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Schimpfen wird zum Volkssport: Deutschland sitzt in der Falle


Tagesanbruch
Deutschland steckt in der Falle

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 08.09.2021Lesedauer: 6 Min.
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Angela Merkel verlässt das Plenum des Bundestags nach der letzten großen Debatte ihrer Regierungszeit.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel verlässt das Plenum des Bundestags nach der letzten großen Debatte ihrer Regierungszeit. (Quelle: Michele Tantussi/REUTERS)

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Schimpfen wird zum Volkssport

Eigentlich müssten wir über Lösungen sprechen. Probleme haben wir hierzulande schließlich genug: Das Klima heizt sich auf, die Natur spielt verrückt, ein Drittel der Säugetiere ist vom Aussterben bedroht. In den Städten fehlen Wohnungen, und die verbliebenen sind zu teuer, während viele Dörfer veröden. Jeder sechste Bürger lebt in Armut, so viele wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Die Schulen bereiten Kinder nicht gut genug auf das Arbeitsleben in der digitalen Welt vor, in den Fabriken fehlen Fachkräfte und in den Altenheimen Pfleger. Behörden bis hinauf zur Bundesregierung kämpfen mit analoger Zettelwirtschaft, und immer mehr Menschen haben den Eindruck, die Entscheider verstünden die Nöte der kleinen Leute nicht mehr. Die exportabhängige Wirtschaft muss nach der Pfeife der Chinesen tanzen; wenn aus Shanghai und Shenzhen mal ein paar Tage keine Container kommen, stehen in Wolfsburg und Stuttgart die Bänder still. Und wenn es dann auch noch an irgendeinem Krisenherd auf dem Globus kracht, bleibt deutschen Außenpolitikern wenig anderes übrig, als ihre Überforderung zu beklagen.

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Probleme haben wir hierzulande genug, und in diesen wenigen Sätzen sind noch gar nicht alle aufgezählt. Woran es fehlt, sind jedoch nicht allein Lösungen. Die sind schwer genug zu finden. Es mangelt vor allem an ernsthaften Debatten über Auswege aus dem zentralen Dilemma unserer Zeit: der Komplexitätsfalle. Ob wir nun Beamte oder Angestellte, Unternehmer oder Freiberufler, Senioren oder Studenten sind: Wir alle erleben, dass die Welt immer komplizierter und unübersichtlicher wird. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen, irgendwo ist immer Krise – und immer mehr Menschen fällt es schwer, mit dieser Komplexität umzugehen, Widersprüchlichkeiten und Konflikte auszuhalten. Seien es Corona-Regeln, Windräder oder die Kanzlerkandidaten: Man findet sie entweder richtig oder falsch, entweder alternativlos oder unzumutbar, entweder prima oder doof. Für abwägende Ansichten bleibt dazwischen kaum Platz. Viele Leute sehnen sich nach Eindeutigkeit. Sie teilen die Welt in gut oder schlecht, in schön oder hässlich, in Freund oder Feind. Ihnen fehlt das, was Sozialwissenschaftler Ambiguitätstoleranz nennen.

Das wird zunehmend zum Problem. Eine Gesellschaft, die nicht darin geübt ist, Gegensätze und Unvereinbarkeiten auszuhalten, neigt dazu, alles bis ins kleinste Detail regeln zu wollen. So werden immer mehr Gesetze und Vorschriften erlassen – bis im bürokratischen Dschungel irgendwann niemand mehr durchblickt und jede Eigeninitiative erstirbt. Wenn die Bürger dann auch noch feststellen, dass all die Verordnungen gar nicht fruchten, dass eine Gesundheitskrise das ganze Land erschüttert, obwohl die Pandemiepläne in den Schubladen lagen, dass ein Starkregen binnen Stunden ganze Regionen zerstört, obwohl Wissenschaftler genau vor diesem Szenario gewarnt haben, dann schwindet das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz des Staates und seiner Vertreter.

Probleme haben wir hierzulande genug, eigentlich müssten wir öfter über Lösungen reden. Wann wäre ein geeigneterer Zeitpunkt als in einem Wahlkampf? Tiefgreifende Diskussionen über Auswege aus den Großproblemen unserer Zeit haben jedoch Seltenheitswert. Stattdessen begnügen sich viele wahlkämpfende Politiker, aber auch viele um Aufmerksamkeit kämpfende Journalisten damit, auf Floskelwellen zu surfen und dünne Bretter zu bohren. "So genau will das doch niemand wissen", heißt es dann, wenn man nach konkreten Konzepten fragt, wie Deutschland das Kunststück vollbringen will, binnen 24 Jahren komplett CO2-neutral zu werden, wie wir gleichzeitig aus der Kohle und aus der Atomkraft aussteigen wollen, ohne dabei die Basis unseres Wohlstands – der bislang auf dem Export von Autos, Maschinen und anderen Industriegütern beruht – zu gefährden.

Irgendwie soll nun ganz schnell alles grün und elektrisch und nachhaltig werden. Das klingt toll – doch die wenigsten Leute machen sich die Mühe, sich genau anzuschauen, welche gewaltigen Anstrengungen und Umbauten in unserem Land dafür nötig sind (siehe zum Beispiel hier). Lieber beschimpft man den politischen Gegner wahlweise als Luschi oder linkslastig, lieber echauffiert man sich über irgendwann steigende Benzinpreise und applaudiert den Schlaumeiern, die sie zu deckeln versprechen, weil das im Wahlkampf für fette Schlagzeilen sorgt. Die wiederum empfindet dann auch irgendjemand als Zumutung und schwingt in den "sozialen Medien" den verbalen Knüppel.

So ist das Schimpfen zum Volkssport geworden. Doof ist immer der, der eine andere Meinung, einen anderen Lebensstil oder mehr Privilegien hat. Und am doofsten sind "die da oben". Diskutieren wird durch Kläffen ersetzt. "Was Annalena Baerbock oder auch Armin Laschet gerade erlebt, erscheint mir grotesk. Egal, was sie machen, der Shitstorm in den sozialen Medien ist ihnen gewiss", sagt die Historikerin Hedwig Richter, die seit Jahren demokratische Prozesse erforscht und meinem Kollegen Marc von Lüpke und mir Rede und Antwort gestanden hat. "Es tötet die demokratische Diskussion ab, wenn man der Gegenseite immer gleich die böseste Absicht unterstellt. Demokratie ist keine Veranstaltung zur Volksbespaßung, sondern bedeutet harte Arbeit."

Harte Arbeit heißt: argumentieren, moderieren, Kompromisse suchen. Wer dagegen nur Probleme beschwört und Schuldige anprangert, dreht sich irgendwann nur noch um sich selbst – und wird im globalen Ringen um Einfluss und Wohlstand abgehängt. Begibt sich die deutsche Gesellschaft dauerhaft auf diesen Weg, könnte es tatsächlich sein, dass unser schönes Land keine rosige Zukunft hat. Lassen wir es nicht so weit kommen.


Terrorprozess in Paris

Im Stade de France sahen sich gerade 80.000 Zuschauer ein Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Frankreich an, und im Musikclub Bataclan trat vor 1.500 Menschen die US-Band Eagles of Death Metal auf, als der Horror seinen Lauf nahm: Am Abend des 13. November 2015 wurde Paris von mehreren Anschlägen erschüttert. Mehr als 130 Menschen wurden getötet, mehr als 350 verletzt. Die Attentäter waren französische, belgische und irakische Staatsbürger und bekannten sich zum "Islamischen Staat". Sieben kamen während der Taten ums Leben, drei weitere bei einer Razzia am 18. November in Saint-Denis. Einzig der Belgier Salah Abdeslam überlebte. Polizisten verhafteten ihn 2016 in der Brüsseler Gemeinde Molenbeek.

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Heute, fast sechs Jahre später, beginnt der Prozess gegen 20 Verdächtige, die die Terroristen unterstützt haben sollen. Nur einer von ihnen – Salah Abdeslam – soll sich direkt an den Attentaten beteiligt haben, indem er die Terroristen zu den Anschlagsorten fuhr und ihnen half, Sprengstoff herzustellen. Die anderen 19 Beschuldigten werden verdächtigt, die Anschläge mitgeplant oder die Mörder logistisch unterstützt zu haben. Sechs von ihnen wird man in Abwesenheit den Prozess machen. Ermittler gehen davon aus, dass sie inzwischen in Syrien oder im Irak umgekommen sind. An dem Mammutprozess nehmen mindestens 1.800 Zivilkläger und 300 Anwälte teil. Er soll neun Monate oder länger dauern und wird für die Archive filmisch dokumentiert.


Der US-amerikanische Militärstützpunkt Ramstein ist ein Drehkreuz für die Evakuierungsmission aus Afghanistan: Über die Air Base in Rheinland-Pfalz haben die Amerikaner schon mehr als 20.000 Schutzsuchende in die USA gebracht. Rund 11.000 Ausgeflogene aber warten dort noch auf ihre Weiterreise. Die Zahlen ändern sich ständig – auch weil weiterhin Flieger mit Geflüchteten ankommen, etwa aus dem Golfstaat Katar. Sie werden in Ramstein registriert und medizinisch behandelt; seit Ausbruch der Krise in Kabul hat sich der Stützpunkt in eine riesige Zeltstadt verwandelt. Heute will sich US-Außenminister Antony Blinken vor Ort ein Bild von den Abläufen machen und mit seinem deutschen Kollegen Heiko Maas über das weitere Vorgehen beraten.


Noch drei Punkte, bitte!

Bislang stehen ein mühsames 2:0 gegen Liechtenstein und ein 6:0-Kantersieg gegen Armenien zu Buche. Eher an letzteren wird Neu-Bundestrainer Hansi Flick anknüpfen wollen, wenn es in der WM-Qualifikation für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft heute Abend in Reykjavik gegen Island geht. Immerhin haben ihm seine Spieler versprochen, ihn nicht in eine ähnliche Situation zu bringen wie seinen Vor-Vor-Vorgänger Rudi Völler, den ein torloses Unentschieden an gleicher Stelle vor 18 Jahren zu einem legendären Wutausbruch veranlasste.


Was lesen?

Christian Lindner hat bislang voll auf eine Koalition mit Armin Laschet gesetzt – und sich damit verspekuliert. Nun dreht der FDP-Chef bei und lehnt ein Bündnis mit SPD und Grünen nicht mehr kategorisch ab. Aber würde das bei so unterschiedlichen Partnern inhaltlich überhaupt funktionieren? Meine Kollegen Titus Blome und Johannes Bebermeier kommen zu einem interessanten Ergebnis.


Im US-Bundesstaat Florida gibt es so viele Corona-Tote wie noch nie. Intensivstationen sind überfüllt, der Sauerstoff wird knapp. Dennoch haben dort Zehntausende Amerikaner rund um den Labour Day Urlaub gemacht. Insbesondere Orlando mit seinen vielen Freizeitparks droht nun zur Delta-Drehscheibe für das ganze Land zu werden. Unser US-Korrespondent Bastian Brauns hat sich an den amerikanischen Corona-Brennpunkt gewagt.


Es heißt oft, die EU sei ein zahnloser Tiger. Ist sie nicht, wie die Brüsseler Kommission jetzt bewiesen hat. Welche Folgen ihr jüngstes Manöver gegen die polnische Regierung haben kann, erklären die Kollegen der "Zeit".


Politiker werden auf Facebook, Twitter und Co. verunglimpft. Warum vor allem Annalena Baerbock im Fokus abscheulicher Attacken steht, erklärt Ihnen mein Kollege Ali Roodsari.


Was amüsiert mich?

Die deutschen Autohersteller zeigen auf der IAA richtig innovative Ideen.

Ich wünsche Ihnen einen kreativen Tag. Morgen schreibt Camilla Kohrs den Tagesanbruch, von mir lesen Sie ab Freitag wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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