Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Endlich Klarheit
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
erinnern Sie sich an das erste Date mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner? Oder an ein Treffen mit einem Schwarm, dem sie lange entgegengefiebert haben? Oder an ein Blind Date, bei dem Sie die Hoffnung hatten, die Partnerin oder den Partner fürs Leben zu treffen? Vielleicht sogar beim Speeddating, um die Chance darauf zu erhöhen?
Die Nervosität steigt, Ihr Herz schlägt bis zum Hals, die Hände werden feucht.
Sie treffen sich im Café um die Ecke, wollen sich von Ihrer besten Seite zeigen, bloß nichts Falsches sagen und können vor Aufregung die Kaffeetasse kaum halten.
Wahrscheinlich nicht.
Embed
Aber nachdem das eingangs erwähnte Speeddating sich in den vergangenen Jahren weiterentwickelt hat und neben der Partnersuche mittlerweile auch für die Vermittlung von Arbeitsplätzen, einer Wohnung oder zur Diskussion bei Fachmessen angewendet wird, veranstalteten die Parteien gestern Nachmittag und Abend in der Hauptstadt das erste Speeddating mit dem mittelfristigen Ziel einer Regierungsbildung.
Zunächst einmal wollen die Parteien herausfinden, ob sie konkrete Sondierungen oder gleich Verhandlungen für eine Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen aufnehmen – oder lieber für ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen. Ein absolutes Novum in der Geschichte der Bundesrepublik ist das allemal.
Und das ging so:
Zuerst trafen sich gestern die FDP und die SPD um 15.30 Uhr für zwei Stunden in einem Co-Working-Space in der Invalidenstraße in Berlin Mitte. Um 17.53 Uhr trat SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil draußen vor die Mikrofone und verkündete: "Das waren sehr konstruktive und sachliche Gespräche."
Mmh. Nach Liebe auf den ersten Blick klingt das erst mal nicht.
Bei FDP-Generalsekretär Volker Wissing aber zumindest nach vorsichtiger Annäherung: "Klar ist, dass es Klippen gibt. Aber klar ist auch, dass wir eine Reformregierung bilden wollen, die Deutschland nach vorne bringt." Immerhin.
Ebenfalls in der Invalidenstraße traf das Sondierungsteam der SPD um 18.30 Uhr die Grünen.
Gegen 20.30 Uhr sagte Grünen-Chef Robert Habeck: "Wir haben bei der SPD eine Bereitschaft gefunden und festgestellt, tatsächlich noch einmal neu zu starten, eine Dynamik zu entfachen."
Das klingt schon eher nach Liebe. Ist aber auch nicht ganz überraschend aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit.
Die FDP sondierte um 18.30 Uhr am EUREF-Campus (Europäisches Energieforum) weiter. Diesmal mit der Union. Der Campus liegt 24 Minuten mit dem Auto entfernt von der Invalidenstraße.
Um 21.16 Uhr traten die Generalsekretäre Paul Ziemiak (CDU), Volker Wissing (FDP) und Markus Blume (CSU) vor die Mikrofone. Wissing: "Wir haben inhaltlich wenig Klippen." Blume: "Das war ein guter Abend, ein guter Start, der Lust auf mehr macht."
Das klingt schon fast enthusiastisch. Auch diese Aussage darf man allerdings getrost den Überschneidungen in der Vergangenheit sowie der schwierigen Situation der Union zuschreiben.
Wenig überraschend also: Am besten können auf der einen Seite Grüne und SPD miteinander, auf der anderen FDP und Union.
Problem Nummer eins: Für die Regierung braucht es ein Dreierbündnis. Es müssen sich also entweder SPD und Grüne mit der FDP oder FDP und Union mit den Grünen annähern.
Problem Nummer zwei: Beim Speeddating gibt es wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge einen Haken. Die inneren Werte fallen bei den kurzen Begegnungen ganz offensichtlich hinten runter. Studien haben ergeben, dass die Inhalte des Gesprächs gar nicht wirklich zählten.
Das wäre bitter beim Parteien-Dating – schließlich geht es darum, wie in den nächsten vier Jahren die größten Probleme in Deutschland angepackt werden. Und davon gibt es schließlich reichlich. Andererseits kann man auch das noch bei den nächsten Gesprächen klären.
Was bleibt nun nach diesem Speeddating-Sonntag? Wird es nun eine Ampelkoalition geben? Oder doch Jamaika? Oder am Ende sogar eine neue Große Koalition, weil Grüne und FDP letztlich doch zu weit auseinanderliegen? Und was ändert sich dann überhaupt? Kommen die Grünen mit ihrem Tempolimit durch? Kommt denn nun der Mindestlohn von 12 Euro? Fällt der Soli weg? Und wann soll die neue Regierung überhaupt stehen? Dauert das wieder 172 Tage wie vor vier Jahren?
Zugegeben: Die meisten der Fragen sind noch offen, aber acht Tage nach der Bundestagswahl gibt es doch Klarheit über diverse Punkte. Zum Beispiel diese:
Klarheit über den wichtigsten Wert: "Ich bitte um Verständnis, dass wir vereinbart haben, dass die konkreten Gesprächsinhalte vertraulich bleiben", so Klingbeil nach dem Gespräch mit der FDP. Später betonen alle, die vor die Medien treten, ebenfalls die Vertraulichkeit. Auch die Aussage des Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, zeigt das: "Wir wollen gemeinsam drinnen sprechen statt alleine vor den Mikros."
Eigentlich sind das Phrasen. Über kurz oder lang sickern in der Regel ohnehin Gesprächsinhalte durch. Allein bei den Bund-Länder-Gipfeln in der Hochphase der Corona-Krise gaben beteiligte Ministerpräsidenten oder Staatssekretäre so viele Informationen teilweise live an Medien weiter, dass alle längst Bescheid wussten, bevor es eine Pressekonferenz gab.
In diesem Fall könnte das mit der Vertraulichkeit besser funktionieren. Zumindest vereinbarten auch Grüne und FDP bei ihren Sondierungen in der vergangenen Woche Stillschweigen – und tatsächlich sickerten keine Informationen durch.
Viel wichtiger als ein Koalitionsvertrag sind in einer Regierung Vertrauen und Loyalität. Das scheint den Sondierern klar zu sein. Sollte eine Partei das Vertrauen mit Füßen treten, könnte das unmittelbare Konsequenzen für den Ausgang der Gespräche haben. Das dürfte insbesondere für die Union eine Herausforderung werden, die durchaus für Indiskretionen bekannt ist und in Anbetracht der Wahlniederlage nicht unbedingt in Harmonie schwelgt.
Klarheit über die Stimmung im Land: Laut ZDF-Politbarometer sprechen sich 59 Prozent der Deutschen für eine Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP aus. Nur 24 Prozent sind demnach für ein Jamaika-Bündnis von Union, Grünen und FDP. Lediglich 22 Prozent wünschen sich eine Fortsetzung der Großen Koalition. Wie eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen ergab, möchten 76 Prozent SPD-Kandidat Olaf Scholz als nächsten Bundeskanzler, nur 13 Prozent Armin Laschet. Ein klares Votum für eine von Scholz geführte Ampelkoalition.
Klarheit über die Ambitionen der Königsmacher: Die Annäherungen von Grünen und FDP in den Tagen nach der Wahl waren zaghaft, weil beide Parteien inhaltlich eigentlich kilometerweit auseinanderliegen und sich eigentlich auch nicht besonders mögen. Mittlerweile ist klar: Ein Scheitern der Gespräche ist eigentlich keine Option. Für beide. Das belegte das Selfie vom ersten Treffen. Das unterstreicht nun der Satz von Grünen-Chef Robert Habeck vom Parteitag am Wochenende: "Wenn wir uns nicht komplett dämlich anstellen, werden wir in den nächsten vier Jahren diese Regierung nicht nur mittragen, sondern maßgeblich mitbestimmen."
FDP-Chef Christian Lindner sagte in der "Bild am Sonntag": "Wir fühlen uns beauftragt, einen Erneuerungsimpuls zu setzen." Das geht nur in der Regierung. Grüne und FDP wollen unbedingt regieren. Das macht eine Große Koalition höchst unwahrscheinlich, obwohl die für die SPD gar keine abwegige Variante wäre – sie wäre schließlich von den Sozialdemokraten geführt.
Klarheit über Laschet: Trotz des üblen Wahlergebnisses hat Armin Laschet die Woche danach als Parteichef überstanden. Unter anderem, weil er das CDU-Präsidium davon überzeugt hat, dass eine Jamaika-Koalition aufgrund seines guten Verhältnisses zu Lindner möglich sei. Für Laschet heißt es nun: Kanzler oder nix. Gelingt ihm eine Regierungsbildung mit Grünen und FDP, würde sich Laschet ins Kanzleramt retten. Bei den Sondierungsgesprächen hat er dafür Unterstützer wie Volker Bouffier oder Daniel Günther dabei. Dafür aber auch Gegner wie Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff sowie die CSU-Spitze. Die "passen auf", dass Laschet nicht das Tafelsilber der Union verscherbelt, um seinen Kopf zu retten.
Rettet er den nicht, ist seine politische Karriere wohl beendet. Die Gegner wetzen bereits die Messer. Tilman Kuban, Chef der Jungen Union, sagte der "Welt am Sonntag": "In der CDU darf jetzt kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Wir müssen uns inhaltlich und personell neu ausrichten." Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erklärte, es habe Fehler im Wahlkampf gegeben und niemand könne leugnen, dass "unser Spitzenkandidat nicht richtig gezogen hat". Präsidiumsmitglied Norbert Röttgen fordert ebenfalls eine Neuaufstellung der CDU. Es reiche aber nicht, nur eine Person auszuwechseln, sagte Röttgen dem "Tagesspiegel" mit Blick auf Laschet.
Klarheit über den Zeitplan: Alle beteiligten Parteien streben eine Regierungsbildung noch vor Weihnachten an – und dementsprechend einen schnellstmöglichen Start von konkreten Sondierungen und letztlich Koalitionsverhandlungen. Vielleicht schon nach dem Treffen der Grünen mit der Union am Dienstag? "Wir werden uns mit der Union treffen und dann alles Weitere entscheiden", sagte Grünen-Chefin Annalena Baerbock gestern Abend. Das macht Hoffnung auf eine zeitnahe Lösung. Auch Wissing erklärte am Abend: "Wir haben kein Interesse an irgendeiner Hängepartie."
Fazit: Die unionsinternen Scharmützel, die Diskussionen um Laschet sowie die Stimmung im Land würden es der FDP und den Grünen schwer machen, ein Jamaika-Bündnis zu schmieden. Favorit ist dementsprechend Stand jetzt eine Ampelkoalition. Entschieden ist das aber noch nicht.
Beim Speeddating schreiben übrigens beide Beteiligten normalerweise hinterher auf einen Zettel, ob sie mit dem Gesprächspartner in Kontakt treten wollen. Womöglich wird es erst später wirklich funken. So wie bei den Parteien.
Spruch des Tages
"Ich vergleiche das Impfverweigern mit Alkohol am Steuer. Ich verstehe nicht, warum das eine Einschränkung der Freiheit ist. Wenn es so ist, dann ist das Verbot, betrunken zu fahren, auch eine Freiheitsbeschränkung.“
Startrainer Jürgen Klopp vom FC Liverpool.
Termine des Tages
- Frühestens um 11.30 Uhr werden die Nobelpreisträger in der Kategorie Medizin und Physiologie in Skandinavien bekannt gegeben und damit die Tage der Nobelpreis-Verkündungen eingeläutet.
- In Großbritannien kommt ab heute das Militär zum Einsatz im Zuge der Bewältigung der seit Tagen anhaltenden Kraftstoffkrise. Etwa 200 Militärangehörige, darunter 100 Lastwagenfahrer, sollen helfen, für Nachschub an Tankstellen zu sorgen.
- Der deutsche Extremsportler Jonas Deichmann steht vor dem Endspurt seines Rekordversuchs, per 120-fachem Ironman – also schwimmend, Fahrrad fahrend und laufend – die Welt zu umrunden. Der "Deutsche Forrest Gump", wie ihn örtliche Medien nennen, beendet heute seinen 100 Tage dauernden Mexiko-Abschnitt. Anschließend will er per Boot nach Portugal reisen und von dort mit dem Fahrrad ins Ziel München fahren.
- Um 19.30 Uhr trifft sich die deutsche Fußballnationalmannschaft im Teamhotel in Hamburg vor den WM-Qualifikationsspielen gegen Rumänien (8. Oktober) und in Nordmazedonien (11. Oktober).
- Der deutsch-österreichische Schauspieler Christoph Waltz feiert seinen 65. Geburtstag. Er hat Oscars als bester Nebendarsteller in "Inglourious Basterds" und "Django Unchained" gewonnen und hätte sicherlich einige weitere verdient gehabt oder noch verdient.
Was lesen?
Hunderte Politiker, Amtsträger, Firmenvorstände und Spitzensportler in aller Welt sollen jahrelang Finanzdienstleister genutzt haben, um ihre Vermögen und Wertgegenstände zu verstecken. Das geht aus Unterlagen hervor, die internationale Medien, darunter die "Süddeutsche Zeitung", NDR und WDR ausgewertet haben: aus den "Pandora Papers". Neben Politikern finden sich zahlreiche Multimillionäre in den Papieren, wie das deutsche Supermodel Claudia Schiffer, Fußballtrainer Pep Guardiola, Ex-Beatle Ringo Starr und Popstars wie Shakira und Julio Iglesias.
Ein Vulkanausbruch mitten in Europa: Seit etwa zwei Wochen bahnen sich die Lavaströme des Cumbre Vieja auf La Palma ihren Weg. Hanna Klein, Rahel Zahlmann und Arno Wölk zeigen im Video: In vielen anderen Gebieten gibt es aktive Vulkane – auch in Urlaubsregionen. Der nächste Ausbruch könnte bevorstehen.
"Manchmal braucht es die Sicht von außen, um Dinge klarer zu sehen", schreibt mein Kollege Patrick Diekmann. Deshalb hat er sich angeschaut, wie das Ausland die Lage nach der Bundestagswahl und die Regierungsbildung in Deutschland bewertet. Insbesondere ein Mann steht dabei im Fokus.
Mit einer neuen Bundesregierung könnte ein neuer Ton in der deutschen Außenpolitik angeschlagen werden – auch gegenüber China. Maximilian Kalkhof hat mit dem Experten Mikko Huotari vom "Mercator Institute for China Studies" über die China-Politik von Angela Merkel, die Fehler in den 16 Kanzlerjahren sowie neue, künftige Schwerpunkte gesprochen und spannende Erkenntnisse gewonnen.
Was amüsiert mich?
Neues Angebot im Reisebüro.
Ich wünsche Ihnen einen hervorragenden Start in die Woche. Morgen schreibt an dieser Stelle meine geschätzte Kollegin Janna Halbroth den Tagesanbruch für Sie.
Ihr
Florian Wichert
Stellvertretender Chefredakteur t-online
Twitter: @florianwichert
Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.
Mit Material von dpa.
Den täglichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.