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Berliner Regisseur Jurijs Saule: "Ich bin grundsätzlich nicht gegen Rache"


Regisseur von "Martin liest den Koran"
"Ich bin grundsätzlich nicht gegen Rache"

InterviewVon Simone Bischof

20.01.2025 - 08:01 UhrLesedauer: 4 Min.
Jurijs Saule: Der Regisseur von "Martin liest den Koran" wurde in Riga (Lettland) geboren und lebt in Berlin.Vergrößern des Bildes
Jurijs Saule: Der Regisseur von "Martin liest den Koran" wurde in Riga (Lettland) geboren und lebt in Berlin. (Quelle: PR)
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Jurijs Saule ist getaufter Jude, sein erster Kinofilm dreht sich um den Islam. Mit t-online spricht der Regisseur über Rache und Versöhnung und den Missbrauch von Religion.

Im Film "Martin liest den Koran" des Berliner Regisseurs und Drehbuchautors Jurijs Saule geht es um einen jungen muslimischen Vater, der sich zunehmend radikalisiert. Schließlich plant er offenbar einen Anschlag – und bittet dazu einen Islamwissenschaftler um Rat.

Das intensive Kammerspiel wirft drängende Fragen auf: Wie entstehen Hass und Radikalisierung? Können Worte Leben retten? Und welche Möglichkeiten der Versöhnung gibt es?

Jurijs Saule beweist in dem Film sein Gespür für menschliche Abgründe. t-online hat mit ihm über Rache als probates Mittel gesprochen und ihn gefragt, warum er sich als Jude in seinem Erstlingswerk derart intensiv mit dem Islam auseinandersetzt.

t-online: Herr Saule, in Ihrem neuen Film geht es auch um Versöhnung. Wann haben Sie zuletzt jemandem vergeben?

Jurijs Saule: Das war nach der Team-Vorführung des Films im August. Ein Teammitglied hat mich verbal attackiert. Er meinte, man würde merken, dass ich ein schlechter Mensch bin, nachdem man den Film gesehen hat. Das hat mich sehr beschäftigt, weil ich nicht wusste, was los ist.

Wie ging es danach weiter?

Später hat sich ein Bekannter in seinem Namen entschuldigt. Er sagte, dass er überarbeitet war und Probleme mit der Filmbranche hatte. Das Ganze hatte mit mir nichts zu tun. Dafür hatte ich Verständnis, und ich habe ihm vergeben.

Haben Sie mit anderen darüber gesprochen?

Ich habe Kollegen gefragt, ob ich vielleicht etwas Falsches gesagt oder getan habe. Wenn es um zwischenmenschliche Dinge geht, will ich sie verstehen und mögliche Probleme lösen.

Sollte man öfter über sein eigenes Handeln nachdenken? Oder ist Rache ein geeignetes Mittel, um sich Genugtuung zu verschaffen – so wie im Film?

Ich bin grundsätzlich nicht gegen Rache – wenn sie irgendeinen Sinn ergibt. Natürlich rate ich jedem, sich das zehnmal zu überlegen. Es ist besser, länger nachzudenken, bevor man reagiert und vielleicht etwas Falsches macht. Zeit spielt bei Gefühlen eine Rolle. Besonders, wenn wir wütend sind.

Wann ergibt Rache Sinn?

Wenn man nach langem Nachdenken keine Gerechtigkeit sieht und der andere sich weiterhin über einen lustig macht. Oder wenn es keine Hoffnung auf eine einvernehmliche oder juristische Lösung gibt – und man deshalb leidet. Ich glaube, dann ergibt Rache einen Sinn. Grundsätzlich ist es schwer, diese Fragen zu beantworten, weil alles von Fall zu Fall abhängt.

Haben Sie sich schon mal gerächt?

(lacht) Ja, als ich 17 Jahre alt war. An meiner Ex-Freundin, wegen Jugendstreitereien. Aber wir haben uns nach einem Monat wieder vertragen.

Was haben Sie gemacht?

Damals gab es noch kein Internet, aber Videokassetten. Sie hat sich öfter beim Tanzen gefilmt, was lustig ausgesehen hat. Ich habe davon aufwendig Kopien angefertigt und diese im Freundeskreis verteilt. Ich habe keine Ahnung, was ich damit bezwecken wollte. Es war harmlos. Und heute zeigt jeder auf TikTok, wie er tanzt.

In Ihrem Film geht es um den Islam. Der Protagonist Martin hat den Koran gelesen und droht mit einem, nach seiner Meinung gerechtfertigten Terroranschlag. Ist Religion ein Leitfaden für menschliches Miteinander oder sorgt sie eher für Feindseligkeiten und Rache?

Religion wird oft als Vorwand benutzt. Im Film sagt der Professor über den Attentäter, dass er gar nicht unbedingt den Koran lesen muss. Er könnte genauso gut das Telefonbuch lesen und als Vorwand für seine Tat nutzen. Wenn sich jemand etwas in den Kopf gesetzt hat, sucht er sich die passenden Antworten. Egal, wo.

Jurijs Saule.
Jurijs Saule. (Quelle: Mio Schweiger)

Zur Person

Jurijs Saule stammt aus einer jüdisch-russischen Familie und wurde 1985 in Lettland geboren. Er studierte Slawische Sprachen und Literatur sowie Mathematik an der Humboldt Universität Berlin. Er ist Mitglied der Deutschen Filmakademie.

Also ist Religion an sich etwas Gutes und wird erst dann gefährlich, wenn sie von Radikalen für ihre Zwecke missbraucht wird?

Richtig. Mit meinem Film will ich auch zeigen, dass wir vergessen haben, dass Religion uns lehrt, dass alle Menschen gleich sind. Es war nicht die Vernunft, es waren auch nicht die Philosophen. Es steht in der Bibel, im Koran und in der Thora. Ich denke, die religiösen Schriften sind das, was für uns heute auch die Verfassung ist. Es geht um die Einhaltung von Geboten und Gesetzen, um miteinander klarzukommen.

Ist Martin ein Gläubiger?

Er tut nur so, als wäre er ein Gläubiger. Er sagt zwar, dass er vor einem Jahr angefangen hat, den Koran zu lesen, und behauptet, das Wort Gottes verstanden zu haben. Doch am Ende stellen wir fest, dass er den Koran auswendig gelernt und sich die Argumente herausgepickt hat, die ihm nützen könnten, um einen Anschlag zu begehen.

Die Familie ihres Protagonisten stammt aus dem Iran. Wieso heißt er Martin?

Seine Eltern sind nach Deutschland gekommen. Sie waren nicht religiös und haben ihn auch nicht religiös erzogen. Deswegen nannten sie ihn Martin und nicht Ahmed oder Mohammed.

Das ist aber eher eine Ausnahme. Wollen Sie mit Ihrem Film auch für mehr Islam-Verständnis werben?

Viele Menschen mit muslimischem Glauben flüchten aus Ländern, in denen der Islam zwar die bestimmende Religion ist. Doch sie werden dort von den Religionsführern oft nicht gut behandelt. Mit dem Film möchte ich auch zeigen, dass der Islam eine Religion wie das Christentum ist. Natürlich haben Muslime andere Grundsätze. Doch in beiden Religionen geht es um Respekt und Liebe. Was die Hardliner daraus machen, ist etwas anderes.

Sind Sie religiös?

Nein. Ich glaube an Gott, bin aber nicht religiös. Ich bin ein getaufter Jude. Meine Großeltern stammten aus Russland und Lettland, ein Teil der Familie ist jüdisch. Mich haben sie trotzdem taufen lassen. Ich bin mit den biblischen Geschichten aufgewachsen. Das hat mir bei der Umsetzung des Films geholfen.

Inwiefern?

Ich denke, dass ein Regisseur so einen Film nicht umsetzen kann, ohne an Gott zu glauben. Man muss mit einer gewissen Ehrfurcht an dieses Thema herangehen. Zumal es das Erstlingswerk eines Juden ist, und dann auch noch über den Koran. Vielleicht führt es zu mehr Kulturverständigung, wenn ein Jude sich auf diese Weise mit muslimischer Kultur beschäftigt. Ich würde diesen Beitrag gerne leisten.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Jurijs Saule
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