei Meter runter", sagt Wolfgang Wolk. Dazu gibt es Fälle von Verstauchungen und Kreislaufproblemen, insgesamt sind es fünf Verletzte. Für den Großteil der Reisenden geht die Fahrt zunächst weiter mit Kleinbussen der Feuerwehr nach Dierdorf in eine Halle, wo Kaffee und Tee bereit stehen. "Sensationell", findet Wolk. "So viele Helfer dort, so perfekt organisiert."
Einige Reisende wollen das nicht, wollen lieber direkt mit dem Taxi weiterfahren. Angelique Bark und Sascha Frank sind darunter. Sie müssen sich namentlich bei der Feuerwehr abmelden, auch hier läuft alles sehr koordiniert. 208 Euro zahlt Frank schließlich für ein Taxi zum Frankfurter Flughafen. "Ich hoffe, dass die Bahn das erstattet."
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Angelique Bark findet eine Mitfahrgelegenheit. In Neuwied steigt sie dann in einen Zug, zunächst mit einem mulmigen Gefühl. Über Koblenz landet sie dann an ihrem Ziel Karlsruhe. "Ich zittere immer noch ein bisschen", sagt sie am Mittag. "Obwohl ich mich eigentlich durch die Menschen um mich sicher gefühlt habe."
- Eigene Recherchen
- Pressemitteilung der Bahn zur Sperrung