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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Elfjähriger tötete offenbar Zehnjährige "Leider ist genau das nun passiert"
In Wunsiedel soll ein Elfjähriger ein zehnjähriges Mädchen getötet haben. Warum bringen Kinder andere Kinder um? Eine Therapeutin ordnet die Geschehnisse ein.
Es ist ein Fall, der Entsetzen auslöst: Vor einer Woche wurde ein zehnjähriges Mädchen in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung im bayerischen Wunsiedel tot aufgefunden. Die Ermittler gehen von einem Tötungsdelikt aus. Am Freitag gab die Polizei bekannt, dass ein Elfjähriger an der Tat beteiligt gewesen sein soll. Hier lesen Sie, was bislang zu dem Fall bekannt ist.
Die Geschehnisse in Wunsiedel wecken Erinnerungen an Freudenberg, wo vor wenigen Wochen ein Mädchen von zwei Gleichaltrigen ermordet wurde. Doch was bringt ein Kind dazu, ein anderes zu töten? Weshalb hat die Zahl krimineller Delikte bei Kindern und Jugendlichen zugenommen? Und wie kann die Gesellschaft darauf reagieren?
Im Interview schildert die Kinderpsychotherapeutin Inés Brock-Harder aus Halle (Saale) ihre Sicht auf den Fall in Wunsiedel und seine möglichen Hintergründe. Außerdem erklärt sie, welche Folgen die Pandemie für die Psyche von Kindern und Jugendlichen hatte und was diese nun brauchen.
t-online: Frau Brock-Harder, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vom Tod des Mädchens in Wunsiedel hörten?
Inés Brock-Harder: Ich habe mich gefragt, wie der Betreuungsschlüssel in der Einrichtung wohl ist. Dieser ist entscheidend dafür, wie gut auf Kinder und deren Bedürfnisse eingegangen werden kann. Wenn Betreuerinnen und Betreuer fehlen, fallen Kinder durchs Raster und Auffälligkeiten werden nicht festgestellt.
Auf etwa 90 Kinder in der Einrichtung kommen offenbar ähnlich viele Betreuer. Das klingt nach einem guten Verhältnis.
Ja, das konnte ich den Medienberichten dann auch entnehmen. Das ist in der Tat ein Betreuungsschlüssel, wie man ihn anstrebt. Trotzdem wissen wir nicht, wie es tatsächlich aussieht, etwa mit kurzfristigen Ausfällen, Urlaub oder Überlastung. Fakt ist: Vielerorts ist ein solcher Betreuungsschlüssel nicht erfüllbar.
Inés Brock-Harder
ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Erziehungswissenschaftlerin und Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (bkj). Sie ist Hochschullehrerin für Klinische Psychologie und empirische Familienforschung.
Warum nicht?
Allgemein haben die Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen große Schwierigkeiten. Die Einrichtungen rufen oft nach Hilfe. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen pfeifen aus dem letzten Loch. Wir haben da in Deutschland ein echtes Problem.
Dass sich die Tat in einer solchen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung zugetragen hat, erstaunt Sie also nicht?
In dem konkreten Fall wissen wir bislang zu wenig. Die Dynamik zwischen den beiden Kindern – dem zehnjährigen Opfer und dem Elfjährigen, der an der Tötung beteiligt gewesen sein soll – ist ja völlig unbekannt. Ebenso wenig wissen wir, warum diese Kinder in der Einrichtung gelebt haben, ob sie beispielsweise traumatisiert waren oder besonderen Betreuungsbedarf hatten. Grundsätzlich aber gilt: Fast alle Kinder in solchen Einrichtungen haben psychische Probleme. Ob diese zwingend therapeutisch begleitet werden müssen, kommt auf den Einzelfall an.
Warum kommen Kinder und Jugendliche in ein solches Heim?
Die Gründe sind sehr verschieden. Gemeinsam haben viele Kinder, dass sie zuvor oft keine verlässlichen Bezugspersonen in ihrem Leben hatten. Das liegt aber nicht daran, dass das alles Waisenkinder wären, nur ein kleiner Teil der Kinder hat beide Eltern verloren.
Sondern?
Die meisten Kinder und Jugendlichen haben leibliche Eltern, die aber nicht erziehungsfähig sind. Die Kinder brauchen also verlässliche Bezugspersonen und Struktur. Oftmals kann das in solchen Einrichtungen allerdings nicht gewährleistet werden, wenn Betreuerinnen und Betreuer wegen zu wenig Personal überlastet sind und deshalb die Einrichtung nach relativ kurzer Zeit wieder verlassen.
Ohne im aktuellen Fall zu viel zu spekulieren, ganz allgemein gesprochen: Was bringt ein Kind dazu, ein anderes zu töten?
Zunächst wissen wir gar nicht, inwieweit der 11-jährige Tatverdächtige den Tod des Mädchens auch tatsächlich beabsichtigt hat. Noch ist offen, ob er etwa bei einer Interaktion mit dem Mädchen Gefahren unterschätzt hat – und es damit ungewollt zum Tod des Mädchens kam. Grundsätzlich ist es bei Kindern in diesem mittleren Alter so, dass sie das noch nicht in dem Maße abschätzen können, weil sie ihre Affekte noch nicht richtig steuern können. In dem Alter lernen Kinder erst, die Gefühle, die sie überfluten, zu regulieren.
Das heißt also, dass relativ kleine Ereignisse bei Kindern heftige Reaktionen hervorrufen können, deren langfristige Folgen sie in diesem Alter gar nicht abschätzen können?
Genau. Hinzu kommt: Vernachlässigte, vielleicht sogar misshandelte Kinder sind oft besonders instabil. Sie können ihre Gefühle nur schwer einordnen und ihre Handlungen im Affekt oft nicht richtig steuern.
Erst vor wenigen Wochen wurde die zwölfjährige Luise in Freudenberg offenbar von zwei Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren mit zahlreichen Messerstichen getötet. Nimmt die Gewalt unter Kindern und Jugendlichen zu?
Die kürzlich publizierte Kriminalitätsstatistik zeigt, dass die Zahl von kriminellen Delikten bei Kindern im Vergleich zum Vorjahr zugenommen hat. Über einen längeren Zeitraum betrachtet kann man jedoch nicht von einer dramatischen Zunahme sprechen. Zudem erwarten Experten, dass sich die Zahlen wieder auf einem niedrigeren Niveau einpendeln werden.
Kinder unter 14 Jahren können in Deutschland nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Nach dem jüngsten Fall fordern manche eine Herabsetzung dieses Alters der Strafmündigkeit. Wäre das sinnvoll?
Es bringt nichts, diese Kinder ins Gefängnis zu stecken, egal wie dieses aussieht. Durch Jugendhilfe können wir daran arbeiten, diesen Kindern noch irgendwie eine Zukunft zu geben. Natürlich sind bei solchen Fällen die Opfer das Dramatischste. Aber auch die Täter sind Opfer ihrer Biografie. Und das müssen wir auffangen und abfedern.
Wie lässt sich erreichen, dass diese Täter später tatsächlich ein "normales Leben" führen können?
Das Wichtigste ist: Die Kinder müssen ihre Schuld anerkennen. Das heißt, sie müssen mit der Hilfe von Psychotherapeutinnen, Psychologen und Sozialarbeiterinnen die Dimension ihrer Tat begreifen. Oft nämlich verdrängen die Täter ihre Tat, häufig kapseln sie sie ab. Das heißt: Es kommt oft gar nicht wirklich an in der Seele, aber da muss es ankommen, um verarbeitet zu werden.
Sprechen wir noch einmal über die allgemeine Zunahme der Straftaten von Kindern. Wie lässt sich die erklären?
Das hat damit zu tun, dass wir Kinder und Jugendliche – insbesondere aus schwierigen Verhältnissen – während der Pandemie vernachlässigt und allein gelassen haben. Was mich ärgert: Ich habe bereits zu Beginn der Pandemie darauf aufmerksam gemacht, dass wir eine riesige Welle an psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen erleben werden, wenn wir deren Bedürfnisse nicht berücksichtigen. Leider ist genau das nun passiert.
Warum waren gerade Kinder besonders belastet?
Kindern fehlen in solchen Situationen Bewältigungsstrategien. Erwachsene können sich vor Augen führen, was sie in ihrem Leben bereits gemeistert haben und daraus die Gewissheit ziehen, dass sie eine schwierige Situation überstehen werden. Kinder leben stärker im Moment. Eine Ausnahmesituation wie die Pandemie ist somit eine dramatische Belastung.
Was brauchen Kinder denn aktuell?
Zweieinhalb Jahre sind im Leben eines Kindes eine lange Zeit. Diese Zeit brauchen Minderjährige nun, um Entwicklungen nachzuholen, die während der Pandemie unterbrochen wurden. Vielen Kindern fehlte während Monaten der Kontakt zu Gleichaltrigen. Nun brauchen sie Räume, in denen sie miteinander interagieren können. Sie müssen lernen, wie man Herausforderungen meistert und Konflikte gewaltfrei löst.
Eigentlich hätten alle Kinder ein Sabbatjahr gebraucht.
Inés Brock-Harder
Wie kann das konkret aussehen?
Wir müssen den Druck aus der Schule rausnehmen. Weil sie so lange nicht in der Schule waren, haben viele Kinder Ängste entwickelt. Es ist nicht sinnvoll zu fordern, dass Kinder und Jugendliche in kürzester Zeit aufholen, was sie verpasst haben. Eigentlich hätten alle Kinder ein Sabbatjahr gebraucht, um verpasste Entwicklungen und Erfahren aufzuholen, um wieder im Alltag anzukommen.
Das geht natürlich nicht so einfach.
Die Schulen sollten aber zumindest versuchen, solche Räume innerhalb bestehender Strukturen zu schaffen. Beispielsweise durch Projektarbeiten, in denen Kinder in den Austausch treten können. Wir müssen Kinder wieder in Freizeit- und Sportangebote einbinden. Wichtig ist, dass das Miteinander von Kindern und Jugendlichen gefördert wird und sie Wertschätzung, Respekt, Rücksichtnahme lernen können. Dazu brauchen wir allerdings mehr Pädagogen, die sich für die Kinder und Jugendlichen Zeit nehmen.
Der Lehrermangel ist bereits jetzt akut, zusätzliche Pädagogen einzustellen, ist kaum realistisch. Welche Rolle könnten da Therapeuten übernehmen?
Auch dort herrscht ein Mangel an Fachpersonal. Kinder und Jugendliche müssen aktuell bis zu einem Vierteljahr auf Therapieplätze im ambulanten Bereich warten. Wir sollten aber zumindest versuchen, Minderjährige über niedrigschwellige Angebote zu erreichen. Indem man Sprechstunden an den Schulen anbietet. Das Schulsystem ist aktuell der beste Zugangsweg.
Halten Sie das aktuell für realistisch?
Den Ländern und Kommunen fehlt dafür das Geld. Und der Bund hat bisher leider nicht die große Büchse rausgeholt, um das System entsprechend zu stärken. Dabei wäre das dringend nötig: Das System ist nicht gut genug ausgerüstet, um die Belastungen der Pandemie aufzufangen.
Wird sich die Situation dann weiter verschärfen, wenn das nicht geschieht?
Der Trend, dass Kinder und Jugendliche häufiger Straftaten begehen, muss sich nicht zwingend fortsetzen. Wir können etwas dagegen tun, das merke ich auch bei Kindern und Jugendlichen in meiner Praxis: Die kamen mit Depressionen, Angst- und Essstörungen und können ihre Psyche mit der richtigen Unterstützung wieder ausbalancieren. Allerdings werden wir diese Welle, die wir aktuell beobachten, noch eine Weile vor uns herschieben – wenn die nötige Versorgung fehlt. Das führt im schlechtesten Fall dazu, dass Menschen psychische Krankheiten lange mit sich rumschleppen. Dadurch bleiben Therapieplätze lange besetzt. Je weniger wir aktuell tun, desto länger wird es dauern, bis sich die Lage wieder beruhigt. Allerdings muss man sagen, dass die Situation auch vor der Pandemie nicht perfekt war.
Frau Brock-Harder, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefonisches Gespräch mit Inés Brock-Harder am 11.04.2023
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa