Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist 200 Milliarden Dollar
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Wir sehen einen strahlenden Sieger. Schneidig, aber nicht überheblich. Blitzblank das Erscheinungsbild, vorteilhaft in jede Fernsehkamera gerückt. Mehr als 38 Prozent der Stimmen hat Sebastian Kurz mit seiner ÖVP bei der österreichischen Nationalratswahl errungen. Wobei, eigentlich spielte die ÖVP dabei kaum eine Rolle. Der Wahlkampf war voll und ganz auf den Spitzenkandidaten zugeschnitten, die ÖVP könnte sich in SKW umbenennen, Sebastian-Kurz-Wahlverein. Fast sieben Prozent hat der 33-Jährige im Vergleich zur letzten Wahl vor zwei Jahren hinzugewonnen.
Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, was zwischen den beiden Abstimmungen lag: einer der größten Politskandale in der Geschichte der Alpenrepublik. Der Vizekanzler Strache von der FPÖ vor versteckter Kamera als schmierig-korrupter Politclown entlarvt – und Sebastian Kurz war der Mann, der diesen Typen und seine Kumpane durch ein umstrittenes Bündnis an die Macht geholt hatte.
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Es hat ihm nicht geschadet. Im Gegenteil. Dank seinen hohen Popularitätswerten und getragen von positiven Wirtschaftsdaten, triumphiert er als Saubermann, der die "Ibiza-Affäre" Kurz-entschlossen zur Mehrung seiner Macht nutzt. Wie auch immer man politisch dazu stehen mag, taktisch ist das eine Meisterleistung. Die rechtspopulistische Post-Strache-FPÖ: abgewatscht, fast minus neun Prozent. Die SPÖ unter ihrer ausstrahlungsarmen Chefin Pamela Rendi-Wagner: abgestürzt, minus fünf Prozent. Nur eine Kraft egalisiert Sebastian Kurz‘ Triumph: Den Grünen gelingt die Wiederauferstehung aus der politischen Versenkung, beflügelt vom erwachten Klimabewusstsein gewinnen sie mehr als acht Prozent hinzu. Österreichs bekanntester Journalist Armin Wolf nennt es das "größte Comeback, das es je in der österreichischen Politik gegeben hat".
Auch andere Wiener Medien finden deutlich Worte. "Zu Ende gegangen ist ein eher zäher Wahlkampf, der zwar ein erschreckendes Bild der verlotterten Sitten in Teilen unserer Parteienlandschaft gezeichnet hat, jedoch arm an neuen Ideen für die wirklich drängenden Probleme unserer Zeit war", kommentiert "Standard"-Chefredakteur Martin Kotynek. "In den kommenden Wochen wird sich entscheiden, ob Österreich eine Regierung findet, die das Land gut durch das aufziehende Schlechtwetter führen wird. Das wird Sebastian Kurz’ Bewährungsprobe."
Ob erneut mit der FPÖ (naheliegend, aber riskant), mit der SPÖ (unbeliebte große Koalition) oder mit den Grünen (aufsehenerregend, aber programmatisch schwierig): Sebastian Kurz kann sich sein Regierungsbündnis wohl aussuchen. Auch das weist darauf hin, dass das nächste österreichische Kabinett nur einen einzigen Star haben wird. Das verschafft ihm großen Einfluss – und ist zugleich ein großes Risiko: Wenn nur einer strahlt, bleiben die anderen im Schatten. Und wo Dunkelheit herrscht, ist Platz für zweifelhafte Praktiken.
Er schmeckt würzig-nussig und kitzelt den Rachen mit einer süßlichen Note: Ja, so mundet uns der Emmentaler Käse. Wenn wir heute Morgen ins Frühstücksbrötchen beißen, dürfen wir eine kleine Analogie ziehen und uns die deutsche Steuerpraxis als Emmentaler vorstellen. Denn die ist löchrig wie ein Schweizer Käse.
Wissenschaftler der Universitäten Berkeley und Kopenhagen haben das Ergebnis ihrer jüngsten Forschungen zur weltweiten Steuerentwicklung vorgelegt. Demnach fließen rund um den Globus 40 Prozent der Unternehmensgewinne in Steueroasen ab: enorme 650 Milliarden Dollar. So gehen den Staaten fast 200 Milliarden Dollar an Steuereinnahmen flöten. Nicht einmalig, nicht gelegentlich, sondern jedes Jahr. Beispiel Google: Der Digitalriese aus Kalifornien, der sich mit dem Unternehmensmotto "Don‘t be evil" schmückt, meldete den Wissenschaftlern zufolge im Jahr 2017 auf den Bermudas einen Gewinn von 23 Milliarden Dollar. Nicht, weil er dort so viel erwirtschaftet hatte. Sondern weil die Körperschaftsteuer dort 0 Prozent beträgt. Ziemlich evil, oder?
Am schlimmsten trifft die Steuertrickserei aber nicht den amerikanischen Staat – sondern die EU-Länder und darunter ganz besonders Deutschland. Laut der Erhebung gehen der Bundesrepublik jährlich die Steuern für 29 Prozent der Unternehmensgewinne verloren, weil Firmen die betreffenden Summen in Steueroasen verschieben.
Während wir uns ausmalen, wie viele Bahnschienen, Sozialwohnungen oder Rentenerhöhungen der Bund von diesem Geld finanzieren könnte, bleibt uns der Käsebrötchenhappen im Halse stecken. Nur mit der Hoffnung, dass die neue EU-Kommission den Steuertricksern endlich Einhalt gebietet, kriegen wir ihn hinuntergespült.
WAS STEHT AN?
In Dresden beginnt heute der Prozess gegen die mutmaßlichen Rechtsterroristen der Terrorgruppe "Revolution Chemnitz". Nach dem Mord an Daniel H. im Sommer 2018 sollen die acht Männer aus der Umgebung der sächsischen Stadt beabsichtigt haben, mit Anschlägen den deutschen Rechtsstaat anzugreifen.
In Erfurt wird der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses "Rechtsterrorismus und Behördenhandeln" vorgestellt. Er zeigt, wie systematisch Polizei, Justiz und Verfassungsschutz in Thüringen bei der Suche nach den NSU-Terroristen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe versagten.
In Regensburg beginnt der Prozess um den Bayern-Ei-Skandal. Angeklagt ist der frühere Geschäftsführer der niederbayerischen Firma. Im Jahr 2014 sollen mindestens 187 Menschen in Deutschland, Österreich und Frankreich an Salmonellen erkrankt sein, einer starb.
Im Europaparlament in Brüssel beginnen die Anhörungen der designierten EU-Kommissare. Vermutlich werden nicht alle das Kreuzverhör überstehen.
DIE GUTE NACHRICHT
Falls Sie sich für Zeitgeschichte interessieren, sollten Sie Bonn einen Besuch abstatten. Im dortigen Landesmuseum öffnet die Ausstellung "Fotografie in der Weimarer Republik" ihre Pforten. Gezeigt werden 350 Fotos, Bücher und Zeitschriften aus der Zeit zwischen 1918 und 1933. Eine historische Fundgrube.
WAS LESEN?
Im deutschen Journalismus macht sich ein merkwürdiges Phänomen breit: Wer regelmäßig über die Klimakrise schreibt, wird häufig belächelt, verspottet oder gar als linker Ökoaktivist angeprangert. Dabei geht es gar nicht um links oder rechts, und es muss auch nichts mit Sympathie für die Grünen zu tun haben, wenn man den Umwelt- und Klimaschutz als größte Herausforderung unserer Zeit beschreibt. Eine Herausforderung, zu der jeder etwas beitragen kann. Wer nur mit dem Finger auf andere zeigt, stiehlt sich aus der Verantwortung. Es ist wie bei einem sinkenden Kahn: Wenn niemand am Ufer nach der rettenden Leine greift, sondern alle darauf warten, dass ein anderer als Erster zupackt, säuft der Kahn ab. Das ist die Realität, vor deren Hintergrund der "taz"-Kollege Peter Unfried die deutsche Medienszene aufs Korn nimmt. Seine These: "Das Versagen des politischen Journalismus besteht in der Ignoranz gegenüber der Erderhitzung."
Ja, Sie sehen richtig. Bei dieser körperlosen Dame handelt es sich um "Lady Liberty", das weltberühmte Wahrzeichen New Yorks. Anno 1878 befand sich die Freiheitsstatue allerdings noch weit entfernt von Amerika – und war nicht mehr als ein Kopf und ein Arm. Denn ihrem Schöpfer Frédéric-Auguste Bartholdi fehlte das Geld, um das Denkmal zu vollenden. Also präsentierte er den Kopf auf der Pariser Weltausstellung, um die Franzosen zu Spenden zu animieren. Wie das gelang, erzählt Ihnen mein Kollege Marc von Lüpke in unserer Rubrik "Historisches Bild" (dort bitte rechts auf die Fotos klicken).
Sexistische Sprüche auf der Weihnachtsfeier, Impfgegner beim Geburtstagsessen, islamfeindliche Kommentare auf Facebook: Jeder kennt Situationen, in denen er mit Halbwahrheiten oder einem problematischen Weltbild konfrontiert wird. Was entgegnet man, wenn jemand den menschengemachten Klimawandel leugnet oder an eine jüdische Weltverschwörung glaubt? Meine Kollegin Franzi von Kempis liefert in ihrem heute erscheinenden Buch Argumente und Fakten. So kann sich jedermann sicherer fühlen, wenn er obskuren Parolen etwas entgegensetzen will.
WAS AMÜSIERT MICH?
Berichten wir vielleicht zu viel über den Herrn im Weißen Haus?
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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