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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historiker Wolffsohn "Für Russland war es ein doppeltes Desaster"
Russland will die Ukraine "entnazifizieren". Reine Propaganda, urteilt Historiker Michael Wolffsohn. Und erklärt, wie wichtig der Beitrag jüdischer Ukrainer für den Widerstand ist.
In der Ukraine herrscht Krieg, das Land versucht, sich der russischen Invasoren zu erwehren. Symbol des Widerstands ist dabei Wolodymyr Selenskyj. Der bekannte Historiker Michael Wolffsohn beobachtet die Entwicklung genau – und weist darauf hin, welche Bedeutung das jüdische Staatsoberhaupt Selenskyj für den Widerstandskampf hat. Ein Gespräch über die Geschichte des Judentums, Antisemitismus und die Gefährdung jüdischen Lebens in der Gegenwart.
t-online: Professor Wolffsohn, Wladimir Putin rechtfertigt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine damit, das Land "entnazifizieren" zu wollen. Nun ist der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj Jude – und reagiert entsprechend verständnislos. Was bezweckt Russlands Präsident mit solchen Vorwürfen?
Michael Wolffsohn: Ich bin der letzte, der Wladimir Putin in irgendeiner Weise verteidigt. Aber ein Antisemit ist Russlands Präsident nicht. Der Antisemitismus spielt eine lange und traurige Rolle in Russlands Geschichte, seine Bedeutung ist allerdings in den letzten Jahrzehnten geschwunden. Zumindest wenn man den Umfragen vertraut und Putins Judenpolitik betrachtet. Mit seiner aggressiven Rhetorik will Putin hingegen seinem Krieg eine angebliche Legitimation verleihen – Fakten sind da nur von untergeordneter Bedeutung.
Der Krieg in Europa hat Israel in eine schwierige Lage gebracht. Einige russische Oligarchen sind Juden, besitzen zugleich die israelische Staatsangehörigkeit. Roman Abramowitsch ist ein Beispiel. Wenn das Land sich den internationalen Sanktionen komplett anschließen würde, dürfte etwa Abramowitsch nicht mehr einreisen.
Das ist in der Tat eine heikle Angelegenheit. Juden, die nach Israel kommen wollen, abzuweisen, ist schwierig, bei Juden, die zugleich israelische Staatsbürger sind, ist es doppelt schwierig. Die Tatsache, dass zu den russischen Oligarchen auch Juden gehören, ist wiederum ein Beleg, dass Putin keine antisemitische Einstellung hegt. Sonst würde er sie kaum neben den christlichen Oligarchen in seinem Hofstaat dulden. Wir können im Fall dieser Putin-Unterstützer dann wohl von einer Art christlich-jüdischer Kooperation in Sachen "unsaubere Westen" sprechen. Warum sollen auch nur Nichtjuden Gangster sein?
Tatsächlich ist es seit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 zu einem Exodus von Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gekommen.
Etwa eine Million Juden sind nach Israel gegangen, ungefähr 200.000 kamen bekanntlich nach Deutschland. Es wären gerne noch mehr zu uns gekommen, aber da gab es eine politische Begrenzung. Die Gründe für die Auswanderung lagen aber weniger im Antisemitismus als in der wirtschaftlichen Misere, die etwa Russland durchlitten hat. Für Russland war es ein doppeltes Desaster: Einerseits diese extreme Wirtschaftskrise, dann auch noch der Braindrain, wie man es heute nennt. Der Weggang zahlreicher hervorragend ausgebildeter Juden. Ähnlich ist es Deutschland vollkommen selbstverschuldet während des Nationalsozialismus ergangen.
Michael Wolffsohn, 1947 in Tel Aviv geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2012 Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Heute ist der Autor zahlreicher Bücher publizistisch und als Vortragsredner tätig. Wolffsohn hat im Laufe der Zeit zahlreiche Ehrungen und Preise erhalten, so kürte ihn der Deutsche Hochschulverband 2017 zum Hochschullehrer des Jahres. Ein Jahr später erhielt der Historiker den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen. Mit "Eine andere Jüdische Weltgeschichte" ist soeben Wolffsohns neuestes Werk erschienen.
Mit dem Unterschied, dass die deutschen Juden vor dem Terror der Nazis geflohen sind. Wer nicht gehen konnte, wurde dann im Holocaust ermordet.
Richtig. Ich möchte an dieser Stelle auf eine historische Konstante hinweisen: Länder, die ihre Juden vertrieben haben, erlitten dadurch stets einen enormen wirtschaftlichen, aber insbesondere auch wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Verlust. Das ist in Russland seit 1991 und in Deutschland ab 1933 so.
Sie haben gerade ein Buch zur Geschichte des Judentums veröffentlicht. Darin beschreiben Sie anschaulich, wie Juden immer wieder vertrieben worden sind. So etwa aus Spanien 1492 und auch aus Portugal 1497.
Beide Länder sind gute Beispiele für den enormen Verlust. Wer hat viele der Vertriebenen damals aufgenommen? Das Osmanische Reich, das davon sehr profitiert hat. Und auch in der heutigen Ukraine können wir gut erkennen, wie wichtig Juden für diesen Staat sind.
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Sie meinen Wolodymyr Selenskyj?
Ich meine Selenskyj und seinen Stab aus jungen, tatkräftigen Mitarbeitern, von denen einige Juden sind. Die Ukraine profitiert sehr von diesen Menschen, die ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass das Land Russlands Truppen bislang so hartnäckigen Widerstand leisten konnte. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich behaupte nicht, dass dies eine exklusiv jüdische Leistung ist. Nein, es die gegenseitige intellektuelle Befruchtung, die eben solche positiven Auswirkungen in Politik und Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft zeitigt. Für die Ukraine ist es eine bemerkenswerte Entwicklung.
Weil die Ukraine im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Schauplatz blutiger Übergriffe an der jüdischen Minderheit gewesen ist?
Hass auf Juden war in früheren Zeiten in der Ukraine verbreitet, im Mai 2019 wählten die Ukrainer dann Wolodymyr Selenskyj mit großer Mehrheit zu ihrem Präsidenten. Seit Kriegsbeginn ist er nun eine weltweite Ikone. Toleranz ist eben nicht nur ein moralisches Gebot, sondern eines der Vernunft – diese Erkenntnis lässt sich der Geschichte entnehmen. Denn ohne Selenskyj wäre die Lage der Ukraine gegenwärtig mit hoher Wahrscheinlichkeit widerstandslos und verloren.
Sie haben das Stichwort "Toleranz" verwendet. Tatsächlich wurden die Juden über Jahrhunderte in den meisten Ländern lediglich "toleriert". Bemühungen zu ihrer Gleichberechtigung gingen meist von von der Aufklärung inspirierten Herrschern aus, die sie entweder assimilieren oder "nützlich" machen wollten. Oder auch beides zugleich.
Im Gegensatz zu der allerorten vorherrschenden Glorifizierung der Aufklärung sehe ich diese etwas kritischer. Selbstverständlich war die Aufklärung ein bedeutender und hoch erfreulicher Prozess menschlichen Fortschritts. Nur gab es bei so manchen Aufklärern aber durchaus antisemitische Anklänge, bei dem Franzosen Voltaire gibt es da gar keinen Zweifel. Dann dürfen wir tatsächlich nicht vergessen, dass die Juden erst toleriert, später auch rechtlich bessergestellt wurden, um sie "nützlich" zu machen. Das ist nun eben nicht der Toleranzbegriff, den wir heute als sympathisch empfinden.
Gotthold Ephraim Lessing als einer der bedeutendsten Dichter der Aufklärung hat im 18. Jahrhundert mit seinem Stück "Nathan der Weise" allerdings einen zeitlosen Appell für Toleranz geschrieben.
"Nathan der Weise" ist ein schönes Stück, aber ich fürchte, dass es der Wirklichkeit nicht ganz gerecht wird. Die Hauptfigur Nathan ist ein Idealbild, Ideale sind aber unerreichbar. Was wiederum ein Zerrbild von Juden erzeugt. Wir brauchen stattdessen Realbilder: Shakespeares Figur Shylock trägt ideale und verzerrte Züge. So ist die Realität, so ist der Mensch.
Sie spielen mit Shylock auf den jüdischen Geldverleiher aus William Shakespeares "Kaufmann von Venedig" an? Kaum eine andere Figur der Literaturgeschichte wurde derart verdammt.
Shylocks Monolog in der ersten Szene des dritten Aktes ist eines der größten Zeugnisse von Menschlichkeit und Toleranz, die mir bekannt sind. "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?", fragt Shylock an dieser Stelle. Und ja, selbstverständlich bluten auch Juden. Weil wir Menschen sind. Trotz aller enthaltenen Antisemitismen ist der "Kaufmann von Venedig" ein wichtiges Stück Literatur und Erziehung.
Nun ist das Faszinierende an der jüdischen Geschichte, dass Juden seit Jahrtausenden in der Diaspora leben. Wie konnte das Judentum seine Tradition bewahren?
Es ist ein Wunder. Allerdings eines, das man erklären kann. Es hat viel mit Antijudaismus und Antisemitismus zu tun. Denn die ständige Verfolgung hat trotz der ungeheuren Blutopfer auch die Überlebensfähigkeit der Juden gestärkt. Verstehen Sie das bitte nicht falsch: Damit will ich nicht den Judenhassern danken, weil sie dadurch den Juden das Überleben ermöglicht hätten.
Aber auch ein anderer Faktor ist wichtig: Und zwar hat das Judentum eine mehr als 2.000 Jahre zurückreichende Tradition der Volksbildung. Und wenn einem Menschen die Möglichkeit gegeben wird, sich zu bilden, findet er eher auch Wege zum Überleben. Tragisch ist allerdings, dass die großen Katastrophen immer dann erfolgten, wenn die Juden sich nicht mehr in ihrer Existenz bedroht glaubten.
Wie in Deutschland ab 1933?
So ist es.
Wie schätzen Sie in der Gegenwart die Bedrohung für Juden in der Welt ein?
Der Antijudaismus existiert auch heute noch und wieder, bisweilen geht er neue Allianzen ein, so wie bei Islamisten und Linksextremisten nicht nur in Frankreich. Das führt auf der anderen Seite zu einer Renaissance der jüdischen Gemeinschaft. Nicht im religiösen Sinne, sondern durch das Gefühl der gemeinsamen Bedrohung durch einen militanten Antisemitismus. Wir werden in die jüdische Gemeinschaftlichkeit hinein terrorisiert. So lässt es sich ausdrücken.
Fühlen sich Juden in Europa und insbesondere in Deutschland nicht mehr sicher?
Waren wir jemals sicher? Der Rechtsextremismus ist als Gefahr seit langer Zeit bekannt, dazu kommt die besagte Gefahr des Islamismus und seiner linksextremistischen Helfer sowie mancher linksliberaler nützlicher Idioten. Dass es auch im Orient seit langer Zeit Diskriminierung und Gewalt gegen Juden gegeben hat, ist weniger publik.
1945 kam es zu einem Pogrom im libyschen Tripolis mit fast 150 Toten.
Richtig. Es war auch nicht das einzige in der islamischen Welt. Und damit muss man sich doch öffentlich auseinandersetzen – und nicht irgendwelche Märchen erzählen, dass immer alles so schrecklich tolerant abgelaufen wäre. Was sich 1945 zum Beispiel in Tripolis abspielte, hat sich dann später durch den israelisch-arabischen Konflikt noch weiter radikalisiert.
In Ihrem Buch äußern Sie sich recht pessimistisch, was die Zukunft der jüdischen Gemeinschaften außerhalb Israels angeht. Warum?
Früher pflegte ich einen ausgesprochenen Optimismus, dass Toleranz tatsächlich gelebte Normalität werden würde. Das hat sich in der Tat geändert. Wir müssen doch nur auf die Zahlen schauen: In Deutschland leben 200.000 Juden, die Zahl der muslimischen Mitbürger ist weit höher. Auch die bundesdeutsche Politik wird sich in Hinsicht auf Wahlen an dieser Zahl orientieren.
Nun sind aber doch muslimische Deutsche keineswegs in ihrer Mehrheit gegen Juden eingestellt.
Umfragen in ganz Westeuropa widersprechen leider Ihrer Aussage. Und darin liegt eben eine potenzielle strukturelle Gefährdung von Juden in Demokratien. Und das Gefühl der Bedrohung kann man nicht wegreden. In Frankreich kam es in den letzten Jahren immer wieder zu antijüdischen Gewalttaten, seit 2000 ist ein Fünftel der französischen Juden ausgewandert. Ein jüdisches Überleben wird irgendwann nur noch in Israel gesichert sein. Das ist meine düstere Erwartung. Ich persönlich werde das nicht mehr erleben.
Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch auch mit den Themen Biologie und Genetik. War es Thilo Sarrazin, der in seinem Pamphlet "Deutschland schafft sich ab" aus dem Jahr 2010 von einem angeblichen "jüdischen Gen" fabulierte, der sie dazu bewog?
Mit den "jüdischen Genen" hat sich Sarrazin vollkommen disqualifiziert. Und der Sache einen Bärendienst erwiesen. Denn das Thema Archäogenetik ist an sich überaus interessant und lehrreich. Nicht im Sinne der Nationalsozialisten mit ihrem Gefasel von einer "jüdischen Rasse". Aber die hohe Wissenschaft der Medizingenetik hat herausgefunden, dass bestimmte Herkunftsgruppen untereinander sehr wohl genetische Ähnlichkeiten aufweisen, die sie von anderen unterscheiden.
Und dass es bereits durchaus vor dem Fall der Ghettomauern nach der Französischen Revolution geschlechtliche Beziehungen zwischen Juden und Christen gegeben hat, sprich Kinder. Und das wiederum ist doch ein wunderbarer Beweis, dass Liebe auch den Hass überwinden kann.
Professor Wolffsohn, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Michael Wolffsohn via Videokonferenz