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HomePolitikChristoph Schwennicke: Einspruch!

Nach der Kommunalwahl in der Türkei: Wackelt nach Erdogan auch Putin?


Meinung
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Autokraten unter Druck
Erst wackelt Erdoğan, dann Putin?

MeinungEine Kolumne von Christoph Schwennicke

Aktualisiert am 04.04.2024Lesedauer: 5 Min.
Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Türkei: Er hatte bereits vor den Kommunalwahlen angekündigt, dass diese seine letzten seien.Vergrößern des Bildes
Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Türkei: Er hatte bereits vor den Kommunalwahlen angekündigt, dass diese seine letzten seien. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa-bilder)
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Als Demokrat schöpft man angesichts der Kommunalwahlen in der Türkei Hoffnung. Ist das der Anfang vom Ende des Autokraten Erdoğan? Und wetterleuchtet am Bosporus, was auch Russland erfassen kann?

In diesen dunklen Zeiten erfreut man sich an jedem Lichtstreif, den die Zeitläufte zwischen Bombenhagel an mehreren Orten gleichzeitig und diplomatischer Eiszeit bereithalten. Wie etwa ein Lebenszeichen der Demokratie in einem Winkel der Welt, von dem man meinte, das letzte Zucken der bislang besten unter den unzulänglichen Staatsformen bereits gesehen zu haben. Recep Tayipp Erdoğan, selbstgefühlter Sultan seines türkischen Reiches, hat bei den Kommunalwahlen am Bosporus bis tief nach Anatolien hinein eine deutliche Wahlniederlage erlitten.

In Istanbul, der wichtigsten Metropole des Landes, erwächst ihm, so liest man, ein veritabler Konkurrent für die Präsidentschaftswahlen 2028. Das ist zwar noch eine Weile hin, aber die Weile, die Erdoğan dieses stolze und prosperierende Land heruntergewirtschaftet und sich untertan gemacht hat, währt bereits weit länger. So lange könnten wir uns schon noch gedulden, wenn in der Türkei, dem Tor zum Orient und möglichem Mittler für viele Krisen in dieser angespannten Welt, das stattfände, was den Kern einer Demokratie ausmacht: ein Machtwechsel von Regierung und Opposition.

Christoph Schwennicke
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online schreibt er jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!"

Und schon beginnt man zu träumen. Dass die Demokratie ihre kleine Schwächephase auf diesem Globus überwunden hat und kraftvoll wiederkommt. Nicht mehr weiter erodiert, wie eben erst eine große Studie der Bertelsmann-Stiftung ergeben hat. Nicht mehr nur ihr zweites Gastspiel in der Geschichte der entwickelten Menschheit gegeben hat – nachdem die Urmutter dieser Staatsform, die attische Demokratie Griechenlands, auch nur gute hundert Jahre gehalten hatte und 322 vor unserer Zeitrechnung erst einmal wieder unterging, worauf der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, kürzlich hinwies. Dass die Demokratie eben doch die überlegene Staatsform ist, weil die Wählerinnen und Wähler irgendwann erkennen, dass sie ihre Freiheit nur in einer Demokratie und nur mit der Abwahl eines Autokraten sicherstellen.

Schon erwischt man sich beim Gedanken, von Hoffnung aus der Türkei angestoßen: Wenn es einen sultanhaften Erdoğan in der Türkei erwischen kann, wieso dann nicht auch einen zaristischen Wladimir Putin in Russland?

Der Traum ist aus

An der Stelle ist aber der Traum vorläufig aus, wie Rio Reiser mit Ton Steine Scherben in einer wunderbaren Utopie von einer besseren Welt gesungen hat. Erdoğan und Putin, die Türkei und Russland, verhalten sich in ihrem Härtegrad wie eine Paranuss zum Kieselstein. Die Paranuss umhüllt eine wirklich harte Schale, darunter verbirgt sich aber ein weicher Kern. Das Russland des 21. Jahrhunderts aber erscheint nach Jahrzehnten der Herrschaft Putins aus- und durchgehärtet wie Granit.

In der Türkei hat Erdoğan zwar auch schon Wahlen wiederholen oder annullieren lassen, die ihm nicht passten und Oppositionelle im Gefängnis mundtot gemacht. Einen Rest an demokratischem Verständnis aber scheint in ihm noch zu glimmen. Anders ist es nicht zu interpretieren, wenn er die Wahlniederlage einräumt und zu erkennen gibt, dass er seine Politik nach dieser Wahlschlappe ändern werde. In der Türkei gibt es mit Erdoğans AKP und der oppositionellen CHP zwei politische Parteien, die sich in einem politischen Wettbwerb befinden und sich die Macht streitig machen. In Istanbul. Und in Ankara.

Putins lupenreine Diktatur

Putin dagegen hat in Russland eine lupenreine Diktatur ohne jeden Rückstand an Demokratie und Pluralismus errichtet. Man kann wie Alexis de Tocqueville in seinen Ausführungen über die Demokratie in Amerika diesen Umstand auf einen Charakterzug des russischen Volkes zurückführen. Es gebe auf dieser Erde, notierte der französische Denker in seiner zum Klassiker gewordenen Schrift von 1835, "zwei große Völker, die von verschiedenen Punkten ausgehen und zum nämlichen Ziele vorrücken, die Russen und die englischen Amerikaner." Dabei stütze sich ein "Amerikaner auf das persönliche Interesse und lässt, ohne sie zu leiten, die Kraft und die Vernunft der Individuen handeln." Die Umschreibung einer liberalen Demokratie im Zusammenspiel mit einer freien Marktwirtschaft. Ein Russe hingegen vereinige in seinem "durch seinen Charakter verehrten Autokraten die ganze Macht des Staates. Durch die Freiheit wirkt vorzüglich der Amerikaner, und der Russe durch die Knechtschaft."

Wenn das so apodiktisch stimmte, wäre ein demokratisches Russland gar nicht möglich. In jedem Fall aber schließt die Verehrung des Autokraten Putin in Russland bislang erfolgreich die Reihen in Russland. Und mündet in einer Farce von Wahl, bei der sich Putin gerade abermals die Absolution erteilen ließ. Die Abschaffung echter Wahlen durch Scheinwahlen sei eben genau das Merkmal des Despotismus, "mit denen er dem Freiheitswillen unseres Zeitalters noch seinen lügenhaften Respekt erweist", schreibt Karl Jaspers in seinem Essay "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte".

Muss man jede Hoffnung fahren lassen?

Und er kommt in den Fünfzigerjahren vor dem Hintergrund von Hitler-Deutschland und Mussolini-Italien zu dem Schluss, eine einmal errichtete Diktatur sei "von innen nicht wieder aufhebbar". In beiden Fällen seien die Versuche aus dem Innern gescheitert, beide Länder seien von außen befreit worden. Wenn das so wäre, müsste man jede Hoffnung fahren lassen, was Russland betrifft. Aber der deutsch-schweizerische Philosoph schreibt erstens, dass er sich auch täuschen könne, und zweitens an anderer Stelle, dass der Freiheitsimpuls unbedingt aus der Bevölkerung heraus kommen müsse.

Vielleicht muss man es aber gar nicht so apodiktisch formulieren. Und äußeren Druck und inneren Freiheitswillen gleichermaßen wirken lassen. Die Paranuss Erdoğan hat so jetzt einmal erste Risse bekommen. Und auch wenn Putin noch einmal ein ganz anderer Fall ist – vielleicht höhlt der Tropfen doch sogar den Stein, den Putin aus Russland gemacht hat?

"Der Traum ist aus!" sang Rio Reiser seinerzeit und fügte hinzu: "Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird!" Unbeschreiblich und magisch der Moment des Livemitschnitts seines Konzerts in der Ost-Berliner Seelenbinder-Halle Anfang Oktober 1988, als der Saal erst andächtig auf die Schlüsselpassage bei Minute 2.38 zu fieberte und dann in Begeisterung explodierte.

Genau ein Jahr später wurde er Wirklichkeit. Jaspers konnte das nicht mehr miterleben. Beim Mauerfall war er schon 30 Jahre tot. Vielleicht hätte er sonst im Angesicht der Geschichte gesagt: Ich habe mich getäuscht. Gott sei Dank. Ich habe mich getäuscht.

Wobei zur Wahrheit gehört: Der Freiheitswillen der Ostdeutschen allein hat die Mauer nicht zum Einsturz gebracht. Und für eine Friedensordnung nach '45 mussten sich Demokraten wie Churchill und Roosevelt mit dem Schlächter Stalin an einen Tisch setzen. Für eine stabilere Welt nach dem Ukraine-Krieg wäre zwingend Chinas Staatschef Xi mit dabei, auch nicht gerade ein Botschafter des demokratischen Prinzips.

Aber am Ende muss auch gar kein lupenrein demokratisches Russland stehen. Ein zur Räson gebrachtes, eingehegtes und in die Weltgemeinschaft wieder integriertes würde vollauf genügen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen
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