Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Der Selbstbetrug der Wähler
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
wie die Wahl morgen ausgeht? Ich weiß es nicht. Zum Glück. Denn das ist ja das Wunderbare an der Demokratie: Das Ergebnis steht nicht schon vorher fest.
Was wir allerdings bereits wissen: Egal, wer von den drei Kanzlerkandidaten Regierungschef wird, sie oder er wird Deutschland nicht gegen die Wand fahren. Und auch von den realistischen Koalitionsoptionen wird keine dazu führen, dass das Abendland untergeht. Es lohnt, sich auch das noch einmal bewusst zu machen. Denn selbstverständlich ist dies in der westlichen Welt längst nicht mehr.
Unter anderem darum geht es im Gespräch mit meinen Kollegen Florian Harms und Moritz Bailly. Hören Sie doch mal in die neue Ausgabe unseres Spezials zur Bundestagswahl rein:
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Und noch eine Empfehlung möchte ich Ihnen mitgeben: Am Montagmorgen berichtet t-online ab 7 Uhr in einem Livestream über den Ausgang der Bundestagswahl. Mit prominenten Politikern aus allen Parteien, Experten und unseren politischen Reportern diskutieren wir die Ergebnisse.
Noch ist der Ausgang aber offen. Trotzdem lassen sich bereits einige wichtige Lehren aus dem Wahlkampf ziehen, die unabhängig vom genauen Ergebnis gelten dürften.
Alle Parteien werden aus dem vermutlich historisch schlechten Abschneiden der Union schlussfolgern, dass die einstigen Erfolgsprinzipien der Volksparteien nicht mehr gelten. Es ist eben nicht egal, ob sich der Kandidat durchsetzt, der am besten der inneren Machtlogik dient. Sondern es muss die- oder derjenige antreten, der am weitesten in die gesamte Wählerschaft hineinstrahlt. Vielleicht wären Markus Söder und Robert Habeck auch ins Straucheln geraten, aber sie waren bereits im Frühjahr die stärkeren Kandidaten. Und wären es wahrscheinlich immer noch.
Auch der Gedanke, eine Partei müsse nur für möglichst viele Menschen irgendetwas im Angebot haben, dann fänden sich schon genug Wähler, ist erkennbar an seine Grenzen gestoßen. Nein, gerade in einem zusehends zersplitterten Parteiensystem braucht es mehr konkrete Inhalte und weniger Wischiwaschi. Weil die Union unter Angela Merkel zuletzt als einzige Partei noch über die 30-Prozent-Marke kam, dachten die CDU-Strategen offenbar, es werde auch dieses Mal schon irgendwie gutgehen.
Deshalb standen auf den Plakaten Sprüche wie "Weil es um die Menschen geht, wenn es um Deutschland geht." Sie wären genauso nichtssagend, wenn man "Menschen" und "Deutschland" tauschen oder durch beliebige andere Wörter ersetzen würde. Die Versprechen von Olaf Scholz, wie "Jetzt stabile Renten wählen" oder "Jetzt 12 Euro Mindestlohn wählen", kann man sich immerhin merken – unabhängig davon, für wie glaubwürdig man sie hält. Die SPD, der bei vergangenen Wahlen nicht allzu viel gelungen ist, scheint dieses Jahr zu schaffen, was die FDP 2017 vollbracht hat: die beste Kampagne zu machen.
Es gibt allerdings auch eine Lehre, die für uns Wähler nicht besonders schmeichelhaft ist. Wir sagen ja immer, dass wir möglichst authentische Politiker wollen. Eines kann man Armin Laschet wirklich nicht vorwerfen: Dass er sich im Wahlkampf verstellt hat. Dass er von einer Heerschar von Beratern bis zur Unkenntlichkeit glattgebügelt wurde. Nein, Armin Laschet ist eher ein WYSIWYG-Kandidat: What you see is what you get. Mit all seinen Stärken und – wie übrigens bei jedem Menschen – auch seinen Schwächen.
In den beiden sehr sehenswerten TV-Dokumentationen "Wege zur Macht" und "Der Kampf ums Kanzleramt" fällt in den Interviews mit den Spitzenpolitikern vor allem eins auf: Armin Laschet und Robert Habeck beantworten die Fragen – oder bemühen sich zumindest. Annalena Baerbock und Olaf Scholz dagegen profilieren sich vor allem als Floskelwolkenschieber.
Viele Spitzenpolitiker haben sich über die Zeit einen dicken Schutzpanzer zugelegt. Das ist angesichts der Brutalität des Jobs, all der Machtkämpfe und Anfeindungen mehr als nachvollziehbar. Aber häufig bleibt es eben ein vollkommenes Rätsel, wer die Menschen hinter den Politikerfassaden eigentlich sind. Was sie geprägt hat, was sie wirklich antreibt, wofür sie im tiefsten Inneren kämpfen. Selbst enge Parteifreunde reagieren auf entsprechende Fragen oft nur mit Schulterzucken.
Der Mensch Armin Laschet ist dagegen in diesem Wahlkampf durchaus sichtbar geworden, er ist der authentischste Spitzenkandidat. Aber bei allen Rufen nach mehr Echtheit und Originalität in der Politik scheinen die meisten Bürger dann doch eher der Meinung zu sein, dass es nicht besonders hilfreich ist, als Armin Laschet einfach Armin Laschet zu sein.
Und ja, auch das ist schon jetzt eine Lehre aus den vergangenen Wochen und Monaten: Gefühlt gab es im Vorfeld der Wahl mehr Umfragen denn je. Zu mehr Erkenntnis hat diese Fülle an Erhebungen jedoch nicht geführt. Nicht nur, weil auch schon mal Verschiebungen im Bereich der Fehlertoleranz fix zu Debakeln oder Trendwenden erklärt wurden.
Auch wir Wähler wussten manchmal offenbar nicht mehr ganz genau, worüber wir denn gerade eine Meinung äußern. Nach dem Triell von ARD und ZDF gab es online eine Erhebung, bei der 36,5 Prozent der Befragten äußerten, Olaf Scholz habe bei den Fragen zur Außen- und Europapolitik den überzeugendsten Auftritt hingelegt. Mit 36 Prozent lag Armin Laschet nur knapp dahinter.
Also zumindest bei diesem Thema war es ein Duell auf Augenhöhe. Könnte man meinen. Denn die Sache hat einen Haken: Das Triell der Öffentlich-Rechtlichen beließ es, wie die beiden Sendungen der Privaten auch, bei der deutschen Selbstbespiegelung. Europa? Überhaupt die Welt da draußen? Darum ging es nicht.
Etwas beurteilen, was es gar nicht gab – klar, kann passieren. Ist auch nicht dramatisch, aber vielleicht dann doch ein bisschen symptomatisch.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende.
Wählen Sie, was Sie für richtig halten. Aber bitte: Gehen Sie wählen! Denn nur in undemokratischen Ländern steht der Sieger schon fest, bevor die Wahlurnen geöffnet werden.
Ihr
Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell
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Mit Material von dpa.
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