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Digitalisierung in Deutschland: Warum tun wir so, als ginge uns das nichts an?


Meinung
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MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 19.10.2020Lesedauer: 9 Min.
Endlich da: Ein Schüler ist glücklich über ein neues Tablet.Vergrößern des Bildes
Endlich da: Ein Schüler ist glücklich über ein neues Tablet. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Vor wenigen Tagen dachte ich, dass wirklich noch kleine Wunder geschehen. Nein, leider geht es nicht um Corona. Da bleiben uns derzeit vor allem Dinge, die wir vor Jahrzehnten genauso gemacht hätten: Abstand halten, Maske tragen, Kontakten hinterhertelefonieren.

Ich meine die deutsche Verwaltung, die langsam tatsächlich im 21. Jahrhundert ankommt.

Das glauben Sie nicht?

Doch, doch. Als Stadtbewohner mit Auto (Ja, ich weiß, ist überflüssig) trage ich mir alle zwei Jahre einen Termin im Kalender ein: Anwohnerparkausweis erneuern!

Früher musste ich dafür noch aufs Amt. Und in Berlin sehen Ämter in der Regel so aus, dass man möglichst schnell wieder weg will und sich dabei fragt, wie ernst der Arbeitgeber eigentlich die Fürsorgepflicht für seine Mitarbeiter nimmt.

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Dann hatte sich irgendwann herumgesprochen, dass es diese E-Mails gibt, mit denen sogar Dokumente verschickt werden können. Also muss sich ein Beauftragter für Innovationsmanagement in der Verwaltung gedacht haben: Da können die Leute ja ein wunderbar umfangreiches PDF ausfüllen und es uns mailen.

Nun hat der unaufhaltsame Fortschritt sich wieder Bahn gebrochen. Der brave Berliner Bürger muss online nur noch ein paar Felder ausfüllen, seinen Fahrzeugschein hochladen, digital bezahlen – und bekommt ein paar Tage später tatsächlich Post vom Amt.

Ich mag mir gar nicht ausdenken, wie radikal sich das Leben als Bürger bis 2040 verändern wird, wenn die digitale Revolution in diesem Tempo weitergeht. Vorsicht: Das war nicht ernst gemeint.

Das Problem ist, dass die Berliner Verwaltung wahrscheinlich wahnsinnig stolz auf sich ist, wie sehr sie den Prozess vereinfacht hat. Dabei entspricht das Verfahren von 2020 bestenfalls dem, was bereits 2010 möglich war.

Denn es kam immer noch ein ausgedrucktes Schreiben mit dem von Hand ausgefüllten Parkausweis – und in diesem Ton, den nur deutsche Ämter hinbekommen: "Sehr geehrte Dame, sehr geehrter Herr, ich erteile Ihnen unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs eine Sonderparkberechtigung für Bewohner (Bewohnerparkausweis) gemäß der bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschrift (VwV-StVO) zu § 45 Abs. 1 bis 1e StVO."

Vielen Dank auch.

Dass die Verwaltung freundlicher mit den Bürgern kommunizieren sollte, die sie ja immerhin finanzieren, ist noch so ein Thema. Jetzt will ich es erst einmal bei der sehr langsam voranschreitenden Digitalisierung belassen. Ich erzähle Ihnen das alles, weil der Anwohnerparkausweis stellvertretend für das vielleicht größte Problem steht, das wir jenseits von Corona derzeit in Deutschland haben: Wir bekommen die Digitalisierung nicht hin. Wir sind lost in digitalization.

Das betrifft nicht nur die Verwaltung, aber sie besonders. Ich glaube, dass der Denkfehler bei uns darin besteht, dass wir meinen, es reiche aus, analoge Prozesse zu digitalisieren.

Dabei müssten wir die Digitalisierung als das begreifen, was sie ist: Etwas, das fast alles in Frage stellt. Im genannten Beispiel müsste es also nicht darum gehen, den Bestellprozess zu erleichtern, sondern die Grundsatzfrage aufzuwerfen: Ist ein Parkausweis, den jemand an die Scheibe klebt, noch zeitgemäß?

Nur so würde der bestehende Prozess grundsätzlich in Frage gestellt.

Klar, Revolutionen werden öfters gefordert, als dass sie stattfinden. Aber selbst bei der digitalen Evolution bleiben wir weit hinter unseren Möglichkeiten zurück. Warum schickt das Amt nicht alle zwei Jahre eine Erinnerungs-SMS und fragt, ob man den Ausweis verlängern will? Ein kurzes Ja als Antwort, und gut ist es.

Und dann gibt es noch so viele andere Bereiche, in denen wir enorm zurückgefallen sind. Und uns den Alltag unnötig schwer machen. Noch immer weiß Google besser, wie viele Autos vor einer Ampel stehen als die Ampel. Intelligente Methoden zur Verkehrssteuerung gibt es längst. Aber eben woanders.

In anderen Ländern gab es entsprechende Fortschritte auch an den Schulen. Es ist ärgerlich, dass die Schulen im März nicht vorbereitet waren, als alle nach Hause mussten. Aber es ist ein Skandal, dass sich selbst sieben Monate später im deutschen Bildungssystem noch immer fast nichts bewegt hat.

Digitalisierung scheint für die zuständigen Bundesländer vor allem zu bedeuten, dass es endlich schnelles Internet an den Schulen und Tablets für Schüler und Lehrer gibt. Dabei geht es um viel mehr als eine Infrastruktur, die längst selbstverständlich sein sollte. Dafür müssten die Schulminister aber vom egoistischen Klein-Klein wegkommen. Das hieße etwa, endlich eine bundesweite Schul-Cloud einzuführen statt in jeder Landeshauptstadt eine eigene zu entwerfen. Und endlich Lern-Apps zu verwenden, die sich international längst durchgesetzt haben, statt an regional spezifischen Produkten zu basteln. Denn nur bei einem Mindestmaß an Vereinheitlichung entwickeln die Anbieter auch entsprechende Angebote.

Und schließlich bietet die Digitalisierung auch im Bildungssystem viel größere Chancen als die Entscheidungsfreiheit, ob Unterricht im Klassenraum oder virtuell stattfindet. Die Lehre müsste in Deutschland so aussehen, wie es in anderen Ländern bereits der Fall ist: Schüler eignen sich zum Beispiel zu Hause digital die Grundlagen des Stoffs an. In der Schule wird er analog vertieft. Dann wäre nicht nur ein viel individuelleres Lerntempo möglich, sondern es gäbe auch ein wirksameres Mittel gegen Unterrichtsausfall.

Das sind nur ein paar Überlegungen, die ich hier anstelle. Ich bin nur interessierter Bürger und kein ausgewiesener Digitalexperte. Es gibt besser Berufene, die noch zielgenauere Vorschläge machen können. Und dies auch tun.

Was ich aber durchaus beurteilen kann: Die weltweit rasant voranschreitende Digitalisierung ist der vermutlich größte ökonomische und gesellschaftliche Umbruch seit der Industrialisierung vor rund 150 Jahren. Wenn wir diesen Prozess weiter in dem Tempo vorantreiben, wie wir es uns beim Bau von Flughäfen in unserer Hauptstadt gestatten, werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht halten können. Und wir werden auch die nächste Pandemie mit den Mitteln von vorgestern bekämpfen müssen.

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WAS STEHT AN?

Die US-Bürger entscheiden bis zum 3. November darüber, wer ihr Präsident und der noch immer mächtigste Mensch der Welt wird. Die Entscheidung, wer das bevölkerungsreichste Land der EU in der Post-Merkel-Ära führen wird, fällt voraussichtlich gut einen Monat später: Anfang Dezember will die CDU ihren neuen Vorsitzenden wählen. Ob der Parteitag analog oder digital stattfindet, entscheidet sich wahrscheinlich bald.

Die Junge Union hat am Wochenende bewiesen, dass digitale Formate gut funktionieren. Sie lud Armin Laschet, Friedrich Merz und Norbert Röttgen zu einem Pitch ein. Jeder der drei Kandidaten durfte zu Beginn eine kleine Rede halten, dann wurden alle zu verschiedenen Themen befragt.

Völlig Neues hat man zwar nicht erfahren – so auch die Einschätzung meines Kollegen Tim Kummert. Und dennoch zeigte die Veranstaltung, dass sich der absolute Außenseiter Norbert Röttgen inhaltlich nicht hinter den beiden anderen Kandidaten verstecken muss – und rhetorisch schon gar nicht. Röttgen wäre dem Amt des Kanzlers von dem, was Personaler hard skills nennen, wohl sehr gut gewachsen.

Um Kanzler zu werden, reicht es allerdings nicht, Probleme intellektuell fundiert zu analysieren und rhetorisch gut auf den Punkt zu bringen, was zu tun ist. Es braucht eben auch die sogenannten soft skills, also etwa die Fähigkeit, Menschen für sich zu gewinnen und anderen das Gefühl zu vermitteln, sich für ihre Meinung ernsthaft zu interessieren.

Der schlaue und eloquente Herr Röttgen, da mag er noch so freundlich rüberkommen, gilt in der Union allerdings eher als Einzelgänger und auch ein bisschen als Besserwisser. Sein einstiger Spitzname "Muttis Klügster" war ja nicht gerade respektvoll gemeint.

Aber intellektuelle Überlegenheit ist natürlich kein Hindernis. Angela Merkel hat es damit sehr weit gebracht. Doch Röttgen leidet vor allem darunter, dass er sich 2012 nach der verlorenen NRW-Wahl zu schade war, vom Bund ins Land zu wechseln. Er wollte lieber von Berlin die Welt bereisen, als in der Düsseldorfer Altstadt zu beobachten, was enthemmte Weltbewohner allabendlich so alles anrichten können.

Menschlich mag das nachvollziehbar sein, politisch war es ein Fehler. Damals übernahm Armin Laschet, der zuvor intern gegen Röttgen verloren hatte, den zerrütteten Landesverband. Laschet ist ein leutseliger Mensch, der schon immer irgendwie da war, sich durch keinen Rückschlag entmutigen lässt und einfach weitermacht.

Wenn er auch in den nächsten Wochen einfach weitermacht, sich nicht von den eher bescheidenen Umfragen und den lauter werdenden Rufen nach Jens Spahn, seinem Kandidaten für den stellvertretenden Parteivorsitz, beeindrucken lässt, bleibt er der Favorit für die Wahl im Dezember. Er hat mehr Parteitruppen versammelt als Röttgen. Und ob Friedrich Merz seine zweite Wiederauferstehung genauso gut gelingt wie die erste, ist zumindest fraglich.

Deshalb sieht es derzeit danach aus, als sei es fast schon unvermeidbar, dass der nächste Kanzler Armin Laschet heißt. Auch, wenn er bei der Jungen Union keinen überragenden Auftritt abgeliefert hat. Auch, wenn nicht wirklich klar ist, wofür er genau steht. Auch, wenn er so wirkt, als wisse er selbst immer noch nicht, ob er das mit dem Kanzleramt überhaupt wollen soll.


Bundeskanzlerin Angela Merkel bittet heute rund 130 Vertreter unter anderem von Migrantenorganisationen und Religionsgemeinschaften zum 12. Integrationsgipfel. Mit dabei sind auch Bildungsministerin Anja Karliczek, Familienministerin Franziska Giffey und Arbeitsminister Hubertus Heil. Die Regierung will ihren Plan präsentieren, wie Menschen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Deutschland etwa durch Sprachförderung und Arbeitsvermittlung möglichst gut integriert werden sollen. Keine Frage: Reden ist immer gut. Handeln ist meistens allerdings noch besser.


In Trier beginnt am Morgen der Prozess um ein illegales Rechenzentrum in einem früheren Bunker. Die Anklage wirft den acht Tatverdächtigen vor, in der unterirdischen Anlage auf Servern Webseiten gehostet zu haben, über die Kriminelle aus aller Welt illegale Geschäfte abwickelten. Das klingt nach echten Einblicken in eine ganz besondere Unterwelt.


Es ist das älteste eigenständige Jüdische Museum in Deutschland: Am Mittwoch eröffnet nach rund fünfjähriger Sanierung und Erweiterung das Jüdische Museum Frankfurt. Die Pressekonferenz dazu ist bereits am Montag. Gezeigt werden in der neuen Ausstellung auch Objekte und Dokumente aus dem Besitz der Familie von Anne Frank. Laut Museum handelt es sich um die "weltweit erste Präsentation von Alltagsgegenständen, Briefen, Gemälden und Fotos dieser Art", die einen "Einblick in die Familiengeschichte der weltbekannten Frankfurterin" gibt. Schon allein das ist den Besuch wert.



Auch in der neuen Woche werden uns die wohl weiter steigenden Corona-Zahlen beschäftigen. Wie eine Übersicht des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten zeigt, steht Deutschland im Vergleich mit seinen Nachbarn zwar immer noch vergleichsweise gut da. Aber die Tendenz zeigt auch bei uns deutlich nach oben.

Häufig sind die Zahlen, die das Robert-Koch-Institut meldet, freitags am höchsten. Spätestens in vier Tagen könnte deshalb die Marke von 10.000 Neuinfizierten pro Tag gerissen werden. Dazu reicht ein Plus von rund 36 Prozent gegenüber dem vergangenen Freitag, als es 7.334 Fälle gab. Sollten die Zahlen tatsächlich erst am Freitag fünfstellig werden, wäre das immerhin auch eine kleine gute Nachricht: Denn zwischen dem 9. und 16. Oktober legte die Zahl der Neuinfektionen um über 60 Prozent zu, an den sieben Tagen davor sogar um mehr als 70 Prozent.


WAS LESEN?

Die Zahl der Neuinfektionen stieg zuletzt auch deshalb so stark, weil sich das Coronavirus längst nicht mehr nur in den Städten rasant ausbreitet. Eine der höchsten Sieben-Tages-Inzidenzen gibt es derzeit im Landkreis Bitburg-Prüm. Man tritt der Region nicht zu nahe, wenn man sie als ziemlich ländlich bezeichnet. Ein Kollege der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hat den Beigeordneten des Kreises gefragt, was in der Eifel los ist. Die Antwort von Michael Billen ist simpel, dürfte aber für große Teile der Republik gelten: "Anfang Oktober gab es hier eine private Party, da kamen zwei Leute mit Corona. Sie wussten halt nicht, dass sie infiziert waren. Am nächsten Abend sind die dann auf eine andere Party gegangen und haben wieder Leute angesteckt. Und ein paar von denen, die sich da infiziert haben, sind am dritten Abend auf eine weitere Feier gegangen."


Und trotzdem: Es besteht die nicht völlig unbegründete Hoffnung, dass es in wenigen Monaten einen Impfstoff gegen Corona geben könnte. Vielleicht sogar mehrere. Aber kommt dann auch die Normalität zurück? Werden Abstands- und Hygieneregeln 2021 hinfällig? Mit diesen Fragen hat sich auch das Robert-Koch-Institut beschäftigt – und kommt leider zu nicht ganz so euphorischen Antworten wie erhofft. Meine Kollegin Melanie Weiner hat das Wichtigste für Sie zusammengefasst.


Weil wir ja alle möglichst viel Zeit zu Hause verbringen sollen, dürften viele von Ihnen gestern den "Tatort" mit dem neuen Ermittlerinnen-Team aus Zürich gesehen haben. Eine von ihnen, Carol Schuler, erzählte meiner Kollegin Janna Halbroth, warum sie eigentlich nie "Tatort"-Kommissarin werden wollte – und welchen großen Nachteil die Schweizer Ausgaben des Fernsehklassikers haben.


WAS AMÜSIERT MICH?

Der Eindruck, dass der bayerische Ministerpräsident Markus Söder ständig und überall etwas zu sagen hat, drängte sich in den vergangenen Monaten geradezu auf. Langsam wird der CSU-Politiker allerdings etwas penetrant.

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche – ob im Büro, Home Office oder sonstwo. Ab morgen kommentiert hier wieder Florian Harms die Themen des Tages für Sie.

Ihr

Sven Böll
Managing Editor t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Twitter: @SvenBoell

Mit Material von dpa.

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