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Ukraine-Krieg | Warum kneift Scholz vor Putin? "Eine historische Schande"


Tagesanbruch
Die Wut wächst

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.02.2022Lesedauer: 5 Min.
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Olaf Scholz am 15. Februar am Grab des unbekannten Soldaten in Moskau.Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz am 15. Februar am Grab des unbekannten Soldaten in Moskau. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wir erleben dramatische Tage. Die Bilder aus Kiew sind schlimm, das Versagen des Westens ist es auch. Darum geht es in unserem heutigen Podcast, in dem Sebastian Späth und ich gemeinsam mit unserem USA-Korrespondenten Bastian Brauns Antworten auf eine brisante Frage suchen. Das sollten Sie selbst dann hören, wenn Sie schon viel über das Drama in der Ukraine gelesen, gesehen und gehört haben:

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Die Empörung über Putins verbrecherischen Angriffskrieg wächst – und langsam kommen auch die demokratischen Regierungschefs in Westeuropa auf den Trichter, dass sie ihre naive Anbiederungspolitik vollständig beenden müssen, wenn sie den Terroristen im Kreml stoppen und das Vertrauen ihrer eigenen Bevölkerungen nicht verlieren wollen.

Am Verhalten des Kanzleramts ist dieser Prozess in den vergangenen Stunden exemplarisch zu beobachten gewesen. Nachdem sich Olaf Scholz zunächst von SPD-Parteichefin Saskia Esken für die "beeindruckende Krisendiplomatie" bei seinem Besuch in Moskau hatte feiern lassen, war seine Erschütterung nach dem nächtlichen Angriff auf die Ukraine umso größer: Putin hatte ihm glatt ins Gesicht gelogen. Von wegen, er wolle keinen Krieg.

Scholz hielt eine betroffene Fernsehansprache – nur um wenige Stunden später im Kreis der EU-Chefs die härtesten Sanktionen gegen das Kremlregime zu verhindern: kein Rauswurf Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift. Kein vollständiger Ausschluss Russlands aus dem Europarat, sondern nur ein Entzug der Repräsentationsrechte. Keine endgültige Absage an die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2. Kein Stopp der Gaskäufe durch die bestehende Röhre Nord Stream 1, obwohl sich Deutschland vorübergehend auch mit amerikanischem Flüssiggas versorgen könnte.

Fast alle EU-Staaten plädierten an diesem historischen Donnerstagabend für mehr Härte – doch Deutschland stellte sich quer, gemeinsam mit Italien, Österreich, Ungarn und Zypern. Die Tragweite dieser Entscheidung ist kaum zu überschätzen: Deutschland sieht in Zypern einen engeren Partner als in Polen, den baltischen und den meisten anderen osteuropäischen Staaten, die nun ebenfalls Putins Aggressionen fürchten. Olaf Scholz hat es geschafft, in einer Nacht so viel Vertrauen zu zerstören wie andere Politiker in Jahrzehnten nicht. Es ist eine historische Schande.

Das sehen nicht nur Menschen so, die kein SPD-Parteibuch haben. Auch in der sozialdemokratischen Partei regt sich Wut über die lasche Haltung des Kanzlers. Kein Wunder. Hinterher ist man ja immer schlauer – allerdings nur, wenn man bereit ist, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Jahrelang hat der Westen Putins Feldzüge und Kriegsverbrechen hingenommen: in Tschetschenien. In Georgien. In der Ostukraine. Auf der Krim. In Syrien. In Libyen. Im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt. In Belarus. In Kasachstan. Man hat sich halbherzig empört, aber man hat ihn machen lassen und sich ansonsten die lukrativen Energiegeschäfte durch eine weltfremde Versöhnungsromantik schöngeredet, über die sogar Russen den Kopf schütteln.

Derweil machte es sich Moskaus fünfte Kolonne auf Talkshow-Sesseln bequem und durfte zu bester Sendezeit Herrn Putin verteidigen, der doch nur ein bisschen Respekt verlange, und überhaupt sei ja die Nato an allem schuld: So plapperten sie daher, ob sie nun Sahra Wagenknecht, Ralf Stegner oder Gabriele Krone-Schmalz heißen. Wochenlang schwurbelten linke Politiker und Publizisten angesichts des russischen Truppenaufmarschs an der ukrainischen Grenze herum, der Kanzler traute sich lange Zeit noch nicht einmal, den Begriff Nord Stream 2 überhaupt in den Mund zu nehmen. Man könnte über dieses absurde Schauspiel lachen, hätte es nicht so gravierende Folgen.

Die deutsche Naivität hilft niemandem, am wenigsten den Russen, die selbstverständlich nicht geschlossen hinter Putin stehen. Viele wünschen sich ein besseres Leben, einen Rechtsstaat und Politiker, die weder brutal noch korrupt sind. Millionen Russen haben in Alexej Nawalnys Enthüllungsvideos gesehen, wie schamlos sich Putin und dessen Komplizen bereicherten. Deshalb ist Nawalny für den Autokraten eine so große Gefahr, deshalb wurde er weggesperrt.

In seiner Hetzrede im Fernsehen hat Putin klargemacht, was er in Wirklichkeit will: ein russisches Großreich in den Grenzen von 1914, das die heutigen Staaten Ukraine, Weißrussland, Georgien, Moldau, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan einschließt, womöglich auch Estland, Lettland, Litauen und Teile Polens. Das ist sein Ziel, und er verfolgt es mit Brutalität, Lügen und List. Gestern hieß es aus dem Kreml, man sei zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit – wenn sich die ukrainische Armee ergebe und man sich auf belarussischem Boden treffe, wo längst Putins Schergen das Kommando übernommen haben. Was soll man dazu noch sagen?

Durch seine jahrelange Kumpelpolitik hat der Westen Putins Regime erst so stark gemacht. Nun sehen die Politiker in Berlin, Brüssel und Paris mit Entsetzen, welches Monster sie da herangezüchtet haben. Sanktionen seien schnuppe, höhnt der Kreml, man habe 639 Milliarden US-Dollar Rücklagen – jahrelangen Gas- und Ölverkäufen sei Dank. Auch mit seiner neuen Hyperschallrakete brüstet sich Putin, mit der sich angeblich jeder militärische Schutzschild ausschalten lässt.

"Putin will die Nato zerstören", sagt der Außenpolitik-Experte Ralf Fücks im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke. "Er droht dem Westen unverblümt mit einem Atomkrieg, wenn wir ihm in die Quere kommen sollten. Das müsste doch einen Aufschrei in Deutschland auslösen. Es passiert aber nichts. Wir haben uns in einer Scheinwelt ohne Gegner und Konflikte eingerichtet."

Das ist leider wahr. Die Regierungen unter Angela Merkels Führung haben die Bundeswehr zu einer Mickertruppe kleingespart und mithilfe des Lobbyisten Gerhard Schröder Deutschlands Energieversorgung in die Hände eines Despoten gelegt. Auch deshalb sind unsere Sicherheit, unsere Freiheit und unsere Demokratie heute bedroht.

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Die Ampelkoalition steht vor der riesigen Aufgabe, diese Fehler zu korrigieren. Das wird Jahre dauern und hohe Kosten verursachen. Andere Dinge werden dann nicht gehen; man will jetzt nicht in der Haut von Finanzminister Christian Lindner stecken. Aber es braucht mehr Geld für die Verteidigung und mehr sicherheitspolitischen Zusammenhalt in der EU, wenn nicht irgendwann auch wir in die Kanonenrohre des Kremlherrschers blicken wollen.

Ob Sie mir zustimmen oder nicht, entscheiden Sie. So oder so habe ich Ihnen hoffentlich Stoff zum Nachdenken gegeben. Dazu kann es heute natürlich nur einen ganz bestimmten Musiktipp geben. Ich wünsche uns allen und vor allem den Menschen in der Ukraine und in Russland Frieden.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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