Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Film "Martin liest den Koran" "So etwas habe ich in der Form nicht erwartet"
Der Regisseur Jurijs Saule wagt sich in "Martin liest den Koran" an ein heikles Thema: religiösen Extremismus. Warum er sich als Jude in seinem Erstlingswerk mit dem Islam auseinandersetzt, erzählt er im Gespräch mit t-online.
Mit seinem Debütfilm "Martin liest den Koran" hat der Berliner Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Jurijs Saule ein intensives Drama auf die Leinwand gebracht: In dem Film dreht sich alles um ein Gespräch zwischen einem Islamwissenschaftler und einem sich radikalisierten Vater. In dem zunächst harmlosen Dialog geht es um Religion, Moral und die Grenzen des Glaubens. Doch die Stimmung kippt, als der Vater seine Pläne für einen islamistischen Terroranschlag offenbart.
Jurijs Saule stammt aus einer jüdischen Familie. Er empfindet es als Glück, dass die Dreharbeiten vor dem Terrorangriff der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 bereits abgeschlossen waren, sagt er. Mit t-online spricht Saule über seine Motivation, als Jude den Islam zu thematisieren – und wie sich Freundschaften seit dem Kriegsbeginn in Nahost verändert haben.
t-online: Herr Saule, wieso haben Sie für Ihr Erstlingswerk ein derart tiefgreifendes gesellschaftliches Thema gewählt?
Jurijs Saule: Ich wollte von Anfang an nichts machen, das wie ein Erstlingswerk aussieht. Also beispielsweise einen Film über Liebe oder vielleicht einen kleinen Gangsterfilm. Es gibt heutzutage sehr viele Filme, mit denen Filmschaffende ihre Karriere vorantreiben. Ich wollte etwas für die Gesellschaft machen. Ein Thema, über das die Zuschauer nachdenken und sich damit auseinandersetzen.
Weil Sie selbst ein politischer Mensch sind?
Ich selbst wollte vor meinem 25. Lebensjahr mit Politik nichts zu tun haben. Das änderte sich ab 2015 mit der damaligen Flüchtlingswelle nach Deutschland. Ab da wollte ich herausfinden, was auf der Welt passiert. Ich habe angefangen, mich politisch damit auseinanderzusetzen, warum Flüchtlinge hierherkommen und weshalb Menschen in ihren Herkunftsländern sterben. Gleichzeitig wollte ich herausfinden, welchen Inhalt und welche Moral der Koran hat. Dieses Thema war besonders interessant für mich, weil ich noch Vorurteile gegenüber Muslimen hatte.
Zur Person
Jurijs Saule stammt aus einer jüdisch-russischen Familie und wurde 1985 in Lettland geboren. Er studierte Slawische Sprachen und Literatur sowie Mathematik in Berlin. Da er keine Filmschule besuchte, brachte er sich über 20 Jahre hinweg autodidaktisch das Schreiben von Kurzgeschichten und Drehbüchern sowie den Umgang mit Schnitt und Kameraführung bei.
Welche Vorurteile hatten Sie?
Ich kann das gar nicht genau benennen. Lassen Sie es mich so erklären: Es gibt einen Unterschied zwischen der Aussage, dass alle Menschen und alle Religionen gleich viel wert sind – und dem Vertrauen darauf, dass das auch in den Köpfen aller Menschen so ankommt. Wenn man mitbekommt, dass einige Menschen sehr religiös sind, man deren Religion aber überhaupt nicht kennt – und dann auch noch zum Beispiel in den sozialen Netzwerken liest, dass das womöglich eine gefährliche Religion ist –, entwickelt man Vorurteile. Ich habe dann angefangen, mich mit dem Islam zu befassen und damit ein Thema angenommen, bei dem ich mir selbst der eigene Feind war.
Was heißt das?
Dass ich mich selbst von meinen Vorurteilen befreien musste.
Ist Ihnen das gelungen?
Ja. Alleine schon deshalb, weil ich bei meinen Recherchen arabische Freunde gefunden habe. Durch lange Gespräche bin ich in ihre Kultur eingetaucht.
Thematisieren Sie deshalb als Jude in Ihrem Erstlingswerk den Koran und die Auslegung von muslimischen Glaubensgeboten?
Wie erwähnt wollte ich etwas schaffen, mit dem sich der Zuschauer auseinandersetzt – so wie ich es auch getan habe. Ohne das Wissen über den Islam, das ich jetzt habe, und meine Lebenserfahrung hätte ich diesen Film nicht machen können.
- Tatort-Star Ulrich Tukur: "Auch ich kann in die Luft gehen"
Hatten die Ereignisse am 7. Oktober und danach Einfluss auf den Film?
Nein. Das Drehbuch ist vorher entstanden, der Film war auch schon fertig gedreht.
Hat sich für Sie selbst etwas verändert?
Ja, natürlich. Am meisten haben mich die Vorurteile gegenüber Juden in meinem muslimischen Freundeskreis überrascht. Die wurden plötzlich laut ausgesprochen, auch in meine Richtung. Verbreitet wurden auch judenfeindliche Verschwörungstheorien und Aussagen wie "Man müsse Israel zeigen, wo es lang geht". So etwas habe ich in der Form nicht erwartet. Ich hätte auch den Film auf keinen Fall nach dem 7. Oktober gedreht.
Warum?
Als Jude stehe ich emotional auf der jüdischen Seite. Das macht es schwer, objektiv auf die Gegebenheiten zu blicken. Gleichzeitig prasselt von allen Seiten – also der muslimischen, jüdischen und israelischen – Propaganda auf einen ein. Es ist ein Segen für mich, dass ich den Film vorher machen konnte. Ich war nicht befangen.
Embed
Abonnieren auf Spotify | Apple Podcasts || Transkript lesen
Angenommen, Sie hätten am 7. Oktober mitten in den Dreharbeiten gesteckt, hätten Sie abgebrochen?
Das ist schwer zu sagen. Doch ich weiß, was sicherlich passiert wäre: Ich hätte mit dem Hauptdarsteller gestritten. Er ist ein religiöser, praktizierender Muslim und wir haben bei der Palästina-Israel-Frage völlig verschiedene Ansichten. Sicher haben die Ereignisse auch ihn beeinflusst und nicht nur mich.
Sie leben in Berlin. In der Stadt haben antisemitische Vorfälle mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas stark zugenommen. Fühlen Sie sich als Jude sicher?
Da ich kein religiöser Jude bin, fühle ich mich sicher. Würde ich mich aber als Jude kenntlich zeigen, würde ich mich nicht sicher fühlen. Ein gutes Gefühl gibt mir, dass ich mit meinen muslimischen Freunden weiterhin im Dialog bin. Dafür bin ich dankbar.
Herr Saule, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Jurijs Saule