Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Eine Lüge zu viel
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
lassen Sie uns heute mit einer einfachen Wahrheit beginnen: Der britische Premierminister Boris Johnson hat gelogen. Genau, das ist nix Neues und würde im Tagesanbruch normalerweise allenfalls für eine Randnotiz reichen. Wir kennen den Schwindler aus London lange genug, und die britischen Wähler kennen ihn auch. Das Wort, mit dem sie Johnson in einer aktuellen Umfrage am häufigsten beschreiben, lautet: Lügner. Ferner liegen "inkompetent" und "nicht vertrauenswürdig" ganz vorn im Rennen, eingerahmt von "Kasper" und "Idiot". Soweit das erwartbare Stimmungsbild auf der Insel.
Eine Nachricht ist das heute trotzdem, denn auch in Großbritannien ist seit dem Brexit und dem darauffolgenden Debakel eine Menge passiert. Zuletzt schien alles vergessen: die leeren Supermarktregale, das Schlangestehen an der Tankstelle, die Angst, im Winter ohne Heizung zu frieren. Selbst die vielen Toten, die das Coronavirus unter den Briten forderte, traten zeitweise in den Hintergrund.
Embed
Großbritanniens führender Hallodri durfte sich plötzlich über Beifall und Anerkennung selbst von Kritikern freuen. Er wurde zum Staatsmann, er verwandelte sich vom Sprücheklopfer zum Helfer in der Not: Der bedrängten Ukraine bescherte er dringend benötigte Waffen und Militärausbilder noch vor Beginn des russischen Angriffs – so schnell und unbürokratisch, dass der Kontrast zum zögernden Kanzler in Berlin kaum größer sein könnte. Während die deutsche Regierungsbürokratie darüber nachsinnt, wann eine Waffe defensiv, wann schwer oder vielleicht doch leicht genug ist, um nach Kiew verladen zu werden, liefern die Briten, was die Magazine hergeben. Zur Krönung spazierte Herr Johnson mit Wolodymyr Selenskyj durch die ukrainische Hauptstadt, das gab starke Bilder und gute Presse. Und die Reise war ja auch ein mutiges Signal. Der britische Premier schwang sich zu ungeahnten Höhen auf. Über sich hinausgewachsen ist er aber nicht.
Denn daheim auf der Insel tut man sich nicht schwer, die Tricks des Populisten wiederzuerkennen. Geben ist seliger denn Nehmen, finden Johnson und sein Team, die einst im Brexit-Wahlkampf gegen osteuropäische Wanderarbeiter Stimmung machten. Fremdenhass ebnete ihnen den Weg an die Macht, dahinter können sie schlecht zurück. Deshalb sieht man sie zwar bei Waffenlieferungen an die Ukraine klotzen statt kleckern, doch die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen würden sie am liebsten verweigern. Nur 16.400 Ukrainer hatten es bis vergangene Woche nach Großbritannien geschafft. Zum Vergleich: Auf bis zu 60.000 schätzte man ihre Zahl zum selben Zeitpunkt allein in Berlin.
Das Thema ist unangenehm für den frischgebackenen Staatsmann in der Downing Street, doch darüber redet jetzt kaum noch jemand. Denn nach seiner Ukraine-Mission holt ihn ein alter Skandal wieder ein: "Partygate". Drakonische Corona-Regeln mussten die Briten während des Lockdowns befolgen – während im Amtssitz des Premiers bis spät in die Nacht gefeiert wurde. Das empörte Parlament versuchte Johnson mit seiner üblichen Masche zu beschwichtigen: leugnen, abwarten, eine halbgare Entschuldigung hier, ein bisschen Zerknirschung dort – und darauf hoffen, dass die Leute irgendwann das Interesse verlieren.
Da hat er sich verrechnet. Das Parlament zu belügen, ist bei den Briten strafbar. Vieles haben sie dem wuscheligen Boris durchgehen lassen, aber das war zu viel. Zahlreiche Familien haben Corona-Tote zu beklagen, konnten ihre Angehörigen nicht am Sterbebett begleiten, durften nicht zur Beerdigung erscheinen. Es ist ein sehr persönlicher Zorn, der dem Meister des Durchwurschtelns entgegenschlägt, während er zu erklären versucht, warum für ihn und seine Buddys die Regeln nicht gegolten haben, die auf allen anderen so schwer lasteten. Es geht nicht mehr nur um eine Handvoll Partylöwen auf ein paar illegalen Feiern. Es geht jetzt um Gerechtigkeit, und da sind die Briten empfindlich.
Deshalb stimmt das Parlament heute darüber ab, ob es den Premierminister vor einen Untersuchungsausschuss zerrt. Ob das gelingt, ist offen, und ob es was nützt, erst recht. Aber seine Überheblichkeit hat Boris Johnson eingeholt und wird ihm nun tagtäglich vorgehalten. Der Staatsmann ist wieder zum Windbeutel geschrumpft. Die einfachen Wahrheiten bleiben eben unumstößlich.
Der wildeste Kerl von allen
Helden sind rar in diesen Tagen. Suchen wir sie also nicht in den Regierungszentralen, nicht auf den Schlachtfeldern und lieber auch nicht in den Fußballstadien. Auf der Bühne werden wir fündig. Dort tobt seit 55 Jahren ein Typ namens James Newell Osterberg Junior herum. Nie gehört, werden Sie jetzt sagen, also lassen Sie mich erklären, was es mit diesem Helden auf sich hat.
Geboren wurde er in einem Kaff in Michigan, aufgewachsen ist er in einem Wohnwagen. Machte früh Musik, vor allem aber Faxen. Punk nannten sie das damals. Drogen, viele Drogen. Auf der Bühne meistens halbnackt. Noch mehr Drogen. Mitte der Siebziger zog er mit David Bowie nach Berlin, der hatte ebenfalls Musik im Herzen und Drogen in den Taschen und außerdem eine Altbauwohnung mit sieben Zimmern in Schöneberg. Dort und in den Hansa Studios an der Mauer stachelten sich die beiden gegenseitig zu kreativen Höchstleistungen an. Schufen gemeinsam die Alben "Lust for Life" und "The Idiot", die auch heute noch in keiner Musiksammlung fehlen dürfen, egal, ob sie aus Schallplatten, CDs oder Playlists besteht. Als der Punk dem Bowie zu oft den Kühlschrank leer fraß und obendrein den Abwasch vergaß, schmiss der Bowie den Punk raus, und der Punk verduftete ins Hinterhaus. Machte weiter Faxen und Musik oder sowas Ähnliches. Kämpfte sich durch bis in die Neunziger, wo er dann gleich mehrere Meisterwerke veröffentlichte, ich zähle sie hier nicht alle auf, aber wild sind sie, sehr wild.
Wild ist er auch heute noch, selbst wenn das Kreuz knackt, die Haut knittert und der Bart stoppelt. Die Exzesse haben Spuren hinterlassen, und der Punk zeigt sie gern her. Das ist nämlich das Großartige an diesem kleinen Mann: dass er auch im hohen Alter noch auf die Bühnen der Welt klettert und dort zu seinen grandiosen Songs rumtobt, so gut es eben geht. Ich habe mir das vor ein paar Jahren angesehen und war verzückt, ganz ehrlich. Und als er dann nach einem ziemlich gewagten Sprung von der Bühne Arm in Arm mit uns seinen Kracher "Sixteen" röhrte, wussten wir Normalos im Publikum, dass dieser Moment ziemlich wahrscheinlich zu den bewegendsten unseres Lebens zählte. Sowas können nur Helden bewirken.
Ich weiß, Sie wollen nun endlich wissen, von wem ich rede, aber lassen Sie mich vorher noch rasch sechs, doch, sechs verschiedene Versionen von "Sixteen" verlinken. Denn mit dieser Reise durch die Jahre 1977, 1978, 1983, 1996, 2009 und natürlich unbedingt 2016 lässt sich selbst ein so grauer Donnerstag wie der heutige in einen Heldentag verwandeln. Es gibt nämlich was zu feiern: Herzlichen Glückwunsch zum 75. Geburtstag, lieber Iggy Pop!
Linke am Ende
Mitglieder der Linkspartei erklären gern anderen Leuten, wie diese zu leben haben: sozial, pazifistisch, feministisch und so weiter. Pragmatismus und Geschlossenheit hingegen liegen ihnen fern, weshalb sie bei der Bundestagswahl baden gingen und nach Oskar Lafontaines unrühmlichem Abgang im Saarland endgültig in der Versenkung verschwanden. Auch ihre dubiose Einstellung zu Putin und anderen Despoten macht die Partei unglaubwürdig, nun gibt ihr der Skandal um offenbar jahrelange sexuelle Übergriffe im hessischen Landesverband den Rest. Eine der beiden Parteichefinnen ist gestern zurückgetreten, die andere dürfte früher oder später folgen. Was bleibt dann noch? Drei Linke aus Hessen haben unserem Frankfurter Reporter Stefan Simon ihr Herz ausgeschüttet. Und unsere Chefreporterin Miriam Hollstein bringt es in ihrem Kommentar auf den Punkt: "Diese Partei scheitert an sich selbst."
Was lesen?
Was macht der Krieg in der Ukraine mit Kindern? Diesen Text meiner Kollegin Liesa Wölm sollten Sie lesen.
Putin begründet seinen Angriffskrieg mit allerlei Behauptungen. Der Historiker Michael Wolffsohn erklärt im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke, wie verlogen sie sind.
Die Kritik an der Russland-Politik der SPD wird lauter. Jetzt kommt sie auch aus einer überraschenden Richtung, berichtet unser Reporter Fabian Reinbold.
Was amüsiert mich?
Was macht der Kanzler eigentlich nachts?
Ich wünsche Ihnen einen ausgeruhten Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
ANMERKUNG: In der ursprünglichen Version dieses Textes stand, kaum mehr als 3.200 ukrainische Flüchtlinge hätten es bisher nach Großbritannien geschafft. Das ist falsch, die korrekte Zahl zum genannten Zeitpunkt betrug 16.400. Sie liegt damit allerdings immer noch weit unter den Zahlen in Deutschland und anderen europäischen Ländern.
Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.