Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Wehrhaft bis in jede Ecke
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
hier ist Ihr Tagesanbruch, und er nimmt Sie heute trotz des Datums nicht auf die Schippe. Stattdessen geht es um ernsthaftes Engagement, einen Pakt und Vorfreude:
Das geht uns alle an
Bekommt eine Blume kein Wasser, verwelkt sie und geht schließlich ein. Die Demokratie ist wie eine Blume: Sie kann wachsen und erblühen, aber wenn sie nicht unablässig Pflege erfährt, wird sie schwächer und stirbt irgendwann. Um das zu verstehen, müssen wir nicht erst nach Lateinamerika oder Osteuropa schauen, es genügt der Blick vor unsere Haustür. Egal, ob im Osten oder Westen, im Norden oder Süden: Vordergründig ist Deutschland eine stabile Demokratie – doch wer genauer hinsieht, entdeckt vielerorts Flecken, an denen Teilhabe, Pluralismus und bürgerschaftliches Engagement verdorrt sind. Stattdessen gedeihen dort Ressentiments und Egoismus, Ausgrenzung und Ignoranz.
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Im Sommer vor zwei Jahren begleitete ich Familienministerin Franziska Giffey, die aus Frankfurt an der Oder stammt, auf einer Reise durch Ostdeutschland. Die SPD-Politikerin engagiert sich nicht nur qua Amt, sondern aus Überzeugung für die Förderung demokratischer Strukturen. Wo immer wir aufkreuzten – ob in einem Nachbarschaftsverein, einem Rathaus oder einem Mütter-Kind-Café – überall fand sie sofort einen Draht zu den Leuten, plauderte mit ihnen über ihre Alltagssorgen und ermunterte sie zum konstruktiven Einsatz für die Gesellschaft. Mich hat das damals beeindruckt, hier habe ich darüber berichtet. So müssen Politiker sein, dachte ich mir: im ständigen Austausch mit den Bürgern, beseelt vom Glauben an die Kraft der Gemeinschaft und angetrieben vom Willen, das Leben aller Menschen zu verbessern. Damit Enttäuschungen nicht zur Abkehr von der Demokratie führen, damit Vorurteile und Hass sich nicht breitmachen können.
Umso beunruhigter war ich, als ich gestern las, dass die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD sich immer noch nicht auf das seit Langem geplante "Wehrhafte-Demokratie-Gesetz" geeinigt haben. Die Unionsfraktion zieht plötzlich dessen Notwendigkeit in Zweifel: Es gebe doch schon ein Bundesprogramm, das Projekte zu Demokratie, Vielfalt und Extremismusprävention fördere. Wer Geld vom Staat haben wolle, solle außerdem erst mal schriftlich erklären, dass er sich zur freiheitlichen, demokratischen Grundordnung bekenne – sonst könne ja jeder x-beliebige Verein die Hand aufhalten, womöglich sogar Linksextreme. Als ob nicht ohnehin jede Zuwendung vom Staat der Kontrolle durch Ministerien, Behörden und Rechnungshöfe unterliegt. Es klingt ein bisschen so, als suchten CDU und CSU händeringend nach Gründen, um der SPD kurz vor der Bundestagswahl eines ihrer Prestigeprojekte zu verwehren und das Gesetzesvorhaben zu Fall zu bringen.
Das kann man machen, wenn man in den Wahlkampfmodus umgeschaltet hat, auch das ist Teil der Demokratie. Der Parteiendemokratie, um genau zu sein. Aber dann muss man sich nicht wundern, wenn das demokratische Leben an der Basis unseres Landes vielerorts verwelkt. "Wir können nicht einerseits (die Anschläge in) Hanau, Halle und Chemnitz beklagen und andererseits beim notwendigen und längst überfälligen Demokratiefördergesetz kneifen", sagt Franziska Giffey und verlangt von der Union, ihre Blockadehaltung aufzugeben. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (ebenfalls von der SPD) sekundiert: "Wer das verschleppt und verzögert, schadet dem Engagement all der Demokratinnen und Demokraten im ganzen Land, die sich für Zusammenhalt und gegen Extremismus einsetzen." Ich erlaube mir hinzuzufügen: Die beiden Ministerinnen haben recht.
Kriminelle Energie im Landeskriminalamt
Nicht nur das KSK der Bundeswehr hat einen Munitionsskandal, sondern jetzt auch das LKA Sachsen. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden ermittelt gegen 17 Beamte einer Sondereinheit wegen Diebstahls und Beihilfe zum Diebstahl, wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz und Bestechlichkeit. Vier der Beschuldigten, unter ihnen der Kommandoführer des Mobilen Einsatzkommandos, sollen im November 2018 rund 7.000 Schuss Munition für Maschinenpistolen und Sturmgewehre entwendet und damit ein von der Firma „Baltic Shooters“ organisiertes privates Schießtraining in Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern "bezahlt" haben. Damit nicht genug: Die Firma ist bekannt aus Ermittlungen zur rechtsextremen Prepper-Gruppe "Nordkreuz", deren Mitglieder ebenfalls in Güstrow trainierten. Eine mögliche Verbindung der Beamten zu der dubiosen Gruppe wird nun geprüft; Sachsens Innenminister Roland Wöller zeigt sich "entsetzt" und spricht von einem "unfassbaren Maß an krimineller Energie". Heute ist eine Sondersitzung des Innenausschusses im Sächsischen Landtag anberaumt. Der Eindruck drängt sich auf: Teile der Polizei sind von Rechtsextremisten unterwandert. Die Demokratie muss sich wehren – auch gegen innere Feinde.
Pakt der Rechten
Nach dem Austritt seiner Fidesz-Partei aus der Fraktion der christdemokratischen Europäischen Volkspartei hatte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán angekündigt, nun ein neues, rechtsnationales EU-Bündnis anzustreben. Schließlich müsse es eine politische Heimat "für Menschen wie uns geben, die die Familie schützen und ihre Heimat verteidigen". Heute macht der Rechtspopulist in Budapest Ernst: Er hat den Chef der italienischen Lega, Matteo Salvini, und den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki von der Regierungspartei PiS zu Gesprächen über die Bildung einer neuen rechten Gruppe im EU-Parlament eingeladen. Fürwahr ein "Dream Team", das sich da an der Donau zusammenfindet, könnte man spotten, doch die Pläne haben Gefahrenpotenzial: Käme es wirklich zu einer Allianz der Fidesz mit der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR), der auch die PiS angehört, sowie der Fraktion Identität und Demokratie mit der italienischen Lega und der deutschen AfD, entstünde die zweitgrößte Fraktion im Europaparlament. Auch im Herzen der EU in Brüssel muss sich die Demokratie ihrer Gegner erwehren.
Auch Lichtblicke sehen
Draußen scheint die Sonne, aber die Lage verdüstert sich: Die Corona-Mutation B.1.1.7 erobert Europa. Frankreich geht zurück in den harten Lockdown, macht Schulen dicht und verhängt eine Ausgangssperre. Spanien, Italien und Belgien riegeln Regionen ab. Auch hierzulande steigen die Infektionszahlen rapide, wie meine Kollegen Philip Friedrichs und Adrian Röger zeigen. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer zieht bei seinem Lockerungs-Modellversuch die Reißleine. In Halle sorgt der Fall einer geimpften, aber hochgradig ansteckenden Person für Unruhe – "das zeigt, dass unser aufgespanntes Sicherheitsnetz nicht zu 100 Prozent trägt", sagt der Ärztliche Direktor unserem Rechercheur Lars Wienand. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Seuche in den kommenden Wochen noch gravierender wird.
Umso wichtiger ist es, in der Düsternis auch die Lichtblicke zu sehen. Die gibt es nämlich, und für jeden ist einer dabei. In Süddeutschland blühen die Magnolienbäume, im Norden ist es auch bald so weit. Anschließend beginnt die Kirschblüte, die auch im Lockdown nichts von ihrer Pracht verliert. Die Arbeitslosigkeit sinkt trotz Corona. Der Dax hat zum ersten Mal die 15.000-Punkte-Marke durchbrochen, und immer mehr Bürger profitieren davon. Es ist immer noch möglich, dass wir uns im Sommer über packende Spiele bei der Fußball-EM freuen können, zumindest im TV. Anschließend übernimmt ein neuer Bundestrainer, unser Reporter Noah Platschko hat sich schon mal umgehört. Bei den Olympischen Spielen will Deutschlands Leichtathletik-Hoffnungsträgerin Malaika Mihambo nach einer Goldmedaille greifen.
Irgendwann werden wir unsere Freunde wieder umarmen und mit ihnen in Kneipen, auf Konzerte und ins Theater gehen. In 15 Minuten "Tagesschau" wird das Wort Pandemie kein einziges Mal vorkommen. Die Politik wird sich wieder um andere Dinge als Corona kümmern und die offengelegten Schwachstellen in Angriff nehmen. Dann bekommen wir (hoffentlich) digitalisierte Schulen und Ämter, mehr Radwege, ein stabileres Gesundheitssystem, mehr Hygiene im Alltag und weniger Erkältungskrankheiten. Vor allem aber wird jeder, der es möchte, früher oder später eine Impfung erhalten – wenn Biontech, Moderna und Johnson & Johnson wie versprochen liefern, wenn Curevac die Zulassung erhält und wenn die Behörden endlich pragmatisch handeln. Auf all das und noch viel mehr können wir uns freuen. Und dann werden wir uns in die Abendsonne setzen und mit einem kühlen Blonden oder einem Perlwein darauf anstoßen, dass wir nach anderthalb Jahren Großkrise noch immer in einem der lebenswertesten Länder der Welt wohnen.
Zweites Corona-Ostern
Der Gründonnerstag ist der erste Höhepunkt der Karwoche, Christen gedenken heute des letzten Abendmahls Jesu mit seinen Jüngern. Pandemiebedingt können nur wenige Katholiken vor dem Petersdom in Rom mitfeiern. Papst Franziskus wird heute die Chrisam-Messe leiten und am morgigen Karfreitag an das Leiden und Sterben Christi erinnern. Der traditionelle Kreuzweg am Kolosseum muss ausfallen, er findet nur in kleinem Rahmen auf dem Petersplatz statt. Am Sonntag folgt dann der Ostersegen "Urbi et orbi". Gut, dass Corona nicht alle Rituale verhindern kann.
Was lesen und anschauen?
Es gibt immer noch Menschen, die Corona auf die leichte Schulter nehmen. Die sich für unverwundbar halten und die Sicherheitsregeln nur lax befolgen. Diese Menschen, aber eigentlich auch alle anderen, sollten sich die Dokumentation ansehen, die nun in der ARD-Mediathek steht: Ein Filmteam hat mehrere Monate lang die Ärzte und Pfleger auf einer Intensivstation der Berliner Charité begleitet. Beim Anschauen ist es mir kalt den Rücken heruntergelaufen.
"Impfen, impfen, impfen", heißt die Devise der Kanzlerin. Deshalb sollen nun auch Hausärzte mithelfen. Doch meine Kollegen Manfred Schäfer, Melanie Weiner und Sandra Simonsen haben herausgefunden: Eine bestimmte Patientengruppe wird ausgeschlossen.
Was amüsiert mich?
Es gibt gute Musiker. Und es gibt Genies. Menschen, die aus dem Stegreif sogar Banalitäten vertonen können. Deshalb ist diese kleine Einlage des großen Elton etwas Besonderes.
Falls Sie wie ich das Glück haben, Schwabe zu sein, dürfen Sie heute Mauldäschle verspeisen. Falls Sie andernorts herstammen, bekommen Sie bestimmt ebenfalls was Leckeres aufgetischt. Dabei wünsche ich Ihnen wohl bekomm’s – und dann frohe, sonnige Ostern! Marc Krüger legt an diesem Samstag eine wohlverdiente Pause ein. Kommende Woche schreiben meine Kollegen Florian Wichert, Camilla Kohrs, Johannes Bebermeier und Peter Schink den Tagesanbruch, von mir lesen und hören Sie am übernächsten Wochenende wieder.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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