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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Deutschland ist eine Geisel" Putins geheimer Angriff auf Europa
Die russische Invasion richtet sich nicht allein gegen die Ukraine. Den Hauptfeind wähnt der Kreml im Westen. Recherchen von t-online zeigen das Ausmaß eines jahrzehntelangen Angriffs im Verborgenen.
Es gab immer einen Restzweifel. Wenn eine Bombe explodierte, wenn ein Oppositioneller starb, wenn eine Spur radioaktiven Gifts sich durch Europa zog. Wahlen: mutmaßlich manipuliert. Sensible Informationen: wahrscheinlich durch Computerangriffe erbeutet. Ein Putsch: angeblich vereitelt. Es gab viele Worte, die klar machten, dass ein Urteil nicht gesprochen war. Dass also fortan die Unschuld weiter anzunehmen sei. Politik und Wirtschaft konnten aufatmen. Nichts bewiesen, nichts passiert.
In Demokratien ist der Zweifel eine Tugend. Er soll die Bürger vor staatlichen Übergriffen schützen, vor einem überbordenden Sicherheitsapparat und vor politischer Verfolgung. Im Zweifel für den Angeklagten. Der Rechtsstaat, der nur unter dieser Bedingung existieren kann, ist derart wesentlich für die Demokratie, dass er selbst diejenigen schützt, die beides verachten und bekämpfen. Deswegen säen Anwälte, wie jeder gute Anwalt es wohl tun würde: Zweifel.
Nichts anderes taten russische Geheimdienste im Auftrag des Kremls und ihre Multiplikatoren im Westen. Über zwei Jahrzehnte säten sie den Zweifel an einer einfachen Tatsache: Russland sieht sich im Krieg, der Feind sind die Demokratie, der Westen, die USA, Europa. Der Feind ist auch Deutschland.
Der Zweifel an dieser Feststellung war ein nützliches Instrument jener, die im Westen eigene Pläne verfolgten. Sie profitierten von ihm, politisch und finanziell. Gas und Öl flossen, die Wirtschaft brummte trotz Finanz- und Corona-Krise. Oligarchen ließen ihr gestohlenes Geld in Berliner Villen und Londoner Boutiquen, in Barcelona und Rom. Wer wegschaute, konnte erleichtert sein.
Bis der Krieg auch mit Panzern und Raketen nach Europa kam und die Ukraine ums Überleben kämpfen ließ.
t-online hat über Monate offizielle Quellen, Presseberichte und Studien der vergangenen 22 Jahre zu russischen Geheimdienstaktivitäten in Europa und den USA ausgewertet. Es ergibt sich ein erschreckendes, bislang in seiner Gesamtheit nicht bekanntes Bild. Seit dem Amtsantritt Wladimir Putins als Präsident wurden über 300 Fälle öffentlich – dabei geht es nicht nur um Spionage und Hacking-Angriffe, sondern um Morde und Putschversuche, um Wahlbeeinflussung und andere Maßnahmen, mit dem Ziel die westlichen Demokratien zu destabilisieren.
Sie zeichnen das Bild eines Russlands, das den Feind schon seit Langem im Westen verortet. Und einer desaströsen deutschen Sicherheitspolitik, die das lange ignorierte. Dabei warnten viele russische Oppositionelle, Experten, EU- und Nato-Partner immer wieder vor aufflammender russischer Aggression. Die Neunzigerjahre waren vorbei. Der mächtigste Mann im Kreml war nun ein ehemaliger Soldat der unsichtbaren Front.
1) Die Wiederkehr des KGB
Es ist der 26. März 2000, als alte Geheimdienstseilschaften den russischen Staat übernehmen. Hinter Russland liegen damals verhängnisvolle Jahrzehnte: Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur brach in weiten Teilen auch das staatliche Gewaltmonopol zusammen. Mitglieder der ehemaligen Nomenklatura plünderten mit Mafia-Organisationen den Staat und stiegen zu Reichtum und Macht auf. Schutzgeld-Kartelle und ausufernde Gewalt gaben in den 1990er-Jahren den Ton an.
Das ändert sich mit der Machtübernahme des ehemaligen KGB-Offiziers und FSB-Chefs Wladimir Putin nur vorgeblich. Klar, er nimmt offiziell den Kampf gegen Banden und Oligarchen auf – die sind aber so mit Geheimdienstlern, Militärs, Eliten und Offiziellen verwoben, dass sie längst mehr als einfache Kriminelle sind. Sie sind die Mächtigen im Staate und Putin Teil dieses Systems. Nur mit ihrer Hilfe gelangt er an die Spitze des Kremls und behauptet sich dort.
Die Logik dieser Bündnisse überdauert die Rückkehr zum starken Staat: Wer Putin die Treue hält, darf auf den Schutz des Kremls und damit auf Geld, Macht und Einfluss hoffen. Wem Putin diesen Schutz gewährt, den darf er zu seinen politischen Unterstützern und Finanziers zählen. Deswegen bringt er vor allem Weggefährten aus dem KGB in einflussreiche Positionen, nicht nur in den Ministerien, sondern auch in Staatskonzernen wie Gazprom und Rosneft. Sie werden – wie Putin selbst – nicht nur mächtig, sondern auch reich.
Fortan bestimmt Putin mit seinen Geheimdienstlern den Kurs, den Silowiki. "Wir sind wieder an der Macht, dieses Mal für immer", erklärt Putin vor Funktionären des Geheimdienstes FSB. Gemeinsam unterdrücken sie für deren Erhalt brutal die Opposition, verstaatlichen und zensieren die Medien und schwören das Land mittels ihrer Propaganda auf einen äußeren Feind ein. Russland soll zu alter Größe erwachsen. Ihre Methoden dafür sind jene, die sie über Jahrzehnte in den Dienst des Sowjet-Kommunismus stellten.
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Zur Methodik: Die Liste enthält durch Urteil festgestellte Fälle sowie von Behörden mitgeteilte, durch investigative Recherchen und Sicherheitsstudien bekannt gewordene Verdachtsfälle. Es ist möglich, dass einzelne Fälle nicht mit russischen Geheimdiensten in Verbindung stehen. Die Liste erhebt weiter keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
"Aktive Maßnahmen" nannte das der KGB, was gewaltfreie Maßnahmen wie die "Desinformazya" meint, die die westliche politische Öffentlichkeit beeinflussen soll, aber auch brutalste Gewalt. Es ist "alles, was sich auf den Feind auswirkt", sagt John Sipher, der über viele Jahre die Russland-Operationen des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA geleitet hat und dafür auch in Moskau stationiert war. "Die Maßnahmen umfassen alles, was wir bei den US-Wahlen gesehen haben: Desinformation, Sabotage, Subversion, Attentat, Täuschung."
Noch Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sind Offiziere als sogenannte "Illegale" im westlichen Ausland stationiert, Schläferzellen also, die ihre geheimdienstlichen Legenden über Jahrzehnte aufrechterhalten und als normale Bürger auch in den USA und Deutschland leben.
Und die Hoffnung, die russischen Geheimdienste hätten zumindest ihre lange Tradition der Auslandsmorde hinter sich gelassen, erweist sich bald als trügerisch. Feinde des Kremls werden zu Zielen, die bestialische Vergeltung fürchten müssen.
"Viele der Attentate entdecken wir gar nicht", sagt Sipher. "Wenn wir sie aber entdecken – und die Russen scheint das mittlerweile kaum noch zu kümmern –, sendet das ein starkes Signal aus dem Kreml: an potenzielle Verräter, die Rache fürchten müssen. Und auch an andere Staaten: Seht her, womit wir davonkommen. Die Morde sollen einschüchtern."
Dass die neue Gangart eigentlich die alte Gangart ist, lässt bereits ein Attentat im Jahr 2004 erahnen. Die "Orange Revolution" hat damals den massiven Wahlbetrug der kremltreuen Regierung in der Ukraine unmöglich gemacht. Plötzlich wird ein Wandel denkbar – doch Hoffnungsträger Viktor Juschtschenko wird noch während des Wahlkampfes mit Dioxin vergiftet. Er überlebt nur knapp und gewinnt die Stichwahl – während die Verdächtigen in Russland Schutz suchen.
Gab Putin den direkten Befehl für den Anschlag? Jahre später wird Juschtschenko der BBC sagen: "Ich habe eine Antwort, die ich nicht aussprechen kann." Die größte Gefahr für Europas Bürger sei ein Russland, "das mittelalterliche Methoden im 21. Jahrhundert" anwende.
Auf das Attentat folgen weitere: 2006 ermorden ehemalige KGB-Männer den Überläufer Alexander Litwinenko in London mit einem radioaktiven Gift. Auch sie fliehen nach Russland, wo sie politische Karriere machen und mit Orden ausgezeichnet werden. Anschließend sterben in Großbritannien 14 weitere Menschen auf Befehl des Kremls, wie US-Geheimdienste vermuten und "BuzzFeed" berichtet – nicht zu vergessen das Attentat auf den Überläufer Sergei Skripal.
Weitere Mordanschläge erschüttern Bulgarien, die Türkei, die Ukraine und Deutschland. Nahezu ungehindert scheint sich zeitweise sogar ein Killerkommando von einer Operationsbasis in Frankreich aus bewegen zu können. Als all das schließlich unter anderem durch Recherchen von "Bellingcat", "The Insider" und "Spiegel" auffliegt, stellt der deutsche Verfassungsschutz relativ gelassen fest, die Methoden würden ruppiger, fast wie im Kalten Krieg.
Die westliche Antwort darauf erschüttert Russland aber nicht: Diplomaten werden ausgewiesen, Sanktionen verhängt, aufgrund von Schlupflöchern weiter Waffen und Rüstungsmaterial geliefert. Dabei stoppt der Kreml unter Putin längst nicht mehr bei Attentaten auf jene, die er für Verräter oder Sicherheitsrisiken hält. Das Militär soll modernisiert werden. Russland verfolgt eine Politik der militärischen Expansion, die es mit Einflussnahme in den westlichen Demokratien zu flankieren versucht.
2) Die Kriege des Kremls
Freie Völker, freie Staaten, freie Bündnisse: Das ist in etwa, was nach zwei Weltkriegen die Menschheit vor einer weiteren Katastrophe bewahren soll. "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren", stellt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen fest. Das heißt: Sie dürfen auch selbst über ihre Souveränität innerhalb ihrer akzeptierten Grenzen bestimmen. Das ist allerdings nicht, wie es der Kreml unter Putin sieht.
Im Denken der Geheimdienst-Elite, die Russland regiert, geht es um Einflusszonen und die Beherrschung von Räumen, um militärisch wichtige strategische Zugänge zur offenen See. Gewalt gilt als legitimes Mittel. Es geht im "nahen Ausland" um Pufferzonen gegenüber angeblich feindlich gesinnten Mächten. Und im Kern um einen Hegemonialanspruch auf Staaten, deren Souveränität sie nicht zu akzeptieren bereit ist. Die Extremsten unter ihnen träumen vom russischen Protektorat bis Lissabon.
"Wir müssen Europa erobern, eingliedern und anschließen", sagt einmal der Philosoph Alexander Dugin, der gemeinsam mit anderen, vermeintlich intellektuellen Ultranationalisten die ideologische Leerstelle füllt, die der Kommunismus hinterließ. Versatzstücke solcher Ansichten tauchen immer wieder in der russischen Propaganda auf. Ihnen wird auch Einfluss auf Putins Zirkel der Macht zugeschrieben.
Über viele Jahre besteht dabei lediglich ein Problem: Der eigene Großmachtanspruch ist nach dem Untergang des sowjetischen Imperiums nicht mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Die Wirtschaft ist eingebrochen, Infrastruktur und Militär rosten vor sich hin. Verbündete in ehemals befreundeten Staaten sind aufgrund der jahrzehntelangen Unterdrückung durch die Sowjetunion in die Defensive geraten.
Die maßgeblichen politischen Kräfte dort suchen nicht den Schulterschluss mit, sondern Schutz vor Russland. Die baltischen Staaten und andere aus dem ehemaligen Warschauer Pakt streben in der Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung, Modernisierung und Demokratie gen Westen und versuchen diese Fortschritte durch militärische Bündnisse abzusichern. Sie flüchten sich in die Nato – und die sieht in Russland eher eine "Regionalmacht", wie es US-Präsident Barack Obama einmal ausdrückt.
Das große russische Reich der Zaren und Zentralkomitees ist nur noch eine ferne Erinnerung. Was den Silowiki bleibt, sind ein Gefühl der Demütigung und die fortbestehenden Strukturen ihrer Geheimdienste.
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"Russland hatte in den 1990er-Jahren eine Wirtschaft ungefähr in der Größe von Portugal, aber immer noch mehr Geheimdienstoffiziere auf der ganzen Welt als die Vereinigten Staaten", sagt Sipher. "Sie betrieben weiterhin Operationen im Ausland, bezahlten weiter ihre Spione. Das war dem Kreml offenbar wichtig. Während der Rest des Landes auseinanderzufallen begann, hatten sie immer noch ziemlich viel Geld und schwarze Kassen."
Die wissen sie strategisch zu nutzen. Das Ziel ist Expansion, die Gegner sind die Nato und der Westen, die der Rückkehr zur Großmacht im Weg stehen. Das zeigt sich als Blaupause in der Vorbereitung des Kriegs gegen Georgien 2008.
Der Zweite Tschetschenienkrieg liegt damals einige Jahre zurück und hat mit brutalsten Mitteln weitere Abspaltungen aus der Russischen Föderation verhindert. Mit dem darauf folgenden Angriff destabilisiert der Kreml dann dauerhaft das südliche Nachbarland und verhindert den Nato-Beitritt. Voraus gehen verdeckte Sabotageaktionen auf die Energieversorgung, Spionage und schließlich Großmanöver an der Grenze. Letztlich marschiert die Armee ein und verteilt russische Pässe – angeblich um Russischstämmige in den georgischen Provinzen zu schützen.
Aus heutiger Sicht klingt das nur allzu bekannt. Ähnlich wird Russland auch 2014 und 2022 gegen die Ukraine vorgehen. Den aktuellen Feldzug weitet Putin zu einer Art Vernichtungskrieg aus.
Überall dort, wo der Westen bis dahin ein Vakuum hinterlässt oder zögerlich reagiert, greift Russland mit militärisch überschaubaren Mitteln ein. In Syrien sichert Putin mit einem Bombenkrieg Diktator Bashar al Assad die Macht – und gleichzeitig seine einzige Militärbasis außerhalb der ehemaligen Sowjetunion. In Libyen sollen Waffenlieferungen und Söldnereinsätze verbündeten Rebellen im Bürgerkrieg zur Seite stehen und künftig als Partner und Anlaufstelle im Mittelmeerraum fungieren.
Wo die militärische Stärke allerdings fehlt, kommen Mittel der Tschekisten zum Einsatz. Sie greifen in ihrem hybriden Krieg die Nato an, versuchen Zusammenhalt und Verteidigungsfähigkeit zu erschüttern. Putin geht in dem globalen Machtkampf nicht nur über Leichen, ihm ist jedes Mittel recht.
Wie tief der russische Geheimdienst zum eigenen Vorteil in die Politik seiner vorgeblichen Partnerländer eingreift, zeigt sich exemplarisch in den Vereinigten Staaten. Dort sind nicht einmal die Präsidentschaftswahlen vor dem langen Arm des Kremls sicher. Über Jahre halten russische Einflussoperationen das Land in Atem. Unbedingt will der Kreml Donald Trump als Staatschef sehen und lässt dafür seine Geheimdienst-Hacker auf dessen Konkurrentin Hillary Clinton, die Demokraten und die Wählerregister los. Zeitgleich suchen seine Agenten Kontakt zur republikanischen Kampagne.
Die Gründe dafür werden nach Trumps Sieg offenkundig: Die Nato nennt Trump "obsolet", Truppen aus Europa zieht er ab und bezweifelt öffentlich, den Mitgliedstaat Montenegro im Ernstfall verteidigen zu wollen – dort war kurz vor dem Beitritt offenbar ein russischer Putschversuch gescheitert. Internationale Bündnisse und Allianzen beschädigt er, seine eigenen Geheimdienste erniedrigt er in einer Pressekonferenz mit Putin. Deren Erkenntnisse zur russischen Einmischung stellt er infrage, Putin bestreite das nämlich.
Der Ukraine, die sich seit 2014 im Krieg mit Russland befindet, verweigert Trump anschließend Militärhilfen und erpresst sie: Er werde sie nur unterstützen, sollte sie Ermittlungen gegen seinen politischen Rivalen Joe Biden einleiten.
Die Parteinahme für den Erzfeind im Kreml geht so weit, dass sich bis heute Spekulationen halten, Trump sei über viele Jahrzehnte durch die russischen Dienste als "Aktivposten" kultiviert worden. Ein ehemaliger KGB-Spion berichtet dem US-Journalisten Craig Unger zumindest von Einflussversuchen. Möglicherweise habe der Kreml auch belastendes Material über Trumps dortige Finanzgeschäfte in der Hinterhand. Noch immer geht die New Yorker Staatsanwaltschaft seinem Geschäftsgebaren nach.
Im Wahlkampf zu seiner Wiederwahl schlagen die Verbindungen dann jedenfalls fast unvorstellbare Volten: Aus der "Russland-Affäre" will sein Anwalt Rudy Giuliani eine "Ukraine-Affäre" machen – die dortige Regierung habe die Demokraten im Wahlkampf unterstützt. Zusätzlich fördert er immer mehr angeblich belastendes Material über Trumps Konkurrenten Joe Biden zu Tage und spielt sie den Medien zu.
Relativ unbeachtet stellen derweil US-Behörden Giulianis Hauptgesprächspartner und wichtigste Quelle Andrij Derkach unter Sanktionen. Der ist in der Ukraine nämlich gut bekannt – als ehemaliger KGB-Agent. In den USA wird ihm wegen der Falschinformationen verdeckte Wahlbeeinflussung in Zusammenarbeit "mit anderen russischen Agenten" und prorussischen Lobbyisten vorgeworfen. Giuliani bleibt unerwähnt.
Doch die mit den Falschinformationen unterfütterte Wahlkampagne der Republikaner eskaliert und treibt die USA in die wohl schwerwiegendste Legitimitätskrise ihrer Geschichte. Kurzzeitig scheint selbst ein Putschversuch nicht mehr ausgeschlossen, als Trump sich nach verlorener Wahl weigert abzutreten und möglicherweise planmäßig rechtsextreme Demonstranten aufheizt, bis sie das Parlament stürmen.
Hätte er sich im Amt halten können – vermutlich wären die USA aus der Nato ausgetreten, berichtet die "Washington Post". Europa hätte seine wichtigste Schutzmacht verloren. Die Einflussoperationen in den USA folgen einem Muster: Ähnlich finden sie über die Jahre in vielen westlichen Staaten statt, wenn auch ungleich schwerer einzuschätzen ist, wie viel Wirkung sie dort entfalten.
Russische Unterstützung findet in Frankreich die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen – erst finanziell durch Kredite, dann indirekt durch einen Hacking-Angriff auf Präsident Emmanuel Macron. Sollte sie je Erfolg haben, kann Russland sich freuen: Auch sie will die Atommacht Frankreich aus der Nato führen und eine Allianz mit Russland anstreben.
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In Großbritannien mischen sich die russischen Dienste in das schottische Unabhängigkeitsvotum und später die Parlamentswahl ein. Eine Untersuchung der Brexit-Abstimmung wird trotz starker Verdachtsmomente nie durchgeführt. Der Austritt der Atommacht aus der Europäischen Union dürfte im Kreml aber auf große Sympathie gestoßen sein.
Ob Spanien oder Griechenland, Lettland, Estland oder Italien: Überall dort, wo Parlamentswahlen anstehen, sich antieuropäische Bewegungen formieren oder nationale Bruchstellen auftun, sind auch der russische Geheimdienst und mutmaßliche Mittelsmänner nicht weit, greifen Hacker die Regierung an, fluten Desinformationskampagnen der russischen Medien die Öffentlichkeit. Während Putin selbst nie müde wird, westliche Staaten als "Partner" zu bezeichnen.
Denn auch wenn die russische Führung keine Demokratie ist, braucht Europa – so heißt es zumindest vielfach – die Freundschaft zu Russland. Für den Kampf gegen den Terror, für atomare Abrüstung und vor allem: für den Import russischer Rohstoffe. Ein verhängnisvoller Irrglaube.
3) Die Energiefalle
Gefördert wird Europas Energie in den Weiten Sibiriens südlich des Polarkreises. Seit den Sechzigerjahren floss Gas nach Westeuropa. SPD und CSU fädelten für Deutschland die Deals mit den Kommunisten ein, Tausende Kilometer lange Röhren brachten den Brennstoff seitdem in jeden Haushalt und jede Fabrik und wurden zu einer deutschen Glaubensüberzeugung: den "Wandel durch Annäherung", ersonnen von SPD-Politiker Egon Bahr.
"Wer Handel miteinander treibt, schießt nicht aufeinander", frei nach Altbundeskanzler Helmut Schmidt. Neue Ostpolitik, Entspannung, die Deals fügen sich damals in eine Neuausrichtung deutscher Außenpolitik und überdauern Brandt und Breschnew, Reagan und Gorbatschow, den Fall der Mauer und den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums. Sie überdauern auch die politische Realität in der Welt.
Während in Deutschland das Paradigma "Wandel durch Handel" Bahrs "Wandel durch Annäherung" über den Kalten Krieg rettet und die deutsche Politik unbeirrt an ihm festhält, beschießt Russland seine Handelspartner in Georgien und der Ukraine. Im hybriden Krieg gegen die Nachbarstaaten und den Westen werden die fossilen Rohstoffe zur Waffe. Warnende Stimmen wie die von Claudia Kemfert stehen in Deutschland im Abseits.
Die Energieökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) erkennt bereits vor über 15 Jahren die Gefahr – und findet kein Gehör, während die Granden der deutschen Volksparteien SPD und Union gemeinsam mit deutschen Energieversorgern den Staatskonzern Gazprom hofieren und ihm zur marktbeherrschenden Stellung verhelfen. Einwände von Experten wischt Frank-Walter Steinmeier als Außenminister beiseite: Das sei Alarmismus, der "altem Denken" entspreche.
"Fassungslos machte uns das", sagt Kemfert rückblickend. "Man konnte schon im Jahr 2006 kurz vor Nord Stream 1 ein Muster erkennen: Russland suchte die Abhängigkeit von den Lieferungen und setzte sie als politische Waffe ein." Dasselbe 2014 kurz vor Nord Stream 2: Eine weitere DIW-Studie stellt "hohe geopolitische Risiken" für die geplante Pipeline fest. Was das bedeutet, ist heute offenkundig: Die Abhängigkeit hemmt bis heute im russischen Angriffskrieg die deutsche Handlungsfähigkeit.
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Möglicherweise klingt deswegen ein bisschen Bitterkeit bei Kemfert an: "Wir haben nie verstanden, warum die Politik unsere Warnungen nicht nur negiert, sondern auch lächerlich gemacht hat." Dabei ist das, was Kemfert etwas abstrakt "geopolitische Risiken" nennt, keineswegs abstrakt, sondern liegt schon damals sehr konkret zu Tage.
An Lettland stoppt Russland inmitten politischer Verstimmungen 2003 die Öllieferungen. Der Ukraine dreht Gazprom 2005 nach Juschtschenkos Wahlerfolg den Hahn zu. Für Georgien erhöht der Staatskonzern 2006 inmitten einer Spionageaffäre drastisch die Preise. Weitere Drohungen und Lieferstopps folgen in Belarus.
Was in Deutschland offenbar unbemerkt bleibt, ist da im europäischen Ausland längst Grund nachhaltiger Sorge. 55 solcher Fälle zählt eine Agentur des schwedischen Verteidigungsministeriums in einer Studie bis 2006 auf – also ein Jahr, nachdem Deutschland beschloss, die erste Gaspipeline durch die Ostsee zu bauen.
Dabei warnen EU-Partner fortwährend: Russland wolle nur Transitländer wie Polen und die Ukraine umgehen, um sie unter Druck setzen zu können. Polen vergleicht die Pipeline damals sogar mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt, der das Staatsgebiet zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion aufteilte.
Die schwedischen Verteidigungsexperten kommen zu einer weitsichtigen Einschätzung. Gas und Öl seien Machtinstrumente des Kremls, der Geheimdienst FSB kontrolliere die Ausrichtung des Energiesektors. "Ohne Zweifel sollte Russlands nötigende Energiepolitik in einem langfristigen geopolitischen und strategischen Kontext verstanden werden", heißt es in der Studie. Die Rohstoffe würden eingesetzt, um den Einfluss über ehemalige Staaten der Sowjetunion zu sichern.
Langfristig seien auch die Risiken eines Lieferstopps für Europa unkalkulierbar: "Alles kann passieren." Deutschland sei "eine Geisel" russischer Energie und es existiere ein "starker Zusammenhang" zwischen seinen zunehmenden Verbindungen nach Russland und dem Widerwillen, den Kreml zu kritisieren. Das bleibt auch in Russland selbst nicht unbemerkt: "Deutschland ist auf der Seite Putins, nicht auf unserer", hält die später ermordete Journalistin Anna Politkowskaja zur Kanzlerschaft Gerhard Schröders in einem Buch fest.
Dabei hätten nicht nur Expertenmeinungen und russische Oppositionelle in Deutschland ein Umdenken zwingend notwendig gemacht.
Über die Jahre wird immer deutlicher, dass sich die russischen Geheimdienste auffallend für die Energieversorgung ihrer westlichen Handelspartner interessieren. 2004 entspinnt sich in Polen ein Spionageskandal um den Verkauf einer Ölraffinerie im Hafen von Gdansk nach Russland. Ein Jahr später werden Treffen desselben ehemaligen KGB-Spions mit Mitarbeitern eines Nuklearkraftwerks in Lettland öffentlich. In Deutschland spionieren die russischen Dienste immer intensiver zur Energiepolitik, wie aus Berichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz hervorgeht.
Zeitgleich baut Gazprom sein Deutschlandgeschäft aus und erwirbt Speicher und Pipelines. Gegenmaßnahmen der EU-Kommission greifen zu kurz.
Der größte Schlag aber gegen die westliche Energieversorgung und ihre kritische Infrastruktur ereignet sich tatsächlich im Geheimen ab 2012. Drei Männer mit den Namen Pawel Akulow, Mikhail Gawrilow und Marat Tyukow dringen so tief ins Zentrum der westlichen Versorgung ein wie kein russischer Agent vor ihnen. Für die FSB-Einheit "71330" verschaffen sich die Geheimdienstoffiziere Zugriff auf Kraftwerke und Energieunternehmen. Weltweit sind laut US-Anklage 500 Ziele in 135 Staaten betroffen, darunter auch in Deutschland.
Das Mittel der drei staatlichen Hacker: die Malware Havex. Mit ihr schaffen sie nicht nur Möglichkeiten, Informationen in bis dato kaum denkbarem Umfang abzuschöpfen. Sie erhalten auch Zugriff auf Steuerungssoftware zur Stromerzeugung und -versorgung. Und ermöglichen dem Kreml damit, Systeme im Konfliktfall nicht nur virtuell, sondern sogar physisch zu stören und zu beschädigen.
Dass russische Regierungshacker dazu durchaus in der Lage sind, zeigt 2017 ein Notfall in einer US-Ölraffinerie. Nach einem Computerangriff aus einem Institut des Verteidigungsministeriums fährt sie komplett herunter. Dabei bleibt es vorerst – doch der Angriff habe auch die Gefahr von Explosionen und des Austritts giftiger Gase geborgen, heißt es in Anklagedokumenten des US-Justizministeriums.
All das bleibt deutschen Nachrichtendiensten zumindest in Teilen nicht verborgen. Mitte der 2000er-Jahre vermerkt der Bundesverfassungsschutz, dass russische Spione ein "besonderes Interesse" an der Energiepolitik haben. Kurz vor dem Angriff auf Georgien bescheinigen die deutschen Aufklärer ihren Gegenspielern bereits, ein "hohes Maß an Interesse". Kurz vor dem Angriff auf die Krim ist die deutsche und europäische Versorgung sogar "hervorgehobenes Spionageziel" und bleibt für Jahre ein Schwerpunkt.
Agenten seien derweil dazu übergegangen, nicht nur Informationen zu sammeln, sondern auch politische Entscheidungen beeinflussen zu wollen. Wenig später wird die Pipeline Nord Stream 2 beschlossen, die Deutschland noch enger an die Gaslieferungen aus Russland bindet.
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Wieso hat der kontinuierliche Griff des Kremls nach der europäischen Energieversorgung bis zuletzt in Deutschland keine Konsequenzen? Wieso bleibt Nord Stream 2 für die Regierung Merkel und die Regierung Scholz ein "rein privatwirtschaftliches Projekt", während es tatsächlich ein unabwägbares nationales Sicherheitsrisiko darstellt?
Im Verfassungsschutzbericht findet sich seit einigen Jahren ein Kapitel zur Gefahr von Direktinvestitionen durch ausländische Staaten. Darin heißt es, sie könnten "insbesondere im Bereich Kritischer Infrastrukturen zu Abhängigkeiten von staatlich kontrollierten ausländischen Investoren und – im äußersten Fall – zu entsprechenden sicherheitsrelevanten Kontrollverlusten führen". Dahinter könnten "staatliche Stellen stehen, die versuchen, wirtschaftliche und politische Machtverhältnisse zugunsten ihrer Länder zu beeinflussen".
Die Gaspipelines durch die Ostsee, die russischen Investitionen in die Gasinfrastruktur, die mit den Jahren immer größere deutsche Abhängigkeit von den russischen Lieferanten finden keine Erwähnung. Angeblich hätten die Dienste intern gewarnt.
"Dieses Kapitel ist ein kleines diplomatisches Meisterwerk", sagt jemand aus mit der Sache befassten Sicherheitskreisen. Was heißen soll: Es sind viele politische Spieler mit unterschiedlichen Interessen involviert. Das Wirtschaftsministerium, das für die Prüfung der Direktinvestitionen zuständig ist. Das Auswärtige Amt, das die Beziehungen zu den Staaten pflegt. Das Innenministerium, in dessen Verantwortungsbereich der Bericht erstellt wird. Und möglicherweise auch das Kanzleramt, dem der Bundesnachrichtendienst unterstellt ist.
Die Dienste können warnen, aber entschieden wird in Berlin.
4) Die deutschen Interessen
Es gibt KGB-Handbücher, die aus der Zeit stammen, als Wladimir Putin im Geheimdienst aufstieg, und die der amerikanische Journalist Michael Weiss veröffentlicht hat. Sie handeln von der Kunst, Menschen als Zuarbeiter zu kultivieren und gegebenenfalls als Agenten zu rekrutieren. Im Kern sind sie eine Anleitung, auf der Klaviatur menschlicher Eitelkeiten und Motivationen zu spielen. Mit Schmeichelei, mit Anerkennung, mit Geld, mit Einschüchterung und Erpressung – was immer am aussichtsreichsten erscheint.
Handlungen, so heißt es darin, dürften den Zielpersonen im besten Fall nicht aufgezwungen werden. Von selbst sollen sie zu den Entscheidungen gelangen. Oft wissen sie selbst nicht, dass sie dem Geheimdienst behilflich sind. "Um eine Person auf unsere Seite zu ziehen, müssen wir sie erst überzeugen, dass wir seine aufrichtigen Freunde sind", steht in einem der Handbücher. Oft müsse ein solcher Vorgang mit kleinen Dingen beginnen.
Vielleicht mit einem Saunabesuch und einem Bier.
Gerhard Schröder, der sein Amt als Bundeskanzler antritt, kurz bevor Putin Präsident wird, hat einmal im russischen Fernsehen erzählt, dass mit dieser Anekdote die Freundschaft begann, die ihn heute isoliert wie keinen Altkanzler vor ihm. Der Ex-KGB-Spion Putin weiß damals womöglich, auf welche Knöpfe er drücken muss: Bereits Schröders Stasi-Akte hält fest, der damals noch junge Sozialdemokrat sei "sehr von sich eingenommen" und trinke "gern und viel Bier".
Ex-CIA-Mann Sipher hat aus seiner Geheimdiensterfahrung eine Vermutung dazu: "Putin spielte den Gegner und nicht das Brett, wie der Schachgroßmeister Kasparow sagt." Er habe erkannt, dass er die Beziehung zum Kanzler ausnutzen könne. "Putin behandelte Schröder so, als wäre er sehr wichtig. Das streichelte dessen Ego, dann kam das Geld dazu und so entwickelte sich langsam eine Beziehung, die Russland sehr viel nützt und dem Westen sehr wenig."
Die Wertschätzung und Kumpelhaftigkeit, die der neue russische Präsident Schröder entgegenbringt, fällt jedenfalls offenkundig auf fruchtbaren Boden, denn es bleibt nicht beim Saunabesuch und Christbaumkugeln als Mitbringsel aus St. Petersburg. Putin lädt zum Geburtstag ein, Putin lädt zur Schlittenfahrt durch Moskau. Es entsteht eine scheinbar unverbrüchliche Freundschaft zwischen zwei Männern, geschweißt durch viele gemeinsame Jahre. Legendär wird Schröders öffentliche Einschätzung Putin sei "ein lupenreiner Demokrat".
Und so bringen er und seine SPD die Ostsee-Pipelines aus Russland auf den Weg, um die deutsche Wirtschaft mit günstigem Gas anzukurbeln – während sie für die Ukraine wenig mehr als Floskeln erübrigen, als Juschtschenko in der Ukraine erst vergiftet und dann doch noch Präsident wird. Nach verlorener Wahl geht der Ex-Kanzler als Aufsichtsrat zur Nord Stream AG, Jahre später sogar zu Putins Staatskonzern Rosneft. Von dem heißt es, dort seien so viele Silowiki tätig, dass unmöglich zu sagen sei, wer noch im aktiven Dienst stehe.
Seit diesen Jahren hält er Putin die Treue und spielt als Verwaltungsratschef für die zweite Nord-Stream-Pipeline eine entscheidende Rolle. Belohnt werden soll er dafür bald mit einem Gazprom-Aufsichtsratsposten. Um Putin zu Diensten zu sein, braucht es nur die richtige Motivation. Über Schröders Gründe darf spekuliert werden, für die SPD insgesamt ist es über Jahrzehnte Willy Brandt.
Denn wie Schröder, der sein Engagement für Putin und seine Staatskonzerne stets als Beitrag zur europäischen Friedensordnung verstanden wissen will, geht es auch seiner Partei weniger um Russland selbst als vielmehr um das sozialdemokratische Erbe der Friedenspartei. Bis heute sieht sich die SPD als Versöhner in der Tradition von Brandts Ostverträgen. Der Moment, als Putin kurz nach Amtsantritt im Bundestag spricht, beflügelt Ideen einer neuen Ära der Verständigung.
"Ich bin überzeugt: Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses", sagt er unter dem Beifall der Abgeordneten. Europa könne "seinen Ruf als mächtiger und selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen", wenn es seine Möglichkeiten mit russischen Ressourcen und Potenzialen vereinige.
Im Nachhinein klingt es wie eine Drohung.
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Doch damals scheint in den Folgejahren der Gedanke zu verführerisch, dass nur Sozialdemokraten das Unglaubliche schaffen könnten: eine neue Friedensarchitektur zu errichten und Putin zur Räson zu bringen. Die Brücken dorthin formen Parteikarrieren wie die von Bundespräsident Steinmeier – sie vollständig einzureißen, hätte dramatische Folgen. Mit einem Ohr hören sie deswegen bis zuletzt immer nach Moskau.
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig versucht die zweite Pipeline mittels einer angeblichen Klimastiftung vor US-Sanktionen abzuschirmen, Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich fordert den Abzug der amerikanischen Atomwaffen. Die "russische Bedrohungsanalyse" von der Einkreisung durch die Nato könne er nachvollziehen, auch wenn er sie nicht teile, sagt er noch kurz vor der Invasion. Der diplomatische Erfolg des neuen Bundeskanzlers Olaf Scholz, Putin zu einem Truppenabzug bewegt zu haben, entpuppt sich als Finte. Waffen an die Ukraine liefert Deutschland trotzdem nicht bis zum Kriegsausbruch.
Es scheint so, als wolle sich die SPD die Hoffnung auf den großen sozialdemokratischen Wurf nicht von der Realität kaputt machen lassen. Dabei beginnt im Jahr des Startschusses für Nord Stream 2, ein Jahr nach dem Angriff auf die Krim, auch ein beispielloser Angriff auf das Herz der deutschen Demokratie.
Hacker im Auftrag des russischen Militärgeheimdienstes, infiltrieren das Netz des Deutschen Bundestags, nisten sich ein in die Festplatten deutscher Volksvertreter, stehlen sensible Informationen, kapern Rechner. Als Einfallstor nutzen die Angreifer einen Trojaner, der sich im Anhang einer E-Mail versteckt. "Ukraine conflict with Russia leaves economy in ruins", lautet die Betreffzeile, mit der die Abgeordneten geködert werden.
Über mehrere Wochen können Putins Internetkrieger geheime Daten ausspähen und parlamentarische Abläufe studieren, in einigen Fällen sogar Geräte fernsteuern. Betroffen sind Politiker mehrerer Fraktionen. "Das Haus brennt", kommentiert ein Abgeordneter. Doch die Welle der Empörung legt sich bald wieder. Ein Schuss vor den Bug, der bald vergessen ist.
Zwar rücken im Anschluss vor allem die ideologischen Verbindungen aus AfD und Linken nach Moskau in den Blick, die über Mittelsleute auch ins Umfeld von Geheimdiensten führen. In den Parteien gilt Putin je nach Façon als Gegenmodell zu "Gender-Gaga", Klimaschutz und Migration oder eben als Gegenspieler des "US-Imperialismus". Die tieferen und weitreichenderen Beziehungen der Volksparteien bleiben aber außen vor. Für ein Umdenken in der deutschen Russlandpolitik reicht es nicht.
Denn auch die Union, die als Regierungspartei Deutschland durch Finanz- und Corona-Krise steuern und Atom- und Kohleausstieg bewältigen muss, trägt den einmal eingeschlagenen Kurs bis zum Schluss mit. Dabei kann Angela Merkel eigentlich keine Illusionen haben, was ihr Gegenüber anbelangt. Versucht es Putin bei Schröder mit Männerfreundschaft, greift er bei ihr zur Einschüchterung: Seinen großen schwarzen Hund lässt er Merkel umstreifen, als sie Putin 2007 zum ersten Mal besucht. Sie fürchtet sich vor den Tieren. Es ist eine Machtdemonstration.
Beim Treffen werden sodann Fragen zur Energiepolitik besprochen. Künftig sollen "Irritationen" vermieden werden, denn weil Russland kurzfristig die Ölexporte nach Belarus gestoppt hat, gelangt der Rohstoff zeitweise nicht mehr nach Europa. Sein Land werde alternative Transportwege suchen, verspricht Putin. Damit soll die "Abhängigkeit" von Nachbarländern begrenzt werden. Problem gelöst. Dass Putin vier Wochen später in seiner Münchner Rede nahezu unverhohlen den russischen Großmachtanspruch darlegt, steht der weiteren Energiekooperation nicht im Wege.
In ihrem Geiste macht Merkels große Koalition mit der SPD Nord Stream 2 möglich, denn Deutschland will in den Krisen der Welt nicht zurückfallen. Was der Wirtschaft nutzt, nutzt den Arbeitnehmern, was den Arbeitnehmern nutzt, nutzt der großen Koalition. "Eine Person zu beeinflussen, mag sich folgendermaßen äußern: die Person zu verstehen, ihr bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen, sie dabei gut aussehen zu lassen", steht im KGB-Handbuch.
Die Kanzlerin wird so zur Schutzpatronin der Pipeline, die bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft jegliche geopolitischen Auswirkungen bestreitet und dabei von einflussreichen Fürsprechern in CDU und CSU flankiert wird. Der damalige CSU-Chef Horst Seehofer, der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, der frühere Wirtschaftsminister Peter Altmaier: Immer wieder suchen sie den Kontakt in den Kreml und zu Putin persönlich. Inszenieren sich als Botschafter des Handels und der Diplomatie im Osten. Bayerns Ministerpräsident und Seehofer-Nachfolger Markus Söder will sogar noch kurz vor Kriegsausbruch unbedingt die geplante Pipeline retten.
"Wandel durch Handel" heißt die fortgesetzte Devise. Dass dieser Handel vor allem Russlands Position stärkt, Europa spaltet und die mächtige deutsche Gaslobby hofiert, stört die wenigsten. Statt Russland wandelt sich Deutschland.
Befeuert von der Auslandspropaganda und zum Teil gesteuert aus der kremlnahen "Internet Research Agency" fluten prorussische Kommentatoren die Internetforen der Nachrichtenseiten. Die Narrative des Kremls docken an Rechtsextremisten an, an Verschwörungsideologen, an Anti-Imperialisten und Corona-Leugner. Sie sind unideologisch, aber vertiefen ohnehin bestehende gesellschaftliche Konflikte. Die Antwort darauf bleibt verhalten.
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Putin – oder besser: eine bestimmte Projektion von ihm – bedient einfach zu gut die Interessen und Eigenlogiken deutscher Parteien. Und die lassen sich auch nicht von bislang kaum vorstellbaren Grenzüberschreitungen beeindrucken. Als 2019 ein russischer Geheimdienst-Attentäter in Berlin einen ehemaligen georgischen Kämpfer ermordet, weist Deutschland zwei Diplomaten aus und will ansonsten erst mal die Ermittlungen abwarten. Als das Urteil gesprochen ist, müssen zwei weitere Diplomaten das Land verlassen. Weitere konkrete Folgen des staatlichen Auftragsmords in der deutschen Hauptstadt sind zumindest nicht öffentlich bekannt.
Russland bleibt also trotz Sanktionen verlässlicher Handelspartner – bis seine Panzer in die Ukraine rollen. Es sind die Folgen auch einer deutschen Politik, die Sicherheitsrisiken beständig ausblendete und hintenanstellte. Die weitestgehend wegsah, als Putins Geheimdienste mordeten. Als der Kreml nach der Energieversorgung griff. Als befreundete Staaten mit aktiven Maßnahmen in schwere Krisen gestürzt wurden. Daran kann heute kein ernsthafter Zweifel mehr bestehen.
- Eigene Recherchen
- Quellen zu Geheimdienstoperationen: siehe Tabelle
- Telefoninterviews mit John Sipher und Claudia Kemfert, weitere Hintergrundgespräche
- Defence Research Agency: "Russia's Energy Policy: Security Dimensions and Russi's Reliability as an Energy Supplier", 2006
- Unger, Craig: "American Kompromat", 2021, Penguin Random House
- Belton, Catherine: "Putin's People", 2020, HarperCollins
- Galeotti, Mark: "The Vory", 2018, Yale University Press
- Politovskaja, Anna: "In Putins Russland", 2006, DuMont Buchverlag
- Deutscher Bundestag: Wortprotokoll der Rede Wladimir Putins, 25. September 2001
- Center for Strategic & International Studies: "Exploiting Chaos: Russia in Libya" (engl.)
- Meister, Stefan: "Russische Geopolitik in einer polyzentrischen Welt", In: Politikum, 5. Jahrgang, Sommer 2019
- The Atlantic: "There is no liberal world order" (engl.)
- US-Kongress: "Putin's Asymetric Assault on Democracy in Russia and Europe: Implications for U.S. National Security" (engl.)
- Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz: "Im Fokus: Eine Frage der nationalen Sicherheit"
- Handelsblatt, Frank-Walter Steinmeier: "Energie-Außenpolitik ist Friedenspolitik"
- Spiegel: "Putin ist nicht verrückt - er handelt ideologisch konsequent"
- Reuters: "Vladimir Putin's most effective weapon is gas- but not the poison kind" (engl.)
- Reuters: "FACTBOX: Russian oil and gas as political weapon?" (engl.)
- Bundesamt für Verfassungsschutz: Jahresberichte 2006-2020
- BBC: "Viktor Yushchenko: Ukraine's ex-president on being poisoned" (engl.)
- ZDF: "Putin gegen die Welt"
- Lubyanka Files: "Some Aspects of Training the Operative for Psychological Influence of Foreigners During Cultivation" (engl.)
- Lubyanka Files: "Confidential Contacts Manual" (engl.)
- Bild: "Was Schröders Stasi-Akte über den Altkanzler verrät"
- New Yorker: "Putin's Power Play" (engl.)
- Politico: "Putin's useful German idiots" (engl.)
- FAZ: "Gazprom, ein Sündenfall und die Folgen"
- Europäisches Parlament: "The Nord Stream Gas Pipeline Project and its Strategic Implications" (engl.)
- Europäisches Parlament: "A cold winter to come? The EU seeks alternatives to Russian gas" (engl.)
- Europäische Kommission: "Kartellrecht: Kommission erlegt Gazprom bindende Verpflichtungen auf"
- Spiegel: "Wie Europa im Kalten Krieg von russischem Gas abhängig wurde" (Bezahlschranke)
- The New Statesman: "Russia cannot afford to lose, so we need a victory" (engl.)
- Internationale Politik: "Europas nächster Kalter Krieg"
- taz: "Keine neue Männerfreundschaft"
- Deutsche Welle: "Merkel und Putin wollen Irritationen künftig vermeiden"