Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Sind wir Deutschen wirklich so naiv?
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
was für eine Woche! Vor wenigen Tagen hätten es vermutlich die wenigsten von Ihnen (und ich natürlich auch nicht) für möglich gehalten, dass Deutschland tatsächlich Waffen aus eigenen Beständen an die Ukraine liefert. Noch utopischer erschien es, dass die Regierung von jetzt auf gleich 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr lockermachen will – und der Bundestag sich diesem Vorhaben wohl kaum grundsätzlich verweigern wird.
Deutschland erlebt, wie Europa und die gesamte Welt, in der Tat Veränderungen von historischem Ausmaß. Darüber, was sie konkret für uns alle bedeuten, habe ich mit meinen Kollegen Miriam Hollstein und Sebastian Späth in unserem aktuellen Podcast diskutiert. Hören Sie doch mal rein:
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Es gibt nun also eine doppelte Aufrüstung: Deutschland stärkt kurzfristig das militärische Potenzial der Ukraine, damit sie sich etwas besser gegen den Aggressor Russland wehren kann. Mittel- bis langfristig trägt die Bundesrepublik deutlich mehr als bislang dazu bei, das Abschreckungspotenzial der Nato zu erhöhen.
Diese Kehrtwenden sind ein weiteres Beispiel dafür, dass Politik in der Regel nur dann zu radikalen Schritten in der Lage ist, wenn der Druck zu groß wird. Das lässt sich durchaus negativ interpretieren. Es hat aber auch eine positive Seite: Deutliche Veränderungen gibt es nicht um ihrer selbst willen. Zumindest nicht in demokratischen Staaten.
Zweifellos stellen sich nach der Schubumkehr in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik viele Fragen: Hätte Deutschland angesichts der zunehmenden Spannungen in der Welt nicht viel früher mit einer Modernisierung der Bundeswehr beginnen müssen? War es nicht schrecklich naiv, weltweit vor allem als militärischer Moralapostel aufzutreten? Gehörte nicht sogar eine ordentliche Portion Chuzpe dazu, sich zu weigern, international mehr Verantwortung zu übernehmen und finanzielle Zusagen gegenüber Nato-Partnern als verbindlich zu betrachten?
Ja, ja und ja. So ließe sich darauf antworten. Doch es wäre eine unvollständige Antwort. Den Tatsachen gerechter wird sie nur durch ein "aber". Wie groß das ist, möge jeder selbst beurteilen.
Meine Einschätzung: Klar, wir haben uns manches Mal auch hinter dem Verweis auf unsere Geschichte versteckt. Das war bequem, aber deshalb nicht gleich völlig unangemessen. Wenn bereits Anfang der Neunzigerjahre deutsche Soldaten etwa im Irak gekämpft hätten, wäre der globale Aufschrei wahrscheinlich groß gewesen.
Es ist auch nicht so, dass sich in den vergangenen 30 Jahren nichts getan hätte. Natürlich haben wir nach dem Ende des Kalten Krieges gern die Friedensdividende kassiert, wurden zu einem militärischen Zwerg im Körper eines ökonomischen Riesen. Aber nicht nur bei uns war der Glaube an ein dauerhaftes Ende der Konfrontation zwischen Ost und West sehr verbreitet.
Hinzu kommt, dass wir bereits wenige Jahre später zunehmend international Verantwortung übernommen haben. Die deutsche Beteiligung an den Luftangriffen der Nato im Kosovo-Krieg wurde zum ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg – und es gab dafür nicht einmal ein Mandat der Vereinten Nationen. Zweieinhalb Jahre später, als nach dem 11. September deutsche Soldaten nach Afghanistan geschickt wurden, stellte der damalige Kanzler Gerhard Schröder sogar die Vertrauensfrage, um im Bundestag eine rot-grüne Mehrheit dafür zu bekommen.
Und ganz so knauserig wie oft unterstellt war Deutschland mit seinen Verteidigungsetats zuletzt auch nicht mehr. Das jährliche Plus glich zwar lange mehr oder weniger nur die Inflation aus. Doch in den vergangenen fünf Jahren wuchs der Haushalt deutlich: von 37 auf mehr als 50 Milliarden Euro. Ob nun tatsächlich rasch ein "Sondervermögen" in Höhe von 100 Milliarden Realität wird, muss sich weisen. Es gibt nicht wenige bei SPD und Grünen, die daran ganz schön zu schlucken haben.
Unabhängig davon wird es mit den vielen zusätzlichen Milliarden Euro, die nun fließen sollen, nicht getan sein. Es hat der Bundeswehr in der Vergangenheit nicht nur an finanziellen Mitteln gefehlt, sondern auch am politischen und internen Willen zur Entbürokratisierung. Soldaten können lebhaft von einem Job erzählen, der eher einer Verwaltungs- als einer Verteidigungstätigkeit gleicht.
Und wenn deutsche Bürokratie eins nicht ist, dann pragmatisch. Auch wenn es eine fast 20 Jahre alte Geschichte ist: In Afghanistan musste die Bundeswehr unter anderem Militärfahrzeuge stilllegen, weil sie den deutschen TÜV- und ASU-Normen nicht mehr vollumfänglich genügten.
Mag sein, dass es ein solches Absurdistan heute nicht mehr gäbe. Ganz sicher bin ich mir allerdings nicht.
Am Montag schreibt an dieser Stelle meine Kollegin Annika Leister für Sie. Ich wünsche Ihnen ein möglichst friedliches Wochenende.
Ihr
Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell
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Mit Material von dpa.
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