Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Boris Pistorius Das gab es noch nie
Zweimal ist unserem Kolumnisten vor Weihnachten eine zentrale Personalie für die nächste Regierung begegnet. Über die stillen Tage hat er darüber nachgedacht. Mit zunehmendem Wohlgefallen.
Das erste Mal begegnete mir die Idee schon vor ein paar Wochen an unerwartetem Ort. Wir waren traditionell zu einem stilvollen Adventsbrunch eingeladen, bei dem immer illustre und intellektuell anregende Menschen zu treffen und unter charmanter Hilfe des Gastgeberpaares kennenzulernen sind, zu erlesenen Häppchen und feinsten Getränken.
Dieses Mal brachte mich der Reigen des Hausherrn mit einem recht ranghohen Beamten aus dem Finanzministerium in Kontakt. Und weil man ja irgendwie ein Gespräch anfangen muss und der Minister dort eben erst vom Bundeskanzler entlassen wurde, fragte ich ihn, ob er sich innerlich schon auf Boris Pistorius als Chef nach der Bundestagswahl einstelle.
"Pistorius? Auf gar keinen Fall!", entgegnete der Mann auf eine Weise, die kaum Raum für Widerspruch ließ. Aber der sei doch dann der starke Mann bei der SPD, wenn Olaf Scholz verlöre, versuchte ich es trotzdem. Und eine Große Koalition sei doch die wahrscheinlichste Variante, und überhaupt könnten dem Vernehmen nach Friedrich Merz und Pistorius ganz gut miteinander.
Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war.
"Alles richtig", sagte der Mann. "Aber dann bleibt Pistorius Verteidigungsminister." In meinen perplexen Blick hinein führte er seine Überlegungen weiter aus. Erstens mache Pistorius das so gut wie seit Jahrzehnten keiner, zweitens hätte der erkennbar gar keine Lust auf Finanzen, drittens bräuchte die heruntergewirtschaftete Bundeswehr gerade jetzt einen starken Mann an ihrer ministeriellen Spitze. Und viertens und vor allem sei das genau das richtige Zeichen in dieser Zeit: ein Vizekanzler als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt (IBuK), die nur im Kriegsfall an den Bundeskanzler übergeht.
Beschwingt von einem oder zwei frühen Gläschen Champagner verließ ich nach einigen Stunden die gesellige Runde, und die Sätze des Beamten aus dem Finanzministerium echoten im Kopf. Der "IBuK" als Vizekanzler, das wäre etwas nie Dagewesenes. Je länger man aber darüber nachdachte, desto smarter war der Gedanke. Der Vizekanzler im Bendlerblock, das wäre ein Statement, stärker als jenes Wort des Bundeskanzlers von der Zeitenwende, das ebenso schnell und folgenlos verflog wie ein kleiner Schaumwein-Schwips am Vormittag.
Und schon wieder Pistorius
Wenige Tage später, es ging schon stramm auf Heiligabend zu, ein trautes und ausführliches Gespräch mit einem führenden Unionsabgeordneten auf einen Tee im Bundestagsrestaurant. Er möge mich jetzt nicht für spinnert halten, aber da sei mir unlängst diese Idee begegnet. Merz Kanzler, Pistorius sein Vizekanzler – aber nicht, wie es seit Jahrzehnten üblich ist, dass letzterer entweder im Auswärtigen Amt oder im Bundesfinanzministerium sitzt.
Es war wie beim Schiffeversenken. C7. Treffer. Versenkt. Es stellte sich heraus, dass diese Idee tatsächlich in den inneren Zirkeln der Union ins Auge gefasst wird. Aus eben jenen Gründen, die der Beamte von der Stehparty aufgezählt hatte. Und noch aus ein, zwei Gründen mehr. Vor allem aus jenem: Die Sozialdemokratie, die ja gern Geld ausgebe, solle dies doch am besten mit dem richtigen Mann an jener Stelle tun, an der die Ausgaben wegen des potenziellen Aggressors Putin ohnehin drastisch erhöht werden müssten." Darüber hinaus böte sich so die Chance, dass die Union nach Jahrzehnten der Abstinenz das Außenministerium führen könnte. Der letzte hieß Gerhard Schröder und schied 1966 aus dem Amt.
Im Idealfall läge zudem dann das Arbeitsministerium (neu zugeschnitten inklusive maßgeblicher Abteilungen aus dem Wirtschaftsministerium) nicht mehr in der Hand der Sozialdemokraten. Sondern würde eher von einem Mann wie dem derzeitigen CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann geführt. Unter den drei potenziellen Kandidaten fürs Außenamt gab der Unionsmann übrigens Armin Laschet als den aussichtsreichsten und dann wahrscheinlichsten an.
Auf dem Weg aus dem Reichstagsgebäude fielen mir noch tausend Wenn und Abers ein. Was ist mit den Ambitionen von SPD-Chef Lars Klingbeil? Und: Es waren viel zu viele CDU-Leute aus NRW, die der Gesprächspartner da an den imaginären Kabinettstisch bat. Außerdem ist da immer noch die CSU (der er das Finanzministerium zuschlug).
Da hallt was nach
Vor allem aber hallte das Rütteln an einem Sakrileg nach, einem Heiligtum, das sich trocken und technisch anhört, aber von immenser Bedeutung ist. Gewissermaßen das bisher ewige Drehbuch für jede Kabinettsbildung. Man kann es als eine Kombination aus Reißverschlusssystem und Pairing bezeichnen. Reißverschluss heißt, dass nach dem Kanzler der Koalitionspartner am Zug ist für das zweitwichtigste Ministerium. Das eben bislang immer das Außen- oder Finanzressort war. Und dann gab es immer Paarungen oder auch Dreierkonstellationen, die sich diametral gegenüberstanden und deshalb auch immer fatal diametral parteipolitisch besetzt wurden. Arbeits- und Wirtschaftsministerium sind ein solches Gegensatzpaar, Umwelt und Wirtschaft ein weiteres.
Wenn es tatsächlich gelänge, mit einem neuen Zuschnitt dieser Ministerien diese tradierten Checks and Balances zu überwinden, dann hätte diese neue Regierung schon etwas Großes geschafft, bevor ihre Mitglieder das erste Mal auf den neuen Stühlen im Kanzleramt Platz nehmen. Denn allzu oft ist aus diesen Checks and Balances die perfekte Selbstblockade geworden, die nur mit noch mehr Geld auf beiden Blockadeseiten überwunden werden konnte.
- Eigene Überlegungen, persönliche Treffen, französischer Schaumwein