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Bundestagswahl 2021: Die Grünen kämpfen gegen ihr größtes Trauma – das V-Wort


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Ein Trauma und seine Folgen
Die Panik der Grünen vor dem V-Wort


Aktualisiert am 02.05.2021Lesedauer: 8 Min.
Annalena Baerbock: Folgt auf den Höhenflug wieder die Enttäuschung am Wahltag? Darüber entscheidet auch, wie die Grünen mit ihrem größten Trauma umgehen.Vergrößern des Bildes
Annalena Baerbock: Folgt auf den Höhenflug wieder die Enttäuschung am Wahltag? Darüber entscheidet auch, wie die Grünen mit ihrem größten Trauma umgehen. (Quelle: Thomas Imo/photothek.de/imago-images-bilder)

Die Grünen haben einen Lauf. Doch bisher folgten auf tolle Umfragen oft bescheidene Wahlergebnisse. Die Partei kämpft deshalb gegen ihr größtes Trauma. Und löscht dabei auch Feuer, die noch gar nicht brennen.

Öffentliche Kantinen sind wohl nur für wenige Menschen die Schauplätze ihrer kulinarischen Träume. Wer ohne größere Blessuren satt wird, schätzt sich in der Regel glücklich. Im Normalfall ist eine Kantinenerfahrung deshalb vor allem: schnell vergessen.

Bei den Grünen ist das anders. Die Partei denkt bis heute mit Schrecken an eine Kantinenerfahrung aus dem Jahr 2013 zurück. Denn damals wurden Kantinen für sie zu den Schauplätzen ihres politischen Traumas.

Die Grünen gingen 2013 mit der Forderung nach einem Veggie-Day in den Wahlkampf, einem verpflichtenden Tag in der Woche, an dem in öffentlichen Kantinen nur vegetarische Gerichte angeboten werden sollten. Es wurde für sie zum Desaster, die Bundestagswahl endete mit dem schlechtesten Ergebnis seit der Jahrtausendwende.

Und der Wahlkampf wurde zum Gründungsmythos der Grünen als Verbotspartei: Die wollen Euch im Namen des Klimas die Wurst von der Gabel holen! Dieses Image wieder loszuwerden, hat die Grünen seitdem große Mühen gekostet. Wirklich gelungen ist es ihnen noch immer nicht.

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Doch die Grünen haben aus ihrem Trauma gelernt. Politisch, aber auch kommunikativ. Sie verlangen dem Einzelnen seitdem kaum noch Verzicht ab, zumindest nicht direkt. Sie wollen nicht mehr die Wurst von der Gabel holen, sondern das Schwein glücklich machen (und damit letztlich schon auch: teurer und unattraktiver für den hungrigen Menschen).

Bloß nicht noch einmal so etwas wie 2013 – vor allem deshalb haben die Grünen ihre Kommunikation inzwischen so professionalisiert wie wohl keine andere Partei. Nichts wird dem (dummen) Zufall überlassen. Das Ergebnis sind oft ansehnliche Hochglanzauftritte, mitunter aber auch absurd wirkende Aufgeregtheit und Robotersprache.

Die Grünen fürchten, kurz vor dem Ziel mal wieder alles zu verlieren, so wie sie es vor den letzten Bundestagswahlen regelmäßig erlebt haben. Sie sind dadurch zu einer nervösen Partei geworden, deren zur Schau gestellte Lockerflockigkeit extrem unlocker erarbeitet ist. Im Wahlkampf könnte die Diskrepanz zwischen Sein und Bewusstsein für sie noch zum Problem werden.

Mit Fleisch und Dosenbier

Es ist nicht so, dass die grüne Nervosität reine Paranoia wäre, nur eine eingebildete Wahnvorstellung. Der Verbotsvorwurf ist auch im noch jungen Wahlkampf 2021 schon wieder zum Klassiker geworden. Und damit zu einem ernsthaften strategischen Problem für die Grünen.

Das liegt daran, dass der Vorwurf bei ihnen besonders gut verfängt, weil sich viele noch wutschäumend an den Veggie-Day erinnern. Obwohl eigentlich alle Parteien bestimmte Verbote fordern (auch wenn sie es wie die FDP weniger aufgeregt Ordnungspolitik nennen). Denn ohne Regeln für Wirtschaft und Gesellschaft geht es eben nicht.

Dass die Grünen ein leichtes Opfer der Verbotsrhetorik der Konkurrenz sind, liegt aber auch daran, dass der Vorwurf einen wahren Kern hat. Denn progressive Politik fordert tendenziell mehr Verbote als konservative und liberale. Sie will den Wandel der Welt beschleunigen und nicht nur moderieren oder gar abbremsen. Etwa, indem Verbrennungsmotoren verboten werden, um schneller auf E-Autos zu wechseln.

Dem Verbotsvorwurf komplett zu entkommen, ist deshalb für die Grünen gar nicht möglich. Um ihn nicht zu mächtig werden zu lassen, strengen sie sich darum einerseits auffällig an, ihre Entspanntheit zu betonen. Fraktionschef Anton Hofreiter erzählt dann gerne, dass er leidenschaftlicher Fleischesser ist. Und Parteichef Robert Habeck spricht davon, dass er im Urlaub Dosenbier trinkt.

Echte grüne Revoluzzer.

Die Menge macht das Gift

Andererseits versuchen die Grünen, den Verbotsvorwurf mit einer wohldosierten Mischung aus kontrollierten Eingeständnissen und ebenso kontrollierten Ausweichmanövern einzuhegen.

Ein kontrolliertes Eingeständnis sieht dann so aus, dass Grünen-Chefin Annalena Baerbock Verbote in einem Interview ausdrücklich begrüßt. "Verbote können positive Folgen haben", sagte sie der "taz" im Dezember und nannte den Kohleausstieg, das Aus für Verbrenner und ein Tempolimit auf Autobahnen als Beispiele. "Ob in der Familie, im Fußballverein oder in der Gesellschaft insgesamt: Überall gibt es klare Regeln, was erlaubt ist."

Das stimmt zwar, aber ganz so entspannt, wie es klingt, ist das grüne Verhältnis zum Verbot dann eben doch nicht. Ein solches Eingeständnis kann Entlastung bringen, wenn dem Vorwurf ohnehin nicht mehr zu entkommen ist, indem er ins Positive gewendet wird. Doch mit Verbotsvorwürfen ist es ähnlich wie mit der Wurst auf der Gabel: Die Menge macht das Gift. Zwei sind relativ unproblematisch, zehn ziemlich ungesund.

Deshalb passen die Grünen auf, sich nicht an zu vielen Stellen angreifbar zu machen. Und weichen aus.

Es den anderen nicht so einfach machen

Man kann das beobachten, wenn die Grünen über die Fleischwirtschaft reden und schreiben. Wer Robert Habeck in einem Interview zu entlocken versucht, dass die Pläne für eine tierfreundlichere Haltung logischerweise dazu führen werden, dass Fleisch teurer wird, der scheiterte zuletzt in der Regel. Zumindest seit seine Forderung nach einem Mindestpreis im Sommer mal wieder einen Aufschrei ausgelöst hatte.

Im aktuellen Wahlprogramm wird dann zwar auch das "System des 'Immer billiger, immer mehr'" kritisiert. Dass die grünen Pläne für die Konsumenten teurer würden, deutet darüber hinaus aber nur ein zusätzlicher "Tierschutz-Cent" behutsam an.

Die Schlagzeile "Grüne verbieten uns das Billigfleisch" will ganz offensichtlich in der Parteispitze gerade niemand lesen. Erinnert dann doch zu sehr an den Veggie-Day.

Ähnlich strategisch kommunizieren die Grünen beim Heizen. Das gestand Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock zuletzt auf einer Debattenveranstaltung der "taz" selbst ein. "Ehrlich gesagt", erklärte sie da, "will ich es meinen politischen Mitbewerbern auch nicht zu einfach machen."

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Die Grünen wollen, dass künftig wo immer möglich nur noch erneuerbare Heizungen eingebaut werden. "Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn ich nur noch grüne Heizungen einbauen darf, dass ich keine Öl- und Gasheizungen mehr einbauen darf", sagte Baerbock. "Da steht jetzt nicht 'Verbot von...', sondern da steht, in Zukunft darf es nur noch diesen Standard geben."

Warum? Eben auch, weil man wisse, dass politische Gegner die "Dinge im Zweifel anders framen, als sie gemeint sind". Nämlich als Verbot.

In der Tat geht es den Grünen ja nicht darum, schon eingebaute fossile Heizungen zu verbieten und aus den Wänden zu reißen. Das Problem ist nur: Solche vermeintlichen Feinheiten schützen nicht unbedingt vor dem Vorwurf. Das lässt sich nicht nur bei den Grünen, sondern auch immer wieder in der EU beobachten. Da werden aus Vorgaben, nur noch Energiesparlampen und sparsame Staubsauger zu verkaufen, dann in der Debatte auch schnell Glühbirnen- und Staubsaugerverbote.

Feuer löschen, die noch nicht brennen

Auch wenn die Grünen inzwischen deutlich besser aufpassen: Manchmal holt sie das traumatische V-Wort doch wieder ein. Inzwischen aber stemmt sich die Partei mit aller Kraft gegen die Verbotsvorwürfe.

Als kürzlich durch eine verunglückte Überschrift des "Spiegel" aus einem Interview mit Hofreiter über den hohen Ressourcenverbrauch von Einfamilienhäusern eine angebliche Forderung nach einem Verbot entsprechender Häuser wurde, warfen sich Parteimitglieder und Sprecher nicht nur emsig in die Twitter-Debatten.

Selbst Grünen-Chef Robert Habeck sah sich genötigt zu betonen, das Einfamilienhaus sei "für viele Menschen Teil ihres Lebens, ihrer Lebenspläne und ihrer Wünsche und wird es auch in Zukunft bleiben". Eine bemerkenswerte Aussage. Denn eigentlich stehen längst nicht nur die Grünen dem Einfamilienhaus in bestimmten Gegenden skeptisch gegenüber und würden Dörfer und Städte lieber verdichten als immer neue Flächen zu bebauen. Habeck überzeichnete die grüne Liebe zum Einfamilienhaus wohl absichtlich etwas, um die Debatte wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Wie sehr sich die Grünen inzwischen von Themen alarmieren lassen, die emotional aufgeladen sind und sich potenziell zu einem Verbotsaufreger auswachsen könnten, zeigt ein Beispiel aus Bremen. Als sich die Bürgerschaftsfraktion des kleinsten deutschen Bundeslandes im März für einen Haustierführerschein aussprach, reagierte die Bundesspitze der Grünen sofort öffentlich auf die Pläne – ganz ungefragt. Sie ließ aktiv verbreiten, dass man eine solche Pflicht deutschlandweit nicht für notwendig halte.

Und versuchte damit ein Feuer zu löschen, das noch gar nicht brannte.

Ein beachtlicher Aufwand, wenn man bedenkt, wie viele Grünen-Regionalgremien es inzwischen gibt, die in einem langen Wahlkampf noch auf zweifelhafte Ideen kommen könnten.

Dass es in den Tiefen des Internets im Zweifel für einen Verbotsvorwurf gar nicht darauf ankommt, ob die Fakten stimmen oder nicht, zeigte sich einige Wochen später. Da ging auf WhatsApp ein falsches Zitat von Annalena Baerbock herum, in dem sie angeblich ein Hundeverbot für den Klimaschutz forderte. Das hat sie aber nie getan.

Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner ging auch hier in die Offensive, obwohl ein solches Falschzitat selten den Weg in die breitere parteipolitische Debatte findet. Kellner beklagte öffentlich ein Foulspiel und forderte dazu auf, Lügengeschichten im Internet zu widersprechen.

Die Wahlkampfmaschine

Ein solches Mikromanagement in den kommenden viereinhalb Wahlkampfmonaten durchzuhalten, ist eine gewaltige Aufgabe. Gegen Hass und Hetze in den Kommentarspalten setzen die Grünen deshalb auch auf den Schwarm. Sie rufen ihre Mitglieder dazu auf, im Rahmen einer "Netzfeuerwehr" zu widersprechen.

Doch das ist natürlich nur der kleinere Teil der Lösung. Die Grünen haben ihre strategische Planung und Kommunikation für den Wahlkampf massiv aufgestockt. Die Bundesgeschäftsstelle, die grüne Parteizentrale, ist von 65 Mitarbeitern für den Wahlkampf auf 130 angewachsen. Neben Neueinstellungen wurden auch wichtige Mitarbeiter aus der Bundestagsfraktion ausgeliehen.

Besonders in die Öffentlichkeitsarbeit, das Community-Management im Netz und die Pressearbeit wurde investiert. Nicht zuletzt, um schneller auf heikle Debatten und Fake News reagieren zu können. Damit auch nichts übersehen wird, gibt es sogar eine interne Meldefunktion für Falschbehauptungen. Und wenn mal wieder eine Verbotsdebatte wie bei den Einfamilienhäusern aufflammt, haben die Grünen digitale Verteiler zu ihren Kandidaten im ganzen Land aufgebaut, um sie schnell mit der offiziellen grünen Interpretation der Lage briefen zu können.

Die ohnehin überaus kontrollierte und haarklein abgestimmte Kommunikation der Partei dürfte in den kommenden Monaten deshalb tendenziell noch etwas kontrollierter werden. Das zeichnete sich schon in den ersten Interviews der gerade gekürten Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ab.

Die Falle der Überprofessionalisierung

Bei den betont lockeren Fragen der wohlgesinnten ProSieben-Moderatoren traute sie sich anfangs kaum, sich selbst mal ein bisschen locker zu machen. Stattdessen verkroch sie sich an diesem Abend in Floskeln, um ja keine Fehler und sich damit angreifbar zu machen.

Wer sich zuerst das ProSieben-Interview und anschließend die Gespräche im "heute-journal" und den "Tagesthemen" anschaute, konnte ihre Antworten irgendwann fast mitsprechen. Eine Runde Bingo mit ihren Lieblingsfloskeln "ein Angebot machen", "gemeinsam", "Erneuerung" und "Breite der Gesellschaft" wäre jedenfalls ein kurzes Vergnügen gewesen.

Wenn aber die Grünen im Wahlkampf mehr wie Politroboter klingen als Olaf Scholz – Spitzname: Scholzomat –, wird es irgendwann problematisch. Denn sie treten ja mit der Botschaft an, es anders machen zu wollen als alle anderen. Vielleicht mit weniger Erfahrung, aber mit mehr Ideen und einer neuen Art. Das ist ihr stärkstes Argument.

Ein gemeinsames Angebot der Erneuerung an die Breite der Gesellschaft, um es frei nach Baerbock zu sagen.

Es wird für die Grünen deshalb in den nächsten Monaten darum gehen, auch mal ungeplante Lockerflockigkeit zuzulassen, authentische Spontaneität, die nahbar macht. Darum, der Überprofessionalisierung zu widerstehen und allzu irre Verbotsvorwürfe vielleicht mal unkommentiert zu lassen, ohne die Debatte bei den gefährlicheren Vorwürfen zu verpassen.

Vielleicht hilft dabei ja ein Dosenbier. Oder eine Wurst.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen und Beobachtungen
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