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Tagesanbruch: Hetze auf Facebook, Twitter & Co. – wie kann man so blind sein?


Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Was heute wichtig ist
Wie kann man so blind sein?

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 09.07.2019Lesedauer: 6 Min.
Historische Schilder von Staatsanwaltschaft und Gerichten in Wiesbaden.Vergrößern des Bildes
Historische Schilder von Staatsanwaltschaft und Gerichten in Wiesbaden. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Fünf Wochen sind seit dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vergangen. Mehrere Tage lang debattierte die Republik aufgeregt über den erstarkenden Rechtsextremismus, braune Terrornetzwerke und überforderte Sicherheitsbehörden. Inzwischen hat sich die Aufregung gelegt und ist der Routine gewichen. Wie üblich im Nachrichtenzirkus sind andere Themen in den Vordergrund gerückt, schon an den Zugriffszahlen der Artikel lässt sich feststellen: Das Thema scheint in der geneigten Leserschaft nur noch auf geringes Interesse zu stoßen. Das kann man keinem Leser vorwerfen. Die Materie ist unangenehm und unbequem. Draußen ist Sommer, die Urlaubszeit hat begonnen, wer will sich da mit Hetzern und Mördern beschäftigen?

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Wenn hingegen Ermittlungsbehörden ebenso denken wie urlaubsreife Bürger, kann man ihnen nicht nur Vorwürfe machen. Man muss es sogar. Von der Verrohung der Sprache schrieb ich hier nach dem Mord an Walter Lübcke und davon, wie Politiker den gesellschaftlichen Frieden durch martialische Formulierungen vergiften.

Noch schlimmer sind aber jene Widerlinge, die in den sozialen Medien andere Menschen beschimpfen, erniedrigen und mit dem Tod bedrohen. Jeden einzelnen Tag schwappen uns auf Facebook, YouTube und Twitter abscheuliche Botschaften entgegen. Stellt man sich gegen diesen Hass, das darf ich Ihnen aus eigener Erfahrung berichten, sieht man sich schnell einer Welle aus Anfeindungen, Häme und kaum verhohlenen Drohungen gegenüber. Die Chefs von Facebook, Twitter und der YouTube-Mutter Google waschen ihre Hände derweil in Unschuld. Sie haben eine Reihe ebenso komplizierter wie wirkungsloser Meldemechanismen ausgetüftelt, mittels derer sie Politiker beruhigen und empörte Nutzer in einen Dschungel aus widersprüchlichen Formularen lotsen, an dessen Ende so gut wie jeder entnervt aufgibt und seine Beschwerde ad acta legt. Weder das SPD-geführte Bundesjustizministerium noch die EU-Kommission haben das Problem bislang angepackt. Bei einem Blick auf die vielen Millionen Euro, mit denen Facebook und Google Ihre Lobbyisten in Brüssel ausstatten, drängt sich der Eindruck auf, das Interesse zum Einschreiten aufseiten der Politik ist nicht von ungefähr so gering.


Diese Entwicklung hat Folgen. Wenn Regierende und Gesetzgeber signalisieren, dass ihnen der Hass in den sozialen Netzwerken egal ist, braucht sich niemand zu wundern, wenn Staatsanwaltschaften und Gerichte sich daran orientieren. Beispiel gefällig? Kein Problem, es gibt zahllose. Um Ihre Geduld heute Morgen nicht über Gebühr zu strapazieren, belasse ich es bei einem: Im Sommer 2018 erstattete einer meiner Kollegen Anzeige wegen eines Hasskommentars auf Facebook sowie wegen eines weiteren Postings, das nicht anders verstanden werden kann denn als Tötungsaufruf. Beide erschienen unter einem Artikel zum Mord an Susanna F. und richteten sich offenkundig gegen den mutmaßlichen Täter.

Die zuständige Staatsanwaltschaft in Wiesbaden hatte es nicht eilig, sich um den Fall zu kümmern. Erst jetzt, ein Jahr später, bequemte sie sich zu einer Antwort – und stellte das Verfahren ein. Begründung: "Die Äußerung erfolgte infolge einer hitzigen politischen Diskussion und ist daher nicht als ernst gemeinte Aufforderung zur tatsächlichen Verwirklichung eines Tötungsdeliktes anzusehen." Fünf Wochen nach dem Mord an Walter Lübcke dürfen wir uns jedes Wort in diesem deutschen Behördensatz auf der Zunge zergehen lassen.


Ich sage es mal so: Solange deutsche Ermittlungsbehörden mit einem derart tiefen Dornröschenschlaf gesegnet sind, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn unsere Gesellschaft immer weiter verroht. Der Sommer 2019 hat uns gezeigt, wie aus Hass ein politischer Mord werden kann. Im Kanzleramt, im Justizministerium, im Bundestag und in vielen Staatsanwaltschaften (nicht in allen) schaut man trotzdem lieber nicht allzu genau hin.

Wir reden hierzulande ja viel über alle möglichen Gesetze, über Geld für diese soziale Gruppe und Privilegien für jene. Toleranz ist uns wichtig und auch, dass jeder ruck-zuck bekommt, was ihm zusteht. Alles schön und gut. Aber unsere Gesellschaft wird nur dann einigermaßen einträchtig und stabil bleiben, wenn sich hierzulande jeder an die Regeln hält – und wenn die Behörden sich darum kümmern, dass Recht und Gesetz strikt durchgesetzt werden. Flächendeckend, bundesweit, bis in den letzten Winkel, im echten Leben genauso wie im virtuellen. Für jedermann, ohne Ansehen der Person. So wünsche ich mir die Bundesrepublik: als starken Rechtsstaat, der sich allerorten und jederzeit Respekt verschafft. Denn nur auf dieser Basis, meine ich, kann ein tolerantes und friedliches Gemeinwesen gedeihen.

So, und jetzt zähle ich die Minuten, bis die Hasswelle über mich hereinschwappt.


WAS STEHT AN?

In Brüssel treffen sich heute die EU-Finanzminister. Laut Agenda beraten sie über "künftige Finanzierungsmöglichkeiten des EU-Haushalts". Klingt harmlos, ist es aber nicht. De facto bereiten die Herrschaften die Verhandlungen über das EU-Budget der kommenden Jahre vor. Die dürften im kommenden Jahr für politischen Sprengstoff sorgen. Es geht um viele Milliarden Euro. Es geht um Spardisziplin. Und es geht um politische Weichenstellungen. Aus dem Berliner Regierungsviertel ist zu vernehmen, die Bundeskanzlerin könnte möglicherweise Deutschlands Rolle als größter EU-Nettozahler dahingehend interpretieren, das Thema Flucht und Migration noch einmal grundsätzlich zur Debatte zu stellen. So könnte Angela Merkel deutsche Zahlungen an die Bedingung knüpfen, dass alle – wirklich: alle! – EU-Staaten notleidende Flüchtlinge aufnehmen, also auch Ungarn, Polen und die anderen Osteuropäer. Falls es so kommt, wird die neue Kommissionschefin viel diplomatisches Geschick brauchen.

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Der eine gilt als Prahlhans, der andere als Trickser, aber beide repräsentieren dieselbe gesellschaftliche Schicht: Sowohl Boris Johnson als auch Jeremy Hunt entstammen aus vermögenden, konservativen und einflussreichen englischen Familien. Und beide wollen Theresa May beerben – um endlich den Brexit durchzuziehen und um endlich ihre Karrieren zu krönen. In den Umfragen liegt Johnson deutlich vorn, aber Hunt kämpft sich heran. Heute Abend kreuzen sie in einer TV-Debatte rhetorisch die Klingen. Rund 160.000 Tory-Mitglieder stimmen per Briefwahl über den neuen Parteichef ab, der dann auch Premierminister wird. Am 23. Juli kennen wir den Sieger, bis dahin können wir uns noch rasch dieses Hunt-Porträt in der "Süddeutschen Zeitung" und diesen Beitrag über Johnson und seine Anhänger ansehen. Dann verstehen wir besser, wie die beiden ticken.

Und wenn wir dann immer noch rätseln, was die Briten so britisch macht, machen wir einen Ausflug nach Bonn. Im Haus der Geschichte öffnet dort die Ausstellung "Very British" ihre Türen. Sie zeigt, was uns Deutsche seit 70 Jahren an den Insulanern dort oben fasziniert.


Erinnern Sie sich? Vor knapp einem Jahr berichtete ich Ihnen an dieser Stelle vom Projekt Icarus: Verhaltensbiologen statten rund um den Globus Ziegen, Papageien, Bären, Zugvögel und Schildkröten mit Mini-Sendern aus. Die Bewegungen der Tiere werden von einer Antenne auf der "Internationalen Raumstation" (ISS) aufgefangen und an Bodenkontrollzentren geschickt. Eine Software gleicht die Signale ab und schlägt bei auffälligem Verhalten Alarm. So lassen sich möglicherweise Naturkatastrophen wie Tsunamis, Erdbeben und Vulkanausbrüche vorab feststellen und viele Opfer vermeiden. Auch der Artenschutz könnte profitieren. Jetzt ist es so weit: Morgen soll das Projekt beginnen. Faszinierend.


Das Verwaltungsgericht Köln entscheidet heute über die Klagen von Contergan-Opfern. Das Schicksal einer Betroffenen hat mich berührt.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Die meisten Abgeordneten sind faule Säcke! Die arbeiten doch gar nichts! Man sieht sie ja nie im Plenum sitzen! So lautet ein beliebtes Vorurteil, das insbesondere manche AfD-Anhänger immer wieder schüren. Um es als Quatsch zu entlarven, muss man gar nicht erst umständlich den Unterschied zwischen einem Rede- und einem Arbeitsparlament erklären. Man kann auch einfach vier Minuten lang dem FDP-Abgeordneten Konstantin Kuhle zuschauen.


18.000 Stellen will die Deutsche Bank streichen. Bei Siemens sind es 15.000, bei BASF 6.000, bei der Lufthansa 4.000. Auch die Autokonzerne wollen Tausende Mitarbeiter vor die Tür setzen, die Zulieferer dito. Müssen wir uns also um die deutsche Wirtschaft Sorgen machen? Die Antwort ist: ja. Unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld erklärt, warum.


Eine Studie des Wissenschaftsmagazins "Science" kommt zu dem Ergebnis, dass Aufforstung zwei Drittel aller CO2-Emissionen ausgleichen könnte. Eine Lösung für die Klimakrise? So einfach ist es leider nicht, erklärt eine Umweltschützerin im "taz"-Interview.


WAS AMÜSIERT MICH?

Wenn vdL nun EU-Chefin wird, wer wird denn dann Bundeswehr-Boss?

Ich wünsche Ihnen heute bei allem, was Sie tun, ein glückliches Händchen. Bis Freitag schreibe ich noch den Tagesanbruch, ab kommender Woche werden mich dann meine Kollegen in der Sommerpause vertreten.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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