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Die USA beginnen, die Demokratie abzuschaffen


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Tagesanbruch
Sie machen sich bereit für den Putsch

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 12.01.2022Lesedauer: 6 Min.
Polizisten schützen den Kongress in Washington während einer Demonstration von Trump-Anhängern.Vergrößern des Bildes
Polizisten schützen den Kongress in Washington während einer Demonstration von Trump-Anhängern. (Quelle: imago-images-bilder)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

der Präsident der Vereinigten Staaten hat zurzeit gar nicht so viel zu tun. Gut, er wendet sich regelmäßig an die, die ihn gewählt haben, und kümmert sich um den Ausbau der digitalen Infrastruktur – insbesondere den Aufbau eines neuen sozialen Netzwerks, das den ungehinderten Meinungsaustausch ohne Maulkörbe und Zensur garantieren soll. Sein zentrales Anliegen allerdings ist es, die amerikanische Demokratie vor der Unterwanderung durch politische Extremisten zu schützen und diese zu bekämpfen, wo es nur geht. Nie wieder soll es möglich sein, das legitime Ergebnis einer Präsidentschaftswahl infrage zu stellen und über den Haufen zu werfen wie bei der Wahl im November 2020. Es ist keine Zeit zu verlieren. Bis zu den Kongresswahlen im Herbst ist es schließlich nicht mehr lange hin, und danach beginnt der Kampf ums Weiße Haus aufs Neue. Jetzt allerdings ist es noch vergleichsweise still um den legitimen Regierungschef der USA, um Präsident Donald Trump.

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Nein, es ist keine technische Panne passiert, die Ihnen heute Morgen versehentlich eine alte Ausgabe des Tagesanbruchs anzeigt. Wir befinden uns tatsächlich im Januar 2022. Zugleich befinden wir uns allerdings in der Welt der republikanischen Wähler und der Gefolgsleute Trumps, und in dieser Welt ist der Donald noch immer der wirklich gewählte Präsident – und nicht die linksradikale Mischpoke, die Washington durch Wahlbetrug in ihre Klauen bekommen hat. Für Sie und mich mag das verrückt und realitätsfern klingen. Dennoch haben wir uns nicht in die Köpfe einer kleinen Randgruppe radikalisierter Spinner begeben. Mehr als 70 Prozent der republikanischen Wähler glauben tatsächlich, dass "Sleepy Joe" und die demokratische Partei die Wahlen verloren und ihrem Helden Trump die Präsidentschaft gestohlen haben. Das sind nicht ein paar Hundert Leute, das sind auch nicht ein paar Tausend. Es sind Millionen.

Diese verkehrte Welt führte gestern zu intensiver Aktivität in der echten. Der wirkliche Präsident der USA, der natürlich Joe Biden heißt, ist gemeinsam mit der wirklichen Vizepräsidentin, Kamala Harris, nach Georgia gereist, einem der am härtesten umkämpften Schauplätze des Wahlkrimis von 2020. Nur um Haaresbreite, mit 11.779 Stimmen Vorsprung, konnte Joe Biden den Bundesstaat damals gewinnen. In den dramatischen Tagen vor der endgültigen Feststellung des Ergebnisses hatte Trump den republikanischen Wahlaufseher Georgias ans Telefon zitiert und ihn aufgefordert, das Wahlergebnis passend zu machen: "Ich will 11.780 Stimmen finden, eine mehr". Der Mann aus Georgia weigerte sich. Ähnlich knapp und dramatisch ging es in einer ganzen Serie von US-Bundesstaaten zu, und auch dort wollten Trump und seine Leute das Wahlergebnis kippen. Damals scheiterten sie am Widerstand der Amtsträger vor Ort, auch Republikanern. Sonst hieße der Präsident jetzt tatsächlich Donald Trump.

Mittlerweile haben die Verlierer ihre Lehren aus der Niederlage gezogen. Beim nächsten Mal wollen sie gewinnen – um jeden Preis. Die Schlacht darum, wer in welchem Bundesstaat über die Echtheit der nächsten Präsidentschaftswahlen entscheiden wird, ist voll entbrannt. Republikanische Hardliner bringen ihre Kandidaten für die entscheidenden Wahlleiter-Posten in Stellung. Zugleich tobt die Auseinandersetzung darum, auf welche Weise man überhaupt wählen gehen darf: Republikaner versuchen, die Briefwahl zu erschweren, Demokraten wollen sie möglichst unkompliziert ermöglichen. Letztere verlangen außerdem genügend öffentliche Kästen, in die man seinen Wahlzettel einwerfen kann. Das Gegenteil macht Georgia vor, wo die republikanische Mehrheit im Landesparlament die Zahl dieser Boxen inzwischen per Gesetz begrenzt hat: auf einen einsamen Kasten pro hunderttausend Einwohner. Das kann wahlentscheidend sein, denn anders als in Deutschland findet die Wahl an einem Arbeitstag statt, an dem man sich nach Feierabend für Stunden in die Schlange stellen muss – unmöglich, wenn man zu den sozial Schwachen gehört, die sich mit mehreren Jobs über Wasser halten. Und dann gibt es noch das berüchtigte "Gerrymandering", das kunstvolle Filetieren von Wahlkreisen, um die Stimmen der eigenen Anhänger höher zu gewichten als die der gegnerischen Partei.

Joe Biden und Kamala Harris wollen der Kampagne für den ungehinderten Zugang zur Wahlurne neuen Schwung verleihen. Deshalb sind sie nach Georgia gereist. Dass es die Kampagne überhaupt geben muss, ist ein Alarmzeichen für die älteste Demokratie unserer Zeit. Denn das allgemeine, gleiche, freie Wahlrecht wird nur auf dem Papier von allen Amerikanern akzeptiert. Wenn es um die praktische Ausübung geht, ist der Konsens zwischen den politischen Lagern passé – wie bei allen anderen grundlegenden Fragen auch. Ob man in der Pandemie eine Maske trägt oder darüber vor Wut schäumt, hängt von der Zugehörigkeit zum politischen Lager ab. Ob man möchte, dass viele oder lieber möglichst wenige Menschen Zugang zur Wahlurne bekommen, ist auch nur noch eine Frage von links oder rechts. Für Demokraten verzerrt das bestehende System das Wahlergebnis, während Republikaner von gefälschten Stimmzetteln und Wahlbetrug schwadronieren. Die einzige Übereinstimmung: Beides untergräbt die Bereitschaft, die eigene Niederlage zu akzeptieren. Warum auch, wenn das Wahlergebnis ja angeblich sowieso nicht stimmt.

In den USA bahnt sich deshalb ein Szenario an, das bis vor Kurzem als Dystopie gegolten hätte: Ins Weiße Haus könnte am Ende einziehen, wer seinen Wahlsieg am skrupellosesten behauptet und seine Leute rechtzeitig in die richtigen Institutionen geschleust hat – dorthin, wo die Wahlergebnisse in den Bundesstaaten beglaubigt werden. Auf die tatsächliche Mehrheit der Stimmen kommt es dann nicht mehr unbedingt an. Nicht nur Donald Trump, sondern auch fast die komplette republikanische Partei stellt sich inzwischen geschlossen hinter die Mär von der "Big Lie", die Joe Bidens Wahlsieg zur großen Lüge umetikettiert. Als sich in der vergangenen Woche der Angriff von Trump-Anhängern auf das Kapitol in Washington jährte, blieben republikanische Vertreter der Gedenkfeier fast vollständig fern. Denn wer sich auch nur geringfügig gegen die Parteilinie stellt, muss sich anschließend in den rechten Fernsehsendern wie "Fox News" absurden Reue-Ritualen unterziehen, die an ein autoritäres Regime erinnern (siehe hier). Die wenigen Abweichler an der Parteispitze haben sich inzwischen entweder aus der Politik zurückgezogen, wollen nicht zur Wiederwahl antreten oder leben mit Morddrohungen.

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Für uns in der alten Welt bedeutet das: Die Uhr tickt. Europa muss schleunigst selbstständig und unabhängig von diesen Typen auf der anderen Seite des großen Teiches werden – politisch, aber auch militärisch. Es ist nicht ausgemacht, dass die demokratischen Institutionen der USA nach den nächsten Wahlen noch funktionsfähig sind. Außerdem müssen wir die Augen auch daheim offen halten. Denn Rechtspopulisten in ganz Europa schauen nach Amerika. Dort sehen sie ein Skript. Und sie machen sich Notizen.


Scholz muss antworten

Dreimal im Jahr muss der Regierungschef den Abgeordneten im Bundestag Rede und Antwort stehen: Diese Regel hatte die SPD Angela Merkel abgepresst, um die Kanzlerin zu stellen. Nun stellt die SPD selbst den Kanzler, also muss Olaf Scholz in den Ring: Um 13 Uhr stellt er sich eine Stunde lang den Fragen der Parlamentarier – und muss wohl vor allem seinen wackeligen Plan für die allgemeine Impfpflicht verteidigen. Die Befragung ist der Auftakt zu einer dreitägigen Generaldebatte: Da geht es um den Koalitionsvertrag mit Schwerpunkt auf den Ressorts Inneres, Justiz, Außen und Umwelt. Morgen und am Freitag sind dann Wirtschaft und Klimaschutz, Bildung, Gesundheit, Finanzen und Verteidigung dran.


Weg mit dem Sprachmüll

Eine Jury aus Sprachwissenschaftlern kürt heute das "Unwort des Jahres 2021". So will sie "undifferenzierten, verschleiernden oder diffamierenden öffentlichen Sprachgebrauch" brandmarken. Kein Wunder, dass die meisten Vorschläge sich um Corona drehen: von "Impfmassaker" bis "Querdenker".


Danke, Ali!

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Was lesen?

Robert Habeck hat sich eine gigantische Aufgabe vorgenommen: Mit einem Sofortprogramm will er den Klimaschutz nach vorn katapultieren und sich dabei weder von jammernden Bürgern noch von widerspenstigen Ministerpräsidenten aufhalten lassen. Unser Korrespondent Fabian Reinbold analysiert, ob das klappen kann.


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Das könnte eine medizinische Revolution auslösen: Amerikanische Ärzte haben erstmals einem todkranken Patienten ein genverändertes Schweineherz transplantiert. Kann so das Problem fehlender Spenderorgane gelöst werden? Bei den Kollegen der "Tagesschau" erfahren wir mehr.


Genesen, geimpft, geboostert: Wer darf jetzt was? Eigentlich kann es nicht so schwer sein, klare Regeln zu machen. Meine Kollegen Jan Mölleken und Sebastian Späth sind jedoch auf hanebüchene Vorschriften gestoßen.


Warum sind die Infektionszahlen in Gegenden wie Berlin-Neukölln so hoch? Unser Reporter Jannik Läkamp hat sich vor Ort umgesehen.


Was amüsiert mich?

Mein Kollege Christian Engel war einkaufen.

Ich wünsche Ihnen einen federleichten Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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