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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Megabauten, WM und Milliardenkosten "Dazu sind in Deutschland nur wenige Menschen bereit"
Die Monarchie in Saudi-Arabien hat großes vor: Die "Vision 2030". Was es damit auf sich hat, erklärt ein Experte im Interview.
Die Wahl hat für weltweite Entrüstung gesorgt: 2034 findet die Fußball-Weltmeisterschaft der Herren in Saudi-Arabien statt. Ein großer Erfolg aus Sicht des reichen Golfstaats.
Doch es ist nicht das einzige ambitionierte Projekt der Monarchen. Sie haben mit der "Vision 2030" ein milliardenschweres Vorhaben in die Wege geleitet. 21.000 Arbeiter sollen dabei jedoch ums Leben gekommen sein.
Dennoch geht die "Vision 2030" unentwegt weiter. Was sich Saudi-Arabien von den Mega-Projekten verspricht, was sich das Land aus Deutschland erhofft und welche Folgen das Vorhaben für die Region hat, erklärt der Wissenschaftler Sebastian Sons im Interview mit t-online.
t-online: Herr Sons, Saudi-Arabien baut gerade das größte Gebäude der Welt, ein Ski-Resort in der Wüste und richtet 2034 die Fußball-WM aus. Was soll das Ganze?
Sebastian Sons: Das gehört zur "Vision 2030": ein Modernisierungsvorhaben, das Saudi- Arabien in das Post-Ölzeitalter führen soll, und das auf mehreren Ebenen. Da geht es zum einen um die Wirtschaft. Das Land will sich unabhängiger vom Erdöl machen. Zum anderen wird in Zukunft in andere Sektoren investiert, wie Tourismus, Sport und Infrastruktur.
Also ist die "Vision 2030" nur ein Wirtschaftsprogramm?
Nein, es geht auch um gesellschaftliche Veränderungen. Die Monarchie will eine neue saudische Identität entwickeln, sich neu erfinden. Saudi-Arabien hat eine sehr junge Bevölkerung. Rund 60 Prozent der Menschen sind unter 30. Es gilt, Ihnen eine Zukunft, allen voran auf dem Arbeitsmarkt, anzubieten. Das bedeutet aber auch, dass die Vision 2030 kein fixer Plan ist, sondern eher eine Modernisierungskampagne, die flexibel ist. So kann man auch im Nachhinein behaupten, dass alles Teil des Plans sei. Etwa wenn Geld umgeschichtet wird, weil es aktuelle Notwendigkeiten gibt. Oder wenn die Mega-Projekte doch nicht so groß und gigantisch ausfallen, wie auf den Modellbildern dargestellt. Schon jetzt heißt es: Wenn nur 30, 40 Prozent des Geplanten umgesetzt werden, ist das ein historischer Erfolg für Saudi-Arabien.
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Also alles kann, nichts muss?
Doch, es gibt auch externen Druck, Projekte fertigzustellen. Da haben wir vor allen Dingen die Sportveranstaltungen, die asiatischen Winterspiele 2029 und die Fußball-WM 2034. Bei letzterer sollen elf neue Stadien entstehen. Da will man bessere Stadien bauen und eine bessere WM durchführen als der regionale Konkurrent Katar. Außerdem findet die Expo 2030 in der Hauptstadt Riad statt. Sollte etwas nicht rechtzeitig fertiggestellt werden, wäre das der Worst Case. Entsprechend liegt die Priorität bei diesen Vorhaben. Milliarden-Investitionen ins Ausland wie in den englischen Fußballklub Newcastle United werden heruntergefahren. Das Geld soll im Land bleiben.
Die Projekte sollen und werden viel Geld kosten. Wie sorglos kann der Golfstaat diese Summen ausgeben?
In Saudi-Arabien hat man schon Erfahrungen mit Großprojekten gemacht und will sich schützen. Etwa wenn der Ölpreis einbricht und man dann die Pläne in die Schublade packen muss. Deswegen baut man dieses Erwartungsmanagement auf. Man setzt sich hohe Ziele, aber lässt eine Hintertür offen. Was sich aber in naher Zukunft erstmal nicht ändern wird: Über 60 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölgeschäft. Das bleibt so. Deswegen will man ausländische Direktinvestitionen steigern. Ölgeschäft. Das bleibt so. Deswegen will man ausländische Direktinvestitionen steigern. Da bleibt man bisher aber deutlich hinter den Erwartungen zurück. Bis 2030 sollen jährlich 100 Milliarden US-Dollar von ausländischen Investoren in Saudi-Arabien investiert werden. 2023 waren es aber gerade mal 12,3 Milliarden US-Dollar.
Zur Person
Dr. Sebastian Sons hat Islamwissenschaften, Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in Berlin sowie Damaskus studiert. Anschließend war er unter anderem Chefredakteur der wissenschaftlichen Zeitschrift "Orient". Aktuell ist er Wissenschaftler am Bonner Forschungsinstitut CARPO – Center of Applied Research in Partnership with the Orient. Er reist regelmäßig auf die arabische Halbinsel.
Gilt das Erwartungsmanagement auch für die Klimaziele? Angeblich sollen alle Projekte grün und nachhaltig werden.
Auch hier wird man sich flexibel zeigen. Man geht mit den maximalen Erwartungen heran, dass 100 Prozent der Energie für die Projekte grün geliefert werden. Kommt es anders wird man es trotzdem als Erfolg verkaufen. Dabei setzt man sehr stark auf Wasserstoff und auch auf Carbon Capture Storage. Fossile Energien sollen nach wie vor eine Rolle spielen. Einen Ausstieg wird es nicht in Gänze geben. Das sei für ihr Geschäftsmodell schädlich. Stattdessen soll die Ölproduktion grüner werden. Saudi-Arabien ist nicht der einzige Akteur, der das so sieht.
Das klingt aber nicht sehr grün.
Doch, am Golf werden die Bedrohungen durch den Klimawandel sehr ernst genommen. Naturkatastrophen, Dürren, Wassermangel, Hitze: Die arabische Halbinsel ist die Region auf der Welt, die am meisten vom Klimawandel bedroht ist. Man hat eine gemeinsame Herausforderung und muss sich dieser stellen. Man kann diesen Ansatz kritisieren, aber auch in Deutschland sind nur wenige Menschen bereit, individuelle Maßnahmen umzusetzen, um zur Einsparung von Energie beizutragen. Das ist in Saudi-Arabien nicht anders. Entsprechend ist die Frage: Was kann man den Menschen zumuten und was nicht? In Saudi-Arabien hat man eben eine große Affinität für technologische Innovation und weniger für Verhaltensänderung.
Wie wird die "Vision 2030" im Land aufgenommen?
Viele Menschen sind euphorisch. Es herrscht regelrecht Aufbruchsstimmung. Sie wollen an dem Vorhaben teilhaben. Gerade junge, gut ausgebildete Menschen aus den städtischen Ballungszentren finden sich darin wieder. Sie haben das Gefühl, jetzt endlich auch im Land gehört zu werden. Insbesondere viele Frauen, an die sich die "Vision 2030" ebenfalls richtet.
Klingt alles positiv. Trotzdem ist Saudi-Arabien hierzulande nicht zuletzt für Peitschenhiebe, getötete Journalisten und frauenverachtende Politik bekannt. Sind diese Veränderungen nicht nur ein Feigenblatt?
Nein, viele gesellschaftliche Veränderungen sind nicht zurückzudrehen, etwa dass Frauen Auto fahren dürfen, dass die Geschlechtertrennung weitestgehend aufgehoben ist und dass Kinos wieder geöffnet sind. Forderungen danach, wenn auch nur vorsichtige, gab es schon vor der "Vision 2030". Die gesamte Erzählung des Landes hat sich verändert. Sie grenzt sich bewusst von den früheren verkrusteten Strukturen ab. Saudi-Arabien soll nicht mehr nur für alte Männer, Dogmen und Religion stehen. Dabei wird das Vorhaben von oben herab durchgeführt und geht allein vom Kronprinzen Mohammed bin Salman (MBS), dem de facto Herrscher, aus. Er richtet sich insbesondere an die junge Generation. Gerade zu Beginn der "Vision" hat das vor allem bei älteren Menschen zu Unzufriedenheit und Irritationen geführt. Sie hatten das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören, obwohl sie jahrzehntelang die wichtigste Zielgruppe waren. Aber die Veränderungen sind notwendig, auch wenn es Modernisierungsverlierer geben wird.
Warum?
Mittlerweile arbeiten viele saudische Frauen und Männer in Jobs, in denen sie vor zehn Jahren niemals gearbeitet hätten. Taxifahrer, Rezeptionisten, Verkäufer – das waren klassische Jobs für Ausländer. Nun müssen aber auch saudische Staatsangehörige diese jetzt ausüben, um wirtschaftlich zu überleben. Entsprechend geht es bei der "Vision 2030" darum, Jobs zu schaffen und Ungleichheiten in der Bevölkerung zu reduzieren. Das heißt aber nicht, dass nur Megaprojekte gebaut werden. Denn Hochglanzbroschüren sind schön, aber die Menschen interessieren sich primär für ihr direktes Umfeld. Entsprechend wird auch in bezahlbaren Wohnraum investiert, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs wird vorangetrieben, Bildungsmaßnahmen werden umgesetzt. Man versucht die Vision 2030 als ein Entwicklungsprojekt zu sehen, das allen zugutekommt. Damit ist aber auch eines klar: Das Projekt richtet sich in allerster Linie an die saudische Bevölkerung und nicht an uns und den Rest der Welt.
Also spielt Deutschland keine Rolle für Saudi-Arabien?
Doch, aber nur zum Teil. Man möchte mehr Investoren und Touristen nach Saudi-Arabien locken. Aber primär geht es um die Menschen im Golfstaat. Sie sind die Machtbasis für die Regierenden und ihre Legitimität ist seit Jahrzehnten der Grundpfeiler der Monarchie.
Wie stellen die Monarchen die Legitimität sicher?
Es werden sogenannte "Renten" an die Bevölkerung vergeben, zum Beispiel in Form von kostenloser Bildung oder Gesundheitsversorgung. Dafür wird viel Geld in die Hand genommen, das zum großen Teil immer noch aus der Ölproduktion stammt. Das ist das saudische Versprechen. Im Gegenzug stützen die Bürger die Monarchen. Entsprechend müssen sie jetzt aber auch liefern. Denn die Erwartungen, allen voran bei den jungen Menschen, sind riesig. Sie erhoffen sich zum Beispiel eine Verbesserung der fürchterlichen Verkehrssituation in der Hauptstadt Riad. Wenn dort ein Fußballspiel, ein Konzert oder ein Festival stattfindet, überlegen sich die Leute dreimal, ob sie stundenlang im Stau stehen wollen. Viele bleiben dann zu Hause. Bei mehreren Veranstaltungen liegt die Stadt nämlich lahm.
Im Zentrum des Vorhabens steht Kronprinz Mohammed bin Salman. Er soll den Mord an den Journalisten Jamal Khashoggi in Auftrag gegeben haben, hat Krieg im Jemen geführt. Wie groß ist sein Rückhalt in der Bevölkerung?
Insbesondere bei der jungen, gut ausgebildeten städtischen Bevölkerung ist er sehr beliebt. MBS, wie er genannt wird, präsentiert sich als Architekt eines neuen Saudi- Arabiens, der jungen Männern und Frauen Chancen gibt, die sie früher nicht hatten. Das kommt an.
Wenn man Mohammed bin Salman betrachtet, gibt es zwei wichtige Beobachtungen: Die erste ist, dass er seinen Führungsstil zunehmend zentralisiert hat. Zwar war Saudi-Arabien immer eine Monarchie, in der der König sehr viel Macht hatte. Aber es war nie eine absolute Monarchie. Der König musste sich immer mit engen Familienangehörigen, Religionsgelehrten oder der Händlerelite abstimmen und auf sie Rücksicht nehmen. Das hat sich unter MBS geändert. Sein Machtanspruch ist absoluter geworden. Deswegen wird es auch immer gefährlicher, Kritik an der "Vision 2030" zu üben, weil er diese sehr persönlich nimmt. Er ist die "Vision 2030" und umgekehrt. Diese Entwicklung wird sicherlich noch zunehmen, wenn sein Vater Salman stirbt und MBS der König wird.
Und was ist Ihre zweite Beobachtung?
Seine aggressive Phase zu Beginn seiner Regentschaft 2017 diente der Konsolidierung. Er wollte sich als neuer Herrscher in Position bringen, denn weder in Saudi-Arabien noch im Ausland kannte man ihn. Er musste sich seine Meriten verdienen und hat einen kompromisslosen Weg gewählt: Er hat mögliche Kritiker ausgeschaltet, er hat mit dem alten Establishment gebrochen und einen populistischen Ansatz gewählt. Viele junge Menschen fanden das gut. Dementsprechend gab es früh einen Rückhalt innerhalb der Bevölkerung.
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Hat der Mord am Journalisten Jamal Khashoggi daran etwas geändert?
Ja, aber nicht so wie im Ausland, wo er zeitweise sehr kritisch gesehen und wurde und die Tat kurzzeitig zur internationalen Isolation geführt hat. Aber noch gravierender für die Saudis selbst waren Anschläge auf zwei saudische Ölraffinerien im September 2019. Man hat sich verletzlich gefühlt. Seitdem hat sich MBS zurückgenommen und umgibt sich mehr mit erfahrenen, älteren Experten, wie zum Beispiel Außenminister Faisan bin Farhan. Dieser ist sehr erfahren auf dem internationalen Parkett und agiert sehr diplomatisch. Saudi-Arabien handelt nun in der Regionalpolitik wieder traditioneller, ausgleichender, als Mediator und Vermittler in den unterschiedlichsten Konflikten. Das haben wir in Gaza gesehen und das werden wir wohl im Fall von Syrien erleben.
Was heißt das konkret?
Saudi-Arabien setzt auf politischen Ausgleich und seinen Status als religiöse Führungskraft in der islamischen Welt. Die Saudis sind die Hüter der beiden heiligen muslimischen Stätten: Mekka, Geburtsstadt des Propheten Mohammed und wichtiges Wallfahrtsziel, sowie Medina, wo sich die Grabstätte des Propheten befindet. Sie sagen: "Wir sind deswegen die Führungsnation in der islamischen Welt, und wir brauchen regionale Stabilität, um unseren wirtschaftlichen Fortschritt umzusetzen." Die Monarchen wissen, dass sie mit ihren regionalen Konkurrenten klarkommen müssen. Man sieht Annäherungen der saudischen Diplomatie in alle Richtungen. Höhepunkt war die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zum Iran im März 2023. Auch wenn MBS erratisch agiert, zeichnet ihn aus, dass er die Fähigkeit hat, das traditionelle Saudi-Arabien nicht aus den Augen zu verlieren. Auch wenn er bewusst den Personenkult um sich schürt und sich als Marke stilisiert. Er will als Gestalter des neuen jungen Saudi-Arabiens gesehen werden, dass sich als Friedensstifter in der Region präsentiert.
Wie sieht MBS die Entwicklungen in Syrien?
Für Saudi-Arabien kam der Sturz des Assad-Regimes ebenso überraschend wie für viele andere Akteure in der Region oder auch für uns. In den letzten Monaten hatte Riad versucht, sich mit Assad zu arrangieren und mit anderen arabischen Staaten wie etwa den Emiraten darauf gedrängt, Syrien wieder in die Arabische Liga aufzunehmen. Saudi-Arabien hoffte mit dieser Annäherung, zu regionaler Stabilität beizutragen. Außerdem werden viele synthetische Drogen, sogenanntes Captagon, aus Syrien über den Libanon ins Königreich geschmuggelt. Das ist zunehmend ein Problem, und MBS hoffte, Assad dazu zu bringen, diesen Schmuggel einzustellen, nachdem er wieder Teil der arabischen Staatenfamilie geworden war. Das war ein Trugschluss.
Definitiv betrachtet Saudi-Arabien den Sturz Assads als Chance und Gefahr gleichermaßen: Zum einen hofft man auf einen geordneten Übergang und einen pragmatischen Umgang mit der neuen Regierung – auch wenn diese islamistisch geprägt sein sollte. Zum anderen fürchtet man neues Chaos und eine Machtübernahme von militanten Islamisten wie dem Islamischen Staat. Außerdem wird der Vormarsch Israels auf syrisches Territorium als Risiko für die regionale Sicherheit angesehen, da man unbedingt eine weitere Eskalation mit Iran vermeiden will. Ein israelisch-iranischer Krieg wäre für Saudi-Arabien eine geschäftsschädigende Katastrophe.
- Videointerview mit Dr. Sebastian Sons