Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Trumps Einzug in die selbst verschuldete Unmündigkeit
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages. Heute in Stellvertretung für Florian Harms:
WAS WAR?
Bei der Leichtathletik-WM vor zwei Jahren in London musste sich Deutschland mit einer einzigen Goldmedaille zufrieden geben. Vor so einem Ergebnis bewahrte uns gestern in Doha ein Engel, wortwörtlich. Die 25-jährige Malaika (Kisuaheli für "Engel") Mihambo aus Heidelberg holte im Weitsprung die zweite Goldmedaille für Deutschland. Sie sprang sprichwörtlich über sich selbst hinaus: 7,30 Meter ist Weltjahresbestleistung und 14 Zentimeter über ihrem eigenen Rekord. Gratulation!
Während in Doha die Sportler um Höchstleistungen ringen, bemüht sich der Regierende im Weißen Haus an immer neuen Minderleistungen – geistiger Art. In den vergangenen Tagen belegte US-Präsident Donald Trump die Welt vor allem mit immer neuen bodenlosen geistigen Ergüssen per Twitter. Man möchte ihn kaum zitieren, deshalb nur ein Tweet, exemplarisch, vom Freitag: "Mitt Romney wusste nie, wie man gewinnt. Er ist ein aufgeblasener 'Arsch', der mich von Anfang an bekämpft hat (...)". Eine solche Wortwahl gegenüber einem Parteifreund? Ruft kaum noch Verwunderung hervor. Ein solche Wortwahl von einem Präsidenten? Nicht einmal das erschüttert das politische Amerika noch.
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Es ist da etwas kaputt gegangen, was über Twitter hinausreicht.
Gemessen an der Entwicklung der Menschheit ist das Zeitalter der Aufklärung, der Dominanz von Wissen und Bildung, unfassbar jung. Es ist das Jahr 1784, da zitiert Immanuel Kant den lateinischen Dichter Horaz mit dessen Worten: "Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" – dieser Satz wird schließlich zum Wahlspruch der Moderne.
Wie unglaublich weit hat sich Trump hiervon entfernt.
Ohne Scham forderte er vergangene Woche öffentlich, China und die Ukraine sollten gegen seinen Kontrahenten Joe Biden und dessen Sohn ermitteln. Die Öffentlichkeit attackiert er mit immer neuen geistigem Stumpfsinn, kalkuliert. "Operation Abstumpfung" nennt unser Washingtoner Korrespondent Fabian Reinbold das in seiner aktuellen Kolumne. Trump ist der Anti-Aufklärer.
Twitter ist sein Lieblingskanal. Knapp 35.000 Mal wurde sein Romney-Tweet weiterverbreitet, knapp 138.000 Mal gefiel er anderen. Besser als jede Pressekonferenz, muss Trump denken. Trump liebt die Aufmerksamkeitsheischerei mit Tweets, nicht die geistige Auseinandersetzung mit der Welt.
Doch ihn und seine geistigen Weggefährten trifft wenig Schuld am derzeitigen Zustand des öffentlichen Amerika. Seine Wähler wollten das vermeintliche Establishment nicht mehr regieren sehen. Die Gefahr, die von einem Mann vom geistigen Schlage Trumps hervorgeht – für den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land, für das fragile globale politische Gleichgewicht, für die Fortschritte beim Klimaschutz, all das ist seinen Anhängern herzlich egal. Die Aufklärung, ihre Werte und Errungenschaften bedeuten ihnen nichts.
Das Internet hat sich inzwischen einen Ruf erarbeitet, Trump ist da nur ein prominentes Beispiel. Da wird gepöbelt und gehetzt, Abstumpfung und Verrohung sind (in einigen Ecken) an der Tagesordnung. Das ist das Gegenteil der geistigen Haltung der Aufklärung. Es negiert sie.
Bis "Hate Speech" im Duden als Begriff geführt wird, fehlt nicht mehr viel.
Vergangene Woche urteilte der Europäische Gerichtshof deshalb, Facebook könne verpflichtet werden, Anfeindungen gegen einzelne Personen weltweit zu löschen. Selbst ähnliche Kommentare – sofern mit Maschinen aufzuspüren – müssten entfernt werden. Man darf juristisch darüber diskutieren, ob europäische Urteile weltweit gelten können und sollen. Der Versuch des EuGH, die Aufklärung zu retten, ist ehrbar. Auf jeden Fall zeigt es, dass die alten staatlichen Grenzen es kompliziert machen, solche Probleme zu lösen.
Historisch gesehen ist nicht absehbar, wohin diese geistige Verrohung führt. Das Fazit ziehen Historiker immer erst im Nachhinein.
Sicher ist: Trumpismus ist nicht förderlich für das Lösen von Problemen in einer komplexen globalisierten Welt. Sie gerät leicht aus den Fugen – wenn Trump Strafzölle verhängt, Bolsonaro den Regenwald abholzen lässt oder China einen neuen Protektionismus aufbaut. Was fehlt? Gemeinsame Ziele, gemeinsame Werte, funktionierende politische Regularien.
Die Aufklärung war bislang eine recht passable Grundlage. Vor Kants Vernunft müssen sich alle gleichermaßen verantworten: Staat, Religion, Bürger. Doch als gesellschaftliche Verabredung scheint die Aufklärung zutiefst infrage gestellt. Dabei brauchen wir eine solche Basis über alle Grenzen hinweg dringender denn je.
Allein Mitt Romney dürfte bald eine Genugtuung zuteil werden: Wenn die US-Senatoren final über die Amtsenthebung von Donald Trump entscheiden, wird er eine von einhundert Stimmen abgeben dürfen.
WAS STEHT AN?
Heute vor 30 Jahren, am 7. Oktober 1989, gründeten zwischen 40 und 50 Menschen in Schwante bei Berlin die SDP, die Sozialdemokratische Partei in der DDR.
Vor Jahren durfte ich mehrere der ersten SDPler kennenlernen, im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Bis heute erfüllt mich ein tiefer Respekt vor ihrem Mut: Sie trafen sich in Wohnzimmern, um Demokratie zu üben in einem Land, in dem es keine Demokratie gab. Erst nach der Wende erfuhren sie: Auch bei ihnen saß die Stasi mit am Tisch. Die Aussicht auf Repression und Gefängnis hielten sie nicht mehr davon ab, nach vorn zu sehen. In eine damals sehr ungewisse Zukunft.
Diese Zukunft hat sie dann sehr schnell überrollt. Schon im Januar nannte sich die SDP in SPD um. Aus zwei Sitzen am Runden Tisch wurde im April 1990 eine Regierungsbeteiligung mit sechs Ministern in der ersten demokratisch gewählten Regierung. Und kein Jahr nach der Parteigründung schloss sich die Partei am 26. September 1990 mit der westdeutschen SPD zusammen. Was blieb? Vor allem der Zusammenhalt der ersten Tage. Und in der Republik wirkten prominente Vertreter wie Regine Hildebrandt, Reinhard Höppner oder Wolfgang Thierse und viele andere weiter.
Es ist Nobelpreiswoche. Heute um 11.30 Uhr wird zunächst der oder die Gewinnerin des Medizin-Nobelpreises bekannt gegeben. Wir werden Sie natürlich auf dem Laufenden halten. Das Nobelpreis-Komitee selbst bietet ebenfalls einen Livestream.
Den Namen "Extinction Rebellion" werden wir uns wohl ab heute merken müssen. Die Bewegung will in Berlin zivilen Ungehorsam für den Klimaschutz üben. Straßen und Plätze sollen blockiert werden. Bereits im Frühjahr besetzten deren Aktivisten in London eine Woche lang Brücken über die Themse. Nun soll die Aktion weltweit in mehreren Städten wiederholt werden. Wenn Sie in Berlin wohnen, nehmen Sie also heute besser das Rad oder den öffentlichen Nahverkehr, wenn Sie unterwegs sind. Hilft ja, dem Klima.
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Apropos Klima. Wo bleibt eigentlich das Klimaschutzpaket? Richtig. Die Regierung will es am Mittwoch als Gesetzentwurf im Kabinett verabschieden. Doch einiges ist auf dem Weg schon wieder verloren gegangen. Ein CO2-Ziel bis 2040 findet sich gar nicht mehr im Entwurf. Vor allem aber will die Regierung nun keinen jährlichen Bericht und auch keine Nachjustierung mehr ins Gesetz schreiben.
Durchgesetzt haben soll die Änderungen die Union. Mir scheint, dort hat man die letzten Wahlergebnisse zu schnell verdrängt.
WAS LESEN ODER ANSCHAUEN?
Meckerstimmung ist ein vermutlich sehr deutsches Wort. Es steht auch in Zusammenhang mit dem Ende der DDR, so der Historiker und Zeitzeuge Stefan Wolle. Meinem Kollegen Marc von Lüpke erzählte Wolle, wie ambitioniert die DDR 1949 gegründet worden war – und wie schnell sich der Traum von der sozialistischen Gesellschaft erschöpfte. Vor allem aber kritisiert Wolle die seiner Meinung nach miese Stimmung in der Gegenwart. Die "Meckerstimmung" hält er für ein "Relikt der DDR". Meine Kollegin Sandra Sperling wiederum hat zusätzlich beeindruckendes historisches Filmmaterial zusammengestellt. Lesens- und sehenswert.
DIE GUTE NACHRICHT
Googeln Sie mal das Wort Quantenüberlegenheit (nein, bitte nicht jetzt). Es beschreibt die Herausforderung, dass neuartige Quantencomputer eines Tages leistungsstärker sind als Supercomputer. Eines Tages? Wissenschaftler prognostizierten, es könne noch dieses Jahr soweit sein. Und so kam es jetzt auch. Ein Team von Google hat es geschafft, eine speziell für Quantencomputer ausgelegte Aufgabe in 3 Minuten und 20 Sekunden lösen zu lassen. Ein Supercomputer hätte für die gleiche Aufgabe etwa 10.000 Jahre benötigt.
Was daraus folgt? Erst einmal noch nicht viel. Erst in zehn bis fünfzehn Jahren sollen Quantencomputer im praktischen Einsatz sein. Schätzen Wissenschaftler.
WAS AMÜSIERT MICH?
Deutschland ist seit 29 Jahren wiedervereint? Mitnichten, das Land ist immer noch geteilt!
Ich wünsche Ihnen nun erst einmal einen geistreichen Start in die Woche. Morgen schreibt wie gewohnt Florian Harms an dieser Stelle.
Ihr
Peter Schink
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Twitter: @peterschink
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