Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch So machen wir es Baerbock, Laschet und Scholz zu leicht
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
heute schreibe ich für Sie den kommentierten Überblick über die Themen des Tages.
"Zwei mal drei macht vier, widdewiddewitt und drei macht neune! Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt!" Die freche Pippi Langstrumpf kann eine Sache, die wir nicht können. Sie baut ihre Welt nach eigenen Regeln. Kommen ihr Polizisten in die Quere, dann hebt sie diese in die Luft. Will sie auf Reisen gehen, dann fliegt sie einfach im Ballon. Und Geld muss sie nicht verdienen, sie besitzt eine Kiste voll Gold.
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Was wir mit Pippi teilen, ist das: Das Grundbedürfnis nach einer simplen, friedvollen, wenig komplizierten Welt. Es liegt quasi in unserer DNA. Seit Urzeiten sind wir Homo sapiens gut darin, das komplexe Geschehen um uns herum im Kopf zu vereinfachen. Gut und böse, billig und teuer, Sonne und Regen. Solch einfache Kategorien nutzen wir zum Überleben.
Es ist die große menschliche Leistung: Unser Hirn reduziert Komplexität, wo es nur kann. Es ermöglicht uns, die Dinge auf ein verständliches Maß zu reduzieren. Damit sind wir in der Lage, schnell Entscheidungen zu treffen, Tausende jeden Tag.
Das Prinzip funktioniert immer, dafür überlistet uns unser Hirn regelrecht. Es blendet für uns sogar Dinge aus, die bisherigen Erkenntnissen widersprechen.
Und dann ist Wahlkampf. In dreieinhalb Monaten wird gewählt und Politiker versuchen ihre besten Ideen für das Land zu präsentieren. Oder so ähnlich. Sie wissen: Nur wer es vermag, ein komplexes Thema so weit zu reduzieren, dass es in unser Pippi-Langstrumpf-Weltbild passt, kann es auch vermitteln.
Da wäre zum Beispiel CSU-Chef Markus Söder. Der will im Wahlkampf eine moderne, digitale, klimaschützende Partei präsentieren. Dafür braucht er eingängige Botschaften für wichtige Zielgruppen. Nehmen wir zum Beispiel ... die Frauen. Söder schafft es, zu simplifizieren: Er kündigte am Montag an, die CSU werde zur Bundestagswahl mit einer von Männern und Frauen gleichermaßen besetzten Landesliste antreten. Klingt nach Fortschritt.
Das Problem: Wir vermuten Kausalitäten, wo keine sind.
Wir vermuten also, Söder wolle mehr Frauen ins Parlament bringen. Doch die Sache hat einen Haken. Denn Bayern ist für die Bundestagswahl in 46 Wahlkreise aufgeteilt. Vor vier Jahren gewann die CSU jeden davon. Deshalb zogen über die Landesliste gar keine Kandidaten in den Bundestag ein. Söders Ankündigung hat also keine oder kaum praktische Wirkung.
Ein anderes Beispiel: Annalena Baerbock kündigte an, den Preis pro Liter Benzin ab 2023 um 16 Cent erhöhen zu wollen. Ein Signal an die eigene Wählerschaft, zugleich ein gefundenes Fressen für die Wahlkämpfer der anderen Parteien. Das Thema polarisiert, weil die Baerbock-Simplifizierung so sehr nach grüner Verbotspolitik klingt. Beide Seiten versuchen, politisches Kapital aus dem Thema zu schlagen.
Die Realität ist komplex: Mit der aktuellen, jährlich anwachsenden CO2-Bepreisung rechnet der ADAC, dass der Baerbock-Preis bereits Anfang 2025 erreicht wird. Da ist noch nicht eingepreist, dass die Regierung sowieso noch nachbessern muss, weil das Bundesverfassungsgericht weitere Klimaschutzmaßnahmen angemahnt hat. Baerbocks Benzinpreis-Erhöhung kommt, mit den Grünen oder ohne sie.
Sie ahnen es: Ähnlich ist es bei vielen politischen Themen. Einfache Kausalzusammenhänge sind in der Realität selten.
Das zweite Problem: Unser Verstand wertet.
In unserem Kopf ist Atomstrom gefährlich, Ökostrom ist gut. Autofahren ist bequem, öffentlicher Nahverkehr nicht. Fleisch ist lecker, Gemüse ist eine Beilage. Solche Wertungen ermöglichen uns, unbewusst Argumente auszusortieren, die unserem Weltbild widersprechen. Aber Atomstrom ist nicht nur gefährlich, er hat auch eine sehr gute CO2-Bilanz. Anders ausgedrückt: Die Dinge sind nicht zweidimensional (also auf einer Skala von schwarz über grau bis weiß) sondern mehrdimensional. Atomstrom ist gut und schlecht zugleich. Doch das mag unser Hirn nicht abspeichern.
Das dritte Problem: Politisches Framing.
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz schlug neulich einen "Mindestpreis" für Flugreisen vor. "Kein Flug darf billiger sein als die Flughafengebühren und alle anderen Gebühren, die dafür anfallen", sagte er. Das ist doch mal gut, oder? Schließlich hat so ein Flug ja auch einen Wert. Scholz sprach nicht davon, die Preise "regulieren" zu wollen. Und auch nicht davon, dass sie "teurer" werden sollen. Scholz zeigt auf die fiesen Billigflieger, die haben sowieso einen schlechten Ruf.
Ein klassischer Fall von politischem Framing, das von Parteien gezielt eingesetzt wird. Das funktioniert ungefähr so: Für die Wahrnehmung unserer Welt ziehen wir unser gesammeltes Wissen heran. Wenn wir bestimmte Begriffe lesen oder hören, assoziieren wir bereits Erlebtes. Und diese Billigflüge, die waren uns doch immer schon suspekt.
Die Realität ist auch hier komplex. Die Mallorca-Zeitung hat ausgerechnet, dass ein Hin- und Rückflug auf die Insel mit dem Mindestpreis künftig etwa 50 Euro kosten werde. Nicht mehr, als heute sowieso fällig wird. Und den Kollegen der Wirtschaftswoche fiel auf, dass ein künstlich erhöhter Preis sogar klimaschädlich sein könnte, wenn die Fluggesellschaften weniger zum Spritsparen gezwungen sind.
Was folgt daraus?
Wir sollten im Wahlkampf genau hinhören, wenn die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Wenn Politiker versuchen, mit plakativen Aussagen zu punkten. Dann gehen wir einmal in uns, um uns zu fragen: Ist die Welt nicht viel komplexer? Welche Aspekte werden hier gar nicht erwähnt, welche Fakten außen vor gelassen? Und: Stimme ich der Aussage von Politiker XY vielleicht nur zu, weil sie in mein bestehendes Weltbild passt? Dann können wir einmal schmunzeln und uns denen zuwenden, die intelligente neue Ansätze präsentieren. Egal, welcher Partei jemand angehört.
Scheitern mit Ansage
Zwei Sitzungswochen noch, dann hat die Koalition aller Voraussicht nach ausgedient. Es ist nicht ungewöhnlich, dass am Ende diverse Gesetzesvorhaben nicht mehr umgesetzt werden. Doch nun ist die Koalition ausgerechnet beim Thema Kinderrechte gescheitert. Es war ein Scheitern mit Ansage. Obwohl schon im Koalitionsvertrag Anfang 2018 vereinbart wurde, dass Kinderrechte ins Grundgesetz sollen, war der Gesetzestext erst Anfang dieses Jahres fertig. Dabei wussten die Koalitionäre, dass das Ergebnis auch noch mit der Opposition verhandelt werden muss.
Gestern bemühten sich alle Seiten zu betonen, der jeweils andere sei Schuld an der Misere. Das wird den mehr als 13 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland herzlich egal sein, schließlich ging es darum, ihre Rechte bei staatlichem Handeln mehr zu berücksichtigen. Daraus wird nun nichts. Dabei wäre das in so vielfacher Hinsicht sinnvoll. Es ist dann an der nächsten Regierung, das Thema frühzeitig auf die Agenda zu nehmen.
Die Demokratie investiert in sich selbst
Die deutsche Geschichte ist mit viel Schmerz verbunden. Nun startet der Bundestag etwas, das vor historischem Hintergrund in die Zukunft gerichtet wirken soll. Gegründet wird die "Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte". Sie soll dafür sorgen, dass an Orten, an denen die deutsche Demokratie erkämpft wurde, angemessen erinnert wird.
Im Gesetzentwurf heißt es, Demokratie brauche Orte, an denen Erinnerung Gestalt annimmt. Wie wahr. Nur wer seine Vergangenheit kennt, weiß um die Verantwortung für die Zukunft. Dafür darf die Stiftung nun jährlich "eine Summe im unteren zweistelligen Millionen-Euro-Bereich" investieren. Die Demokratie investiert in sich selbst.
Was lesen?
Es ist schwer, den Überblick zu behalten. Falls Sie demnächst in Deutschland Urlaub machen wollen, hat meine Kollegin Sandra Simonsen alles Wissenswerte zu den aktuellen Corona-Reiseregeln in den Bundesländern zusammengefasst.
Erst im April gab Linda Zervakis ihren Abschied von der ARD bekannt. Nicht einmal zwei Monate später folgt Pinar Atalay. Beide wechseln zu Privatsendern. Der ARD, so scheint es, laufen die Frauen davon. Aber kann man das wirklich so sagen? Meine Kollegin Janna Halbroth hat sich genauer mit dieser Frage beschäftigt und mit einem Experten gesprochen. Ihr ist dabei aufgefallen, wo die ARD Pionierarbeit geleistet hat und wo sich dringend etwas ändern sollte.
Was mich amüsiert
Am 17. Juli feiert Angela Merkel ihren 67. Geburtstag. Dann könnte sie eigentlich in Rente gehen. Wäre da nicht diese Expertenkommission im Wirtschaftsministerium, die nun die Rente mit 68 fordert. Wäre doch ein guter Grund, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Ich wünsche Ihnen einen sommerlichen Mittwoch. Morgen schreibt Florian Harms wieder an dieser Stelle.
Ihr
Peter Schink
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de
Twitter: @peterschink
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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