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Ramelow-Niederlage in Thüringen: Jetzt braucht es ein Machtwort von Angela Merkel


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Was heute wichtig ist
Thüringen-Tumult: Es braucht ein Machtwort der Kanzlerin

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 06.02.2020Lesedauer: 7 Min.
Angela Merkel: Eine klare Ansage der Kanzlerin könnte den Thüringer Tumult vielleicht auflösen.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel: Eine klare Ansage der Kanzlerin könnte den Thüringer Tumult vielleicht auflösen. (Quelle: imago-images-bilder)
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Guten Morgen aus Pretoria, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

"Erschreckend!", "unfassbar!", rufen die einen – "super!", jubeln die anderen, "endlich haben wir es den Altparteien gezeigt!": Das Ergebnis der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen lässt die politische Landschaft erbeben. Formal lief die Abstimmung korrekt ab – aber wie der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mithilfe der AfD und offenkundig auch der CDU an die Macht gelangt ist, das ist ein Skandal. "Dieser Tag wird in die Geschichte eingehen als eine Schande für Deutschland", kommentiert mein Kollege Tim Kummert. Die Thüringer AfD ist anders als die AfD in anderen Bundesländern. Sie wird von Björn Höcke geführt, einem Mann, in dem nicht nur politische Gegner, sondern auch der Verfassungsschutz einen Rechtsradikalen sieht (hier eine Auswahl seiner Zitate). Mit diesem Landesverband zu kooperieren, und sei es nur bei einer geheimen Wahl, verbietet sich für jeden Demokraten.

Es braucht jetzt einen Schulterschluss der gemäßigten Kräfte. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer zeigt klare Kante und fordert Neuwahlen – doch ihre Autorität reicht nicht bis Erfurt, der dortige CDU-Landeschef Mike Mohring spielt sein eigenes Spiel. FDP-Chef Christian Lindner eiert hin und her: Er hätte gern, dass CDU, SPD und Grüne nun seinen Mann unterstützen; nur wenn das nicht gelinge, brauche es eben Neuwahlen. Auch viele andere Bundes- und Landespolitiker tun sich mit Protestbekundungen und Ratschlägen hervor.

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Was in dem Stimmengewirr fehlt, ist eine allseits akzeptierte Autorität. Eine Stimme, die klipp und klar feststellt: Ein deutscher Regierungschef darf sich nicht von Rechtsextremisten abhängig machen, weder im Bund noch in einem Land. Tut er es doch, verbietet sich allen anderen Parteien die Zusammenarbeit mit ihm. Deshalb braucht es jetzt ein breites Bündnis des demokratischen Lagers, und dazu gehört in Thüringen auch die Linkspartei.

Eine Person hatte früher die Autorität, so eine Ansage zu machen. Selbst wenn sie inzwischen viel davon eingebüßt hat, selbst wenn sie nicht mehr CDU-Vorsitzende ist: Ein Machtwort oder wenigstens eine klare Empfehlung von Angela Merkel könnte den Thüringer Tumult vielleicht auflösen. Heute Vormittag um 10.15 Uhr deutscher Zeit bekommt sie auf einer Pressekonferenz die Gelegenheit dazu. Im fernen Südafrika zwar, aber auch da ist die deutsche Innenpolitik plötzlich ganz nah. Ob sie die Chance nutzt?


WAS STEHT AN?

In Deutschland neigen wir dazu, alles Mögliche zu beklagen. Zu viel Kriminalität, zu wenig Wirtschaftswachstum, schlappe Klimapolitik, schlechtes Bildungssystem. Das mag alles richtig sein, aber wir klagen auf hohem Niveau. Wie hoch, das begreift man manchmal erst dann, wenn man die Perspektive wechselt und sich die Lage andernorts anschaut.

Angela Merkel nimmt gerne andere Perspektiven ein, als Naturwissenschaftlerin hat sie sich die Neugier auch im Regierungsamt bewahrt und bildet sich erst dann ein Urteil, wenn sie einen Sachverhalt gründlich von allen Seiten beleuchtet hat. Im Ausland bekommt sie dazu oft Gelegenheit. Im selben Maße, in dem ihr Interesse an der Innenpolitik gegen Null zu tendieren scheint, in dem sich ihre Koalitionäre bei der Grundrente in einem gordischen Knoten verheddern, den auch die Chefin nicht zerschlagen mag, in dem sie den unionsinternen Machtkampf um ihre Nachfolge eher distanziert beobachtet als mitgestaltet, wächst ihr Engagement in der Außenpolitik. Innenpolitisch hat Merkel getan, was sie tun konnte (oder wollte): der Atomausstieg, die Rettung der Banken und Sparguthaben nach der Eurokrise, die liberale Flüchtlingspolitik, die Abschaffung der Wehrpflicht, ein bisschen Klimaschutz, ein bisschen Steuern gesenkt. Viel mehr wird in ihrer Amtszeit nicht mehr drin sein.

Außenpolitisch jedoch kann sie in den verbleibenden Monaten noch viel bewegen. Im Sommer übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft und kann die wegweisenden Verhandlungen über den Haushalt der kommenden Jahre prägen. Die Umweltpolitik, der Einsatz für gleiche Lebensbedingungen überall in Europa und der Kampf gegen Steuerschlupflöcher, aber auch die Asylpolitik und die Verteilung von Flüchtlingen stehen dann in Brüssel auf der Tagesordnung – und können durch Geldströme gelenkt werden. Angela Merkel dürfte versuchen, diesen Grundsatzthemen ihren Stempel aufzudrücken: konsequent auf den europäischen Grundwerten beharrend, die Interessen der kleinen EU-Länder wahrend – aber mit der Überzeugung, dass Lohn und Lasten gleichmäßig verteilt sein müssen. Wenn Herr Orban also partout keine Flüchtlinge aufnehmen will und die polnische Regierung auf das Rechtsstaatsprinzip pfeift, dürfen sie bei der Verteilung der EU-Milliarden keine gesteigerte Solidarität von der Bundeskanzlerin erwarten.

Und dann ist da noch Afrika. Zu Beginn ihrer Kanzlerschaft zeigte Merkel kein großes Interesse an dem riesigen Kontinent. Ganz anders heute. Sie hat erkannt, dass die Stabilität Europas auch von den Entwicklungen südlich des Mittelmeers abhängt. Kommt es dort zu Kriegen, Dürren, Misswirtschaft und Flüchtlingsströmen, spüren wir die Folgen früher oder später auch bei uns. Deshalb pflegt Merkel den regelmäßigen Austausch mit den demokratischen Regierungschefs Afrikas, deshalb hat sie kürzlich den Libyen-Gipfel ausgerichtet, deshalb ist sie gestern elfeinhalb Stunden lang nach Südafrika geflogen und verbringt heute siebeneinhalb Stunden mit dessen Präsident Cyril Ramaphosa, "nonstop von neun bis halb fünf", wie sie sagt. Dass sich die deutsche Kanzlerin so viel Zeit für einen Amtskollegen am anderen Ende der Welt nimmt, ist als klares Zeichen zu verstehen: Sie will Ramaphosa, der erklärtermaßen mit dem Filz in der Regierungspartei ANC aufzuräumen versucht, in prekärer Situation unterstützen.

Oberflächlich betrachtet ist Südafrika ein Champion. Die Natur ist traumhaft schön, die Tierwelt mannigfaltig, die Gerichte sind weitgehend unabhängig, die Finanzwirtschaft floriert, die Universitäten bringen Spitzenwissenschaftler hervor. Nicht zu vergessen: Deutschland ist Südafrikas zweitwichtigster Handelspartner.

Doch unter der glänzenden Oberfläche rumoren riesige Probleme:

Die Vetternwirtschaft und das Missmanagement des ANC ruinieren das Land. Den staatlichen Energiekonzern Eskom haben korrupte Funktionäre wie eine Weihnachtsgans ausgenommen, das hoch verschuldete Unternehmen kann die Bevölkerung nicht mehr verlässlich mit Strom versorgen. Nahezu täglich kommt es zu Blackouts.

Das Land schert sich kaum um den Klimaschutz; 90 Prozent des Stroms stammen aus der Kohleverbrennung. Es baut ein Kohlekraftwerk nach dem anderen und verkauft das "schwarze Gold" auch zuhauf nach Übersee. Kaputte Umwelt, kranke Arbeiter, enteignete Bauern: Die Schäden der Kohlewirtschaft sind verheerend.

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Wirtschaftlich steht Südafrika am Rande einer Rezession. Die Arbeitslosenquote ist auf fast 30 Prozent hochgeschnellt, unter Jugendlichen beträgt sie sogar 60 Prozent. Die Staatsverschuldung ist enorm, Rating-Agenturen haben die Kreditwürdigkeit des Landes auf Ramschniveau gesenkt, weshalb viele Investoren das Weite suchen.

Das Bildungssystem ist eine Trümmerlandschaft und von extremer Ungleichheit geprägt: Zwar wird nicht mehr nach Hautfarbe diskriminiert, dafür aber per Schulgebühr. Die meisten Eltern können sich keine anständige Bildung für ihre Kinder leisten – mit entsprechendem Ergebnis: Fast vier von fünf Viertklässlern scheitern daran, einen Satz zu lesen und zu verstehen. Sechs von zehn Fünftklässlern können keine ganzen Zahlen addieren oder subtrahieren. Die Mathefähigkeiten der Lehrer sind kaum besser – doch sind sie faktisch unkündbar, selbst in Fällen sexueller Belästigung.

Die Kriminalität ist eine Plage: Raubmorde und Überfälle brutaler Gangs sind an der Tagesordnung. Die Zahl der Vergewaltigungen ist unerträglich hoch, der Präsident hat die Gewalt gegen Frauen zur nationalen Krise erklärt. Auch die Mordrate zählt zu den höchsten weltweit: Jährlich sind es 36 Morde pro 100.000 Einwohner (in Deutschland ist es einer). Das wäre so, als ob in einer Stadt wie Gütersloh, Cottbus oder Hildesheim jedes Jahr 36 Menschen umgebracht würden. Die Regierung weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als die Armee gegen die Gangs loszuschicken.

Die soziale Ungleichheit zwischen wenigen Reichen und vielen Armen ist extrem, hier liegt Südafrika weltweit auf dem unrühmlichen zweiten Platz.

Hinzu kommt der grassierende Rassismus, nicht mehr in erster Linie zwischen Weißen und Schwarzen. Opfer brutaler Übergriffe sind vor allem illegale Einwanderer aus anderen afrikanischen Staaten.

Auch Aids plagt das Land nach wie vor. Ein Fünftel aller HIV-Infizierten der Welt lebt in Südafrika, und auch ein Fünftel aller weltweiten Neuinfektionen geschehen dort. Anders als seine Vorgänger verbietet Präsident Ramaphosa keine Aufklärungskampagnen, aber gesteigertes Interesse an dem Thema zeigt er auch nicht.

Sicher: Die meisten Probleme Südafrikas gehen auf die Zeit der Apartheid zurück, in der Schwarze als Menschen zweiter Klasse in Townships zusammengepfercht, von Bildung ferngehalten und dem Gesetz des Stärkeren überantwortet wurden. Doch 26 Jahre nach dem Ende der Rassentrennung kann sich der dauerregierende ANC nicht mehr aus deren Erblasten herausreden. Südafrika steht jetzt auf der Kippe: Taumelt es endgültig in Chaos, Brutalität und Unregierbarkeit – oder schafft es noch den Umschwung? Im ersten Fall würde es seine Konflikte bald auch in andere Länder exportieren, im zweiten Fall kann es zu einem Stabilitätsanker in einer gebeutelten Weltregion reifen. Orientiert es sich dann aber am rücksichtslosen Wachstumsmodell Chinas und beutet die Umwelt ebenso brutal aus, hat der Klimaschutz in Afrika erst recht keine Chance. Die Folgen wären langfristig rund um den Globus zu spüren.

Deshalb ist Angela Merkel heute hierhin gereist: Sie setzt ihr internationales Renommee ein, um Präsident Ramaphosa zu unterstützen. Um ihn zu ermuntern, seine begonnenen Reformen beherzt weiterzuführen. Und um ihn sanft daran zu erinnern, dass der europäische Weg – Rechtsstaatlichkeit, sozialer Ausgleich, Klimaschutz durch moderne Technologien – nachhaltiger ist als der chinesische Ausbeutungskapitalismus. All das kann die Kanzlerin heute an den Mann bringen. Und wenn es sie siebeneinhalb Stunden ihrer kostbaren Zeit kostet. Für die Außenpolitik scheint sie es gern zu tun.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Die Dresdner Semperopernball-Farce zieht immer noch Kreise. Weil Ägyptens Diktator al-Sisi im Vorfeld des Balls zunächst mit einem Orden geehrt wurde, hagelte es Absagen und Proteste. Kareem Taha versteht diese Reaktionen. Meiner Kollegin Maria Holzhauer hat er erzählt, was er in einem ägyptischen Foltergefängnis erlebte.


Erst kürzlich hatte ich an dieser Stelle seinen 103. Geburtstag vermeldet, jetzt müssen wir uns von ihm verabschieden: Kirk Douglas hat es nun doch vorgezogen, in höheren Gefilden mit seiner Schauspielkunst zu brillieren. Wer Filme mag, der wird um ihn trauern – und sich schnell noch einmal eine seiner knuffigsten Szenen ansehen.


WAS AMÜSIERT MICH?

Ein kleiner Dialog im Flugzeug, ich denke, ich darf ihn hier ausnahmsweise zitieren:

Die Kanzlerin sitzt mit Journalisten beisammen und erläutert, was sie in Südafrika so alles vorhat. Kommt einer ihrer Berater und reicht ihr einen Cappuccino mit reichlich Milchschaum.

Kanzlerin: "Für wen?"
Berater: "Für Sie!"
Kanzlerin: "Ich trinke NIE Kaffee mit Milchhaube!"
Berater: "Oh!"
Eine Journalistin: "Aber ich!"
Kanzlerin: "Na dann, bitte schön, viel Freude damit!"

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen Tag mit viel Freude.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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