Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was ist da los?
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
dieser Montag ist vielerorts ein Tag der Trauer. In den von ukrainischen Truppen zurückeroberten Gebieten untersuchen Spezialisten die von Russen getöteten Zivilisten. Sie öffnen die Gräber, identifizieren die Leichen und bestatten diese anschließend wieder. Auch bei den schweren Kämpfen im Grenzstreit zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken Kirgistan und Tadschikistan ist die Opferzahl weiter gestiegen: Beobachter melden 46 Tote, heute finden Begräbnisse statt. Bei einem Busunglück in Südwestchina sind 27 Menschen ums Leben gekommen, auch dort wird getrauert. In Mittelitalien ist die Zahl der Todesopfer nach den schweren Unwettern auf mindestens 11 gestiegen, in den Kirchen finden Andachten statt. In Ostafrika sind wieder zahlreiche Menschen verhungert, viele haben noch nicht einmal ein Grab. Und dann sind da all die anderen ungezählten Gestorbenen rund um den Globus: Die meisten dieser Begräbnisse sorgen nicht für Schlagzeilen. Sie sind den Medien keine Nachricht wert und ziehen keine prominenten Trauergäste an.
Embed
Anders in London: Dort findet heute der größte Menschenauflauf statt, den Europa seit Langem gesehen hat. Für das Staatsbegräbnis von Queen Elizabeth II. scheuen die Briten keinen Aufwand und keine Kosten. Das Prozedere ist akribisch geplant und wird generalstabsmäßig durchexerziert:
Um 8 Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit öffnen sich die Türen der Westminster Abbey, um die Trauergemeinde zu empfangen.
Um 11:44 Uhr wird der Sarg auf einem Kanonenwagen vom Parlament zur Westminster Abbey überführt. 142 Matrosen der Royal Navy ziehen das Fuhrwerk. In einer Prozession folgen der neue König Charles III. und die königliche Familie dem Sarg.
Um 12 Uhr beginnt die Trauerfeier in der Kirche, in der Großbritanniens Könige gekrönt wurden – auch Elizabeth II. anno 1953. Zu den Gästen zählen viele Staats- und Regierungschefs, darunter US-Präsident Joe Biden, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro, der japanische Kaiser Naruhito, die Premierminister Australiens, Kanadas, Neuseelands und Irlands sowie die Könige Belgiens und Spaniens. Alles in allem werden mehr als 2.000 Gäste erwartet. 10.000 Polizisten und Soldaten schützen die hohen Herrschaften; es dürfte die größte Sicherheitsoperation sein, die London je erlebt hat. Am Ende des Gottesdienstes halten Millionen Briten im ganzen Land für eine nationale Schweigeminute inne.
Um 13 Uhr wird der Sarg in einer Prozession zum Wellington Arch gebracht, dem Triumphbogen am Hyde Park.
Um 14 Uhr fährt der königliche Leichenwagen den Sarg von dort zum Schloss Windsor westlich von London.
Um 16:10 Uhr folgt eine feierliche Prozession zur St.-Georgs-Kapelle am Schloss.
Um 17 Uhr beginnt der Aussegnungsgottesdienst in der Kapelle.
Um 20:30 Uhr erfolgt die Beisetzung im kleinen Kreis. Und dann findet die Queen neben ihrem im vergangenen Jahr gestorbenen Gatten Prinz Philip endlich die letzte Ruhe.
Auch draußen herrscht Ruhe: Während des gesamten Zeremoniells steht das Vereinigte Königreich weitgehend still, denn dieser Montag ist ein arbeitsfreier Feiertag. Fabriken, Büros, Schulen, Geschäfte und Supermärkte bleiben geschlossen. Der Flughafen London-Heathrow streicht mehr als 100 Flüge und verschiebt viele weitere, damit nur ja kein Lärm das Gedenken stört. Die meisten Operationen in Krankenhäusern sind ebenso abgesagt worden wie Gerichtsverhandlungen. Es ist ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Ereignis, über das Sie unsere Redaktion heute natürlich auf dem Laufenden hält: Das Team um meinen Kollegen Steven Sowa schreibt aus dem Newsroom in Berlin, unser Reporter Tim Kummert berichtet aus London. ARD und ZDF, die sich seit Tagen im royalen Fieber befinden, senden ebenso live wie viele andere Fernsehsender. Und in den sozialen Medien wird es natürlich auch hoch hergehen. Weil der Tod der Queen eben Millionen Menschen rührt.
Andere hingegen berührt er nicht. Sie fragen sich: Warum so viel Aufhebens um eine einzige Person, die doch ein sehr langes Leben voller Privilegien hatte, was soll das Brimborium? Diese Frage ist nicht unverschämt, man kann sie durchaus stellen. Elizabeth II. war ein Vorbild an Haltung und Selbstbeherrschung. Sie hat ihr Leben in den Dienst ihres Volkes gestellt und war den Briten auch in schweren Zeiten eine Stütze. Angesichts chaotischer Politiker, wirtschaftlichen Niedergangs und internationalen Bedeutungsverlusts ist das Königshaus die letzte gesellschaftlich verbindende Konstante, die den Briten noch geblieben ist. Und keiner ihrer Monarchen hat so lange durchgehalten wie Elizabeth II.: 70 stattliche Jahre bekleidete sie mit Würde das Amt, das oft auch eine Bürde war. Wenn eine derart bedeutende Person zu Grabe getragen wird, ist das durchaus ein herausragendes Ereignis.
Aber eine Nummer kleiner hätte es der Abschied sicher auch getan. Würden all die wichtigen Leute, die heute nach London pilgern, ebenso viel Aufmerksamkeit auf all die Krisenherde rund um den Globus verwenden, wäre die Welt vielleicht ein kleines bisschen besser. Ja, das darf man sagen.
Extrem erfolgreich
Das politische System Schwedens verändert sich fundamental: Die rechtsextremen "Schwedendemokraten" sind die großen Gewinner der Parlamentswahl und werden die künftige Regierung vor sich hertreiben – selbst dann, wenn sie diese nur dulden. Denn die Koalitionssuche gestaltet sich schwer. Heute spricht Parlamentspräsident Andreas Norlén mit den Spitzen aller Parteien und lotet aus, wem er den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt. Beobachter rechnen damit, dass der Konservative Ulf Kristersson den Sondierungsauftrag erhält. Regieren könnte er jedoch nur, wenn er eine Absprache mit "Schwedendemokraten"-Chef Jimmie Åkesson trifft. Mein Kollege Carl Lando Derouaux erklärt Ihnen, wie der Extremistenführer tickt und welchen Anteil die anderen Parteien an seinem Erfolg haben.
Ein Plan gegen Krisen
In Brüssel stellt Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager einen Notfallplan vor, mit dem die EU künftig auf Krisen wie die Corona-Pandemie oder Russlands Angriffskrieg besser reagieren will. Offenbar erwägt die Kommission, Firmen Produktionsvorgaben zu machen und den Staaten vorzuschreiben, Reserven lebenswichtiger Güter anzulegen. De facto wäre das die Einführung einer Kriegswirtschaft, wie sie Großbritannien während und nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich betrieb. Wirtschaftsexperten meinen übrigens, dass sich auch die Klimakrise nur noch eindämmen lässt, wenn Firmen strikte Vorgaben bekommen, was sie noch produzieren dürfen und was nicht.
Bierhoffs Blendwerk
In zwei Monaten beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in der Diktatur Katar. Amnesty International zufolge werden Arbeitsmigranten dort immer noch ausgebeutet, die Behörden haben die Meinungsfreiheit noch stärker eingeschränkt, Frauen sowie lesbische, schwule und bisexuelle Menschen werden hart diskriminiert.
Wie steht der Deutsche Fußball-Bund dazu? DFB-Präsident Bernd Neuendorf und DFB-Direktor Oliver Bierhoff, die bislang nicht durch gesteigertes Interesse an den Schattenseiten Katars aufgefallen sind, veranstalten nach öffentlichem Druck heute einen Kongress mit dem wohlklingenden Titel "Sport und Menschenrechte: Maßnahmen vor, während und nach der FIFA-Weltmeisterschaft Katar 2022". Neben Katars Botschafter Scheich Abdulla Bin Mohammed bin Saud Al-Thani haben sie auch die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg, eingeladen. Vielleicht hat die ja wenigstens etwas Substanzielles zum Thema beizutragen.
Hinterher klüger werden
Welche Lehren ziehen Deutschlands Außenpolitiker aus dem gescheiterten Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr? Heute konstituiert sich die Enquete-Kommission des Bundestags, um Antworten zu suchen. Eine Lehre könnte ja sein: Militärische Auslandseinsätze beginnt man künftig nur dann, wenn man von vornherein auch eine Exit-Strategie hat.
Einseitiger Protest
In mehreren Städten Ostdeutschlands wollen heute Abend wieder Menschen gegen die Energiepolitik der Bundesregierung, die Russland-Sanktionen und Preissteigerungen demonstrieren. Kundgebungen sind unter anderem in Halle, Magdeburg, Wismar, Rostock und Schwerin geplant. Über Demonstrationen gegen den russischen Angriffskrieger im Kreml ist hingegen nichts bekannt.
Sachen gibt's
Wie viele Ameisen gibt es weltweit? Mit dieser brisanten Frage hat sich tatsächlich ein internationales Forscherteam beschäftigt, auch Wissenschaftler aus Würzburg sind mit von der Partie. Heute wollen sie ihre Erkenntnisse der Weltöffentlichkeit vorstellen. Wir können das Ergebnis kaum erwarten.
Was lesen?
Nach nur neun Monaten im Amt ist das Ansehen der Ampelkoalition stark gesunken. Wie können Politiker angesichts zahlreicher Krisen überhaupt noch erfolgreich handeln? Der Soziologe Armin Nassehi erklärt es im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke und mir.
Die russische Armee steht in der Ukraine unter Druck. Falls Putin nun die Mobilmachung ausruft, droht ihm der nächste Gesichtsverlust, berichtet mein Kollege Patrick Diekmann.
Was sagt Joe Biden, falls Putin erwägt, Atomwaffen einzusetzen? In der Fernsehsendung "60 Minutes" hat der US-Präsident die Frage klar beantwortet.
Was ist der wahre Grund, warum die Grünen eine Laufzeitverlängerung der letzten drei Atomkraftwerke ablehnen? Umweltministerin Steffi Lemke erklärt es im Interview mit unseren Reportern Johannes Bebermeier und Sven Böll.
Was amüsiert mich?
Welch ein Spektakel in London!
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Morgen schreibt Miriam Hollstein den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Mittwoch wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.