Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sechs Thesen zur Wahl Für einen ist es eine bittere Niederlage
Europa hat gewählt und erste Hochrechnungen zeigen: Die Deutschen haben der Ampelregierung einen Denkzettel verpasst. Was das für die Parteien bedeutet – die t-online-Blitzanalyse.
CDU und CSU sind der eindeutige Sieger der Europawahl in Deutschland, die AfD erreicht trotz der jüngsten Skandale den zweiten Platz. Erwartbar schlecht gelaufen ist es dagegen für die Ampelparteien SPD, Grüne und FDP. (Alle aktuellen Entwicklungen verfolgen Sie hier im Newsblog.)
Was heißt das für Deutschland? Welche Auswirkungen hat die Europawahl auf das politische Berlin? Die Reporter des t-online-Hauptstadtbüros analysieren die Ergebnisse für die sechs wichtigsten Parteien.
CDU/CSU: Das reicht noch nicht
Friedrich Merz ist am Sonntagabend der Wahlgewinner. Die Union liegt auf dem ersten Platz. Trotzdem ist die Reaktion im Konrad-Adenauer-Haus verhalten, als Zahlen der ersten Prognosen auf der Leinwand erscheinen. Ein bisschen Applaus, ein, zwei Jubelrufe. Aber das große Gegröle? Bleibt aus. Hört man in die Reihen der Partei hinein, merkt man: So richtig begeistert ist von diesem Ergebnis kaum einer.
In Wahrheit haben sich viele mehr erhofft. Die Europawahl gilt als klassische Denkzettelwahl. Mit der Ampel herrscht große Unzufriedenheit. Und die Union hat im Wahlkampf nicht mit Kritik gespart. Problem: Der Frust scheint weniger auf das Konto von CDU und CSU und vielmehr auf das der AfD einzuzahlen. Und die Hoffnung, Wählerinnen und Wähler mit klar konservativer Kante von der in Teilen rechtsextremen Partei zurückzugewinnen, ist nicht aufgegangen. Im Gegenteil: Auch die Union hat stark an die AfD verloren: 620.000 Wählerinnen und Wähler mussten sie den vorläufigen Zahlen zufolge abgeben.
Hinzu kommt, dass Merz in den vergangenen Wochen zwar bewiesen hat, dass er pannenfrei Wahlkampf machen kann. Der Zugpferd-Effekt blieb jedoch aus. Tatsächlich glauben nach wie vor und trotz aller Unzufriedenheit sogar weniger Menschen, der CDU-Chef sei ein besserer Kanzler als Olaf Scholz. Laut einer aktuellen Umfrage der ARD gaben nur 20 Prozent der Befragten an, dass sie glauben, Merz wäre ein guter Kanzler. Bei Scholz waren es 23 Prozent.
Schlussendlich mag der CDU-Chef heute Abend zwar als Gewinner dastehen. Er selbst spricht von einem "großen Erfolg", sieht das Ergebnis als "große Ermutigung und Ermunterung". Mit Blick auf die Bundestagswahl ist für einige in der Union allerdings noch Luft nach oben. – Sara Sievert
AfD: Wenig kann der Partei noch schaden
Deutliche Zugewinne, trotz massiver Skandale: Das ist die Bilanz für die AfD. Mit fast 16 Prozent hat die in Teilen rechtsextreme Partei um rund fünf Prozentpunkte im Vergleich zur Europawahl 2019 zugelegt. Beträchtlich gestärkt wird sie so in das EU-Parlament einziehen.
Deutlich mehr hatte sich die Partei zwar noch Anfang des Jahres ausgemalt, von 20 Prozent und mehr hatte man da geträumt. Doch angesichts von Treffen mit Rechtsextremen, die bundesweit Protestmärsche auslösten, sowie Spionage- und Schmiergeld-Skandalen um ihre beiden Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron ist die Erleichterung in der Parteizentrale groß: zweitstärkste Kraft, noch vor der Kanzlerpartei SPD. Wenig scheint der AfD noch schaden zu können.
Besonders treu standen außerdem die Wähler im Osten zur Partei. Gleich in mehreren Bundesländern landete die AfD hier auf dem ersten Platz. Für die drei Landtagswahlen im Osten, die im Herbst anstehen, sind das für die AfD gute Aussichten. – Annika Leister
SPD: Ihr fehlt ein Zugpferd für Wahlen
Für die Kanzlerpartei ist der Wahlausgang eine bittere Niederlage – und eine historische Schlappe bei einer EU-Wahl. Die rund 14 Prozent sind zwar nur geringfügig weniger als bei der Europawahl 2019 (15,8 Prozent). Aber zur Wahrheit gehört auch: Wer ehrlich Bilanz und vor allem die richtigen Schlüsse aus der Europawahl ziehen will, sollte das Ergebnis mit der Bundestagswahl 2021 vergleichen.
Damals hatte die SPD 25,7 Prozent eingefahren und wurde stärkste Kraft. Im Vergleich dazu lässt sich das jetzige Wahlergebnis nur auf eine Art interpretieren: als tiefer Absturz, der nur deswegen keine Panik in der Partei auslösen dürfte, weil er längst eingepreist war. Die Umfragen haben seit Monaten nichts anderes vorausgesagt, die Wahlkampagne mit der Spitzenkandidatin Katarina Barley hat nie richtig gezündet. Auch mit ihren Themen – gegen den Rechtsruck, für Frieden – drang die SPD offenbar nicht beim Wähler durch.
Europawahlen sind meist Denkzettel für die nationale Regierung und zugleich ein Seismograf für anstehende Wahlen. Die jetzige Wahl des Europaparlaments zeigt: Mit einem Kanzler Olaf Scholz als Gesicht der Partei lassen sich nur schwer Wahlen gewinnen. Tatsächlich hat die SPD seit Amtsantritt von Scholz sechs von acht Landtagswahlen verloren. Mit der Europawahl ist es die siebte Niederlage. SPD-Strategen betonen gerne: Umfragen seien keine Wahlen. An der Wahlurne würden sich die Menschen an die Qualitäten von Scholz erinnern: seine Besonnenheit, sein ruhiger und stabiler Regierungsstil.
Bei der Europawahl hat sich das Gegenteil bestätigt. Geht nun die Debatte über einen möglichen Kanzlerkandidaten Boris Pistorius wieder los? Vielleicht, spätestens aber im Herbst, wenn die drei Ostwahlen anstehen. Umfragen sagen weitere Wahlschlappen vorher. Der SPD stehen unruhige Zeiten bevor. – Daniel Mützel
Grüne: Ein Bauchklatscher in der Wirklichkeit
Die Grünen hatten sich keine Illusionen gemacht. Dass sie an ihr historisches Ergebnis der Europawahl 2019 herankommen, davon war niemand ausgegangen. 20,5 Prozent waren es damals, getragen von Klimabewegung und Groko-Stillstand. Dieses Mal sollten es zumindest die schwachen 14,8 Prozent werden, die sie bei der Bundestagswahl nach einem verkorkstem Wahlkampf erreicht hatten. Doch nicht mal dafür hat es gereicht. Es ist ein grüner Bauchklatscher in der Wirklichkeit.
Dabei war schon der Plan bescheiden. Bei der Europawahl wollten die Grünen vor allem ihr Kernklientel mobilisieren, um anschließend für die Bundestagswahl im Herbst 2025 darauf aufbauen zu können. Erst dann wollten sie wieder wirklich ausgreifen in die politische Mitte. Und zwar nicht nur zu den progressiven Wählern dort, sondern auch zu den stabilitätsorientierten, den Merkel-Wählern, die sie über 20 Prozent tragen sollen. So die Theorie.
In der Praxis aber ist der Schaden des Heizungsgesetzes offenbar noch weniger verwunden, als die Grünen befürchten mussten. Dass sie kürzlich mit vermeintlichen Enthüllungen an ihr kompliziertes Verhältnis zur Atomkraft erinnert wurden, dürfte auch nicht geholfen haben. Das sollte ihnen Angst machen. Zumal beides mit dem Mann verbunden ist, der eigentlich plant, die Grünen bei der Bundestagswahl aus dem Tief zu holen: Robert Habeck. Der hatte sich sehr engagiert im Europawahlkampf, genau wie die Alternativbesetzung als Kanzlerkandidatin, Annalena Baerbock. Das ist bei diesem Ergebnis: eine weitere miese Nachricht für die Grünen. – Johannes Bebermeier
FDP: Die "Wirtschaftswende" zieht noch nicht
Lag es an den grauen Plakaten, die sich chamäleonhaft oft kaum von den grauen Hausfassaden abhoben? Oder an der Spitzenkandidatin, die kaum mit EU-Themen auffiel und sich stattdessen lieber am Kanzler abarbeitete? Hätte Parteichef Christian Lindner im Wahlkampf stärker in Erscheinung treten müssen?
Die Liberalen haben nach der Europawahl einige Fragen zu klären. Das Ergebnis ist, Stand jetzt, zwar kein Desaster. Angesichts der Umfragen, die die Partei vor wenigen Wochen noch bei drei Prozent sahen, atmen manche gar erleichtert auf. Aber gut ist das Resultat eben auch nicht. Den ersten und letzten bundesweiten Test vor der Bundestagswahl 2025 haben die Liberalen vergeigt – trotz des Dauerfeuers für ihr aktuell einziges Thema: eine bessere Wirtschaftspolitik, die die FDP in den vergangenen drei Monaten gar zur "Wirtschaftswende" hochgejazzt hat.
Die aber scheint bei den Wählern kaum zu verfangen. Erstmals zeigen sich mit der Europawahl an der Urne die zwei großen Herausforderungen, vor denen Lindner und Co. jetzt umso mehr stehen: Zu wenige Wähler halten die wirtschaftliche Schwäche des Landes für ein drängendes Problem. Und die, die sie dafür halten, finden bei der CDU eine bürgerliche Alternative, die inhaltlich ein ähnliches Angebot macht – und die mit Friedrich Merz und dessen Vergangenheit beim Finanzdienstleister Blackrock einen noch überzeugenderen Wirtschaftspolitiker als Chef hat.
In den nächsten Wochen werden wohl viele Liberale versuchen, dieses Bild durch noch mehr "FDP pur" zu drehen. Für die Ampel dürfte es – wie schon nach den vergangenen Wahlen – noch ungemütlicher werden. – Florian Schmidt
BSW: Gekommen, um zu bleiben
In die Wahlarena der ARD am vergangenen Donnerstag musste er sich noch einklagen – ins Europaparlament wurde er nun gewählt. Der Spitzenkandidat des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), Fabio De Masi, hat das gesteckte Ziel von fünf Prozent übertroffen. Für die Linke war er in Brüssel schon einmal Abgeordneter, jetzt also für das BSW. "Das ist ein riesengroßer Erfolg für unsere junge Partei", sagte er t-online. Das BSW hatte sich erst im Januar gegründet.
Doch auch wenn die Partei der Namensgeberin Sahra Wagenknecht die gesteckten Minimalziele erreichte, hatten einige Beobachter dem BSW mehr zugetraut. In den Sonntagsfragen oder auch in den Umfragen zu den anstehenden Wahlen in Ostdeutschland steht sie schließlich teilweise sogar bei um die zehn Prozent. Warum es bei der Europawahl dafür nicht gereicht hat, wird in der Partei mit dem generell geringerem Interesse der BSW-Wähler an Europa begründet.
Dass sie sehr wahrscheinlich vor der FDP landet, das war hinter vorgehaltener Hand immer die große Hoffnung. Doch dass das BSW die Linke, aus der sich die Partei abgespalten und gegründet hat, so weit hinter sich lässt – die Linke erreicht möglicherweise nicht einmal mehr die drei Prozent –, das sorgt innerhalb des BSW für gemischte Gefühle: Häme bei denen, die aus Frustration die Partei gewechselt haben. Mitgefühl bei denen, die auch noch an den alten Zeiten hängen. Klar scheint nach dieser ersten Wahl des BSW: Sie sind gekommen, um zu bleiben. – Carsten Janz
- Eigene Recherchen